Erdogans Einladung zur doppelten Loyalität

Von Klaus Bölling |
Aufwallende Gefühle oder gar Zornesausbrüche haben wir bislang bei Angela Merkel nicht wahrgenommen. Eine „Kanzlerin des Ungefähren“ ist sie verschiedentlich und wenig liebenswürdig genannt worden. Sie kann auch anders. Sie kann Klartext reden. Merkels an die türkisch-stämmigen Frauen und Männer in unserem Land adressierter Satz „Ich bin auch Ihre Bundeskanzlerin“ wird noch oft zitiert werden. Das ist ein Paukenschlag.
Von den Angesprochenen sollte er nicht überhört werden. Sie sollten sich nicht die Ohren verstopfen, was, so steht zu fürchten, einige wohl tun werden. Das wäre traurig, traurig für die muslimische Minderheit, traurig für uns, die Mehrheitsgesellschaft. Die Kanzlerin hat deutlich, aber nicht markig geredet. Sie sagt etwas Selbstverständliches. Warum sagt sie es dann? Deshalb, weil der gleich nach dem schrecklichen Geschehen in Ludwigshafen um Versöhnung zwischen Einwanderern und Einheimischen bemühte Ministerpräsident Erdogan kurz darauf vor seinem Parlament einen Satz wiederholt hat, der weit mehr ist als ein kurzer Paukenschlag. Assimilierung sei ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Das ist ein Peitschenhieb und augenscheinlich von Erdogan auch als solcher gedacht. Wo und wann haben wir die Minderheit gedrängt, unser Wohlwollen dadurch zu gewinnen, dass sie sich nach unseren Wünschen anpasst und ihre kulturelle Identität aufgibt? Nonsens und hoch gefährlich. Vor recht langer Zeit hat ein deutscher Politiker das Wort Assimilation gebraucht. Sogleich ging ein Sturm der Entrüstung durch die Republik. Otto Schily, der Rassist. Welch ein Unsinn. Die Mehrheitsgesellschaft hat ziemlich spät, aber nicht ZU spät, manchmal, das stimmt, etwas unwillig akzeptiert, dass die gläubigen Muslime nicht länger in düsteren Hinterhöfen zu Allah beten wollen, sondern, wie in ihrer früheren Heimat, in den von ihnen selber gestalteten Moscheen. „Frühere Heimat“, das ist natürlich ungenau, weil es inzwischen eine zweite und eine dritte und bald schon eine vierte Generation von türkisch-stämmigen Bürgern gibt. Deren Bindung an die Heimat der Eltern und Großeltern hat sich gelockert, nur hat sich die Bindung an unsere Gesellschaft leider nicht im gleichen Maße gefestigt. Auszunehmen einmal solche Einwanderer, ob religiös oder glaubensfremd, die niemals in Gettos leben wollten. Sie haben die ihnen gebotenen Chancen zum beruflichen Aufstieg erfolgreich genutzt. Der war für manche bestimmt schwieriger als für die Deutschen.

Diese Migranten haben es geschafft, sie verdienen Respekt. Sie haben, gar nicht so selten, deutsche Freunde. Dass Erdogan die Türken in Deutschland gebeten hat, unsere gewiss nicht leichte Sprache zu lernen, das war gut. Jetzt weckt er den Verdacht, dass er die Deutsch-Türken als immer treue Gefolgschaft vereinnahmen will. Das ist die Einladung zu einer doppelten Loyalität. Und die darf es nicht geben. Dann fehlt nicht viel und wir vernehmen von dem einen oder dem anderen Imam, wir möchten doch bitte jenem anglikanischen Bischof nacheifern, der die englische Mehrheitsgesellschaft gerade aufgefordert hat, bestimmte Elemente der islamischen Rechtsprechung Scharia zu übernehmen, weil das die Integration fördere – eine Idee aus dem Narrenhaus.

Seit dem Tag, an dem der angeblich erste sogenannte Gastarbeiter ein Moped geschenkt bekam, ist von allen Bundsregierungen manches versäumt worden. Wir haben gelernt. Wir haben gewiss nicht die Vorstellung, dass die türkisch-stämmigen Bürger in der deutschen Gesellschaft aufgehen wie die meisten Migranten anderer Nationalitäten und anderer Religionen. Assimilation ist übrigens kein Schreckenswort, aber nicht unsere Erwartung. Die Deutschen sind es nur leid, dass ihnen von türkischen Verbandsfunktionären ständig vorgehalten wird, wir wollten die Minderheit ausgrenzen. Wie sollen wir einander näherkommen, wenn wir uns nicht zulänglich in unserer Sprache verständigen können?

Mehr als zwei Millionen türkischer Ein- oder Zuwanderer als eine von Ankara gesteuerte Wählertruppe für die Erdogan-Partei, das ist nun eine höchst ungute Vorstellung. Das führt die Integration in eine ernste Krise. Erdogan wird sich nicht wundern dürfen, wenn die Mehrheitsgesellschaft Wolfgang Schäuble zustimmt, dass auf der anderen Seite des Bosporus auch eine andere Welt beginnt, und dass die Deutschen nicht darauf brennen, die Türkei irgendwann als Vollmitglied in der Europäischen Union zu umarmen.


Klaus Bölling, geboren 1928 in Potsdam, arbeitete für Presse und Fernsehen, war unter anderem NDR-Chefredakteur, Moderator des „Weltspiegel“, USA-Korrespondent und Intendant von Radio Bremen. 1974 wurde er unter Helmut Schmidt zum Chef des Bundespresseamts berufen, 1981 übernahm er die Leitung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen „Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt“, „Die fernen Nachbarn – Erfahrungen in der DDR“ und „Bonn von außen betrachtet“.
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