Erdogan: Wasser oder Eis?

Von Rolf Hosfeld |
Der türkische Ministerpräsident Erdogan misst mit zweierlei Maß. Er beschwert sich über das neue französische Völkermord-Gesetz und wirft anderen Staaten vor, ethnische Minderheiten zu unterdrücken. Dabei hätte er im eigenen Land genug zu tun, zum Beispiel in der Kurdenfrage, meint Ralf Hosfeld.
Schwedische Parlamentarier, las man dieser Tage in der liberalen Istanbuler Tageszeitung "Radikal", haben den in Edirne inhaftierten Ragip Zarakolu für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Andere türkische Zeitungen übernahmen die Nachricht sofort.

In der Türkei gibt es eine verhältnismäßig freie Presse, und der Kandidat ist eine der mutigsten Verlegerpersönlichkeiten des Landes, der vor allem durch kritische Publikationen über den Völkermord an den Armeniern und die ungelöste Kurdenfrage von sich reden machte.

Zarakolu wurde Anfang November 2011 unter fadenscheinigen Begründungen zusammen mit 48 anderen kritischen Intellektuellen und Politikern verhaftet. Angeblich soll er Mitglied einer verbotenen kurdischen Organisation sein. Die Polizei beschlagnahmte bei der Durchsuchung seines Hauses ausschließlich einige Bücher und Manuskripte und fand ansonsten nicht den geringsten verdächtigen Hinweis.

Der wahre Grund für die Verhaftung Zarakolus, muss man vermuten, war ein anderer. Er verkörpert nämlich eine unüberhörbare Stimme gegen die seit Jahrzehnten in der Türkei notorisch betriebene Politik der gewaltsamen Zwangsassimilation von ethnischen und religiösen Minderheiten. Assimilation, man erinnert sich, rief der türkische Ministerpräsident Erdogan 2008 beifallsheischend vor tausenden von Landsleuten in der Köln-Arena aus, sei "ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Er wiederholte das mit deutlichen Worten wieder letzten Februar in Düsseldorf.

Lassen wir die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser gegen die deutsche Politik gerichteten Anschuldigung dahingestellt sein. Wieso aber, fragt man sich, sitzt Ragip Zarakolu eigentlich noch immer im Gefängnis, wenn er in seinem eigenen Land nichts anderes gemacht hat, als eben dagegen zu kämpfen? Oder wird da mit zweierlei Maß gemessen? "Wir befinden uns in einer Transformationsphase", meinte vor Tagen der Liberale Can Paker, Leiter des führenden türkischen Braintrusts für wirtschaftliche und soziale Fragen in einem Interview: "Und wenn die Wassertemperatur um Null Grad schwankt, hat man eben sowohl Wasser als auch Eis, und beides folgt dem gleichen chemischen Gesetz". Es ist ein problematischer Aggregatzustand. Das betrifft auch die Person Erdogan selbst. Er ist Wasser, die anderen sind Eis.

Paris bekam erst letztlich seine Schelte ab, als dort die Leugnung von Völkermord unter Strafe gestellt werden sollte. Erdogan wird nicht müde, zu wiederholen, Politiker dürften nicht über den Tatbestand eines Völkermords entscheiden. Dies sei die Aufgabe von Historikern. Den Ministerpräsidenten selbst hielt das aber nicht davon ab, letztes Jahr beispielsweise die Tötung von hundert Uiguren durch die chinesische Polizei - in seinen Worten: "ohne Zweifel" - als Völkermord zu bewerten.

Parlamente im Westen dürfen nicht. Erdogan aber darf. Er ist eben Wasser, und die anderen sind Eis. Auch das ist - gesamteuropäisch gesehen - ein ausgesprochen problematischer Aggregatzustand. Auf lange Sicht, meint Paker, kann Erdogans AKP jedoch nur überleben, wenn sie sich weiter demokratisiert und öffnet. Andernfalls werde sie früher oder später von einem immer selbstbewussteren Mittelstand, der zunehmend Werte wie Freiheit und Individualismus verinnerlicht hat, schlicht abgewählt.

Ein geprüftes Verhältnis zur eigenen Geschichte ist aber eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass dieser Prozess der Demokratisierung keine dauerhaften Rückschläge erleidet. Im Grunde muss die Türkei sich neu erfinden. Sie war und bleibt ein multiethnisches und multikulturelles Gebilde, in dem es nicht nur Türken und Sunniten gibt, sondern auch Kurden, muslimische Aleviten und einige Christen. Der kemalistische Nationalismus und sein Kult des homogenen Türkentums war nichts als eine böse Fiktion, und die gewaltsame Assimilationspolitik seine unausweichliche Folge. Gelingt es, diese Nabelschnur abzutrennen? Das ist die entscheidende Frage, auch in Bezug auf die angestrebte europäische Zukunft der Türkei.

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Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher, geboren 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam. Jüngste Buchveröffentlichungen: "Was war die DDR? Geschichte eines anderen Deutschlands" und "Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie".
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