Erdbeerpflücken in Spanien

"Eine moderne Art der Sklaverei"

23:08 Minuten
In einem riesigen Gewächshaus bücken sich mehrere marokkanische Arbeiter:innen zu den in mehreren langen Reihen angepflanzten grünen Erdbeerpflanzen und ernten die Früchte.
Die Provinz Huelva ist der größte Produzent für spanische Erdbeeren. Ein großer Teil davon landet in deutschen Lebensmittelketten und Discountern. © Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Von Dunja Sadaqi und Reinhard Spiegelhauer · 21.06.2021
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Aus der südspanischen Provinz Huelva werden pro Jahr rund 300.000 Tonnen Erdbeeren exportiert, ein großer Teil davon nach Deutschland. Die Ernte wäre nicht machbar ohne die Saisonkräfte aus Marokko. Doch die werden nicht immer gut behandelt.
Wenn Autos die enge, roterdige Piste zu Sghir Chriets Feldern entlang fahren, wirbelt ordentlich Staub auf.
Hier im Ort Oulad Aguil, gut zwei Stunden von Marokkos Hauptstadt Rabat entfernt, erntet der Landwirt auf einem Hektar Zwiebeln, Kartoffeln, Auberginen, Avocados und – wer das Autofenster runterkurbelt, kann sie riechen – Erdbeeren.
Ein Mann in blauer Sportjacke steht auf einem großen Erdbeerfeld und hält drei Erdbeeren in der rechten Hand.
Kann mit den Löhnen in Südspanien nicht konkurrieren - Der marokkanische Erdbeerbauer Sghir Chriet.© Dunja Sadaqi, ARD-Studio Rabat
Sghir Chriet geht über sein Feld, streicht die Stängel und Blätter einer Erdbeerpflanze beiseite und präsentiert die letzten Früchte der Saison.

Tausende Marokkanerinnen reisen nach Europa

Es war kein einfaches Jahr, Corona habe die Kaufkraft der Kunden und damit auch die Preise sinken lassen. Auch bei der Ernte hatte der Kleinbauer wieder Probleme.
"Wir haben manchmal Schwierigkeiten: Wir finden keine Frauen, die hier pflücken wollen. Es gibt auch manche, die kommen am nächsten Tag einfach nicht mehr, weil sie woanders arbeiten gehen."
Woanders - das ist häufig nur etwa 500 Kilometer weit entfernt - in Südspanien. Dank eines Abkommens zwischen dem nordafrikanischen Königreich und Spanien reisen seit Anfang der 2000er tausende Frauen jährlich nach Europa - für mehrere Monate.
Weiße Planen über riesigen Erdbeerfeldern bis zum Horizont.
Miese Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und sexuelle Gewalt - auch dafür stehen die Erdbeerfelder von Huelva in Andalusien.© Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Erdbeeren, so weit das Auge reicht, und ein intensiver Duft, der so kräftig ist, dass er schon fast unangenehm wird. Spontane Assoziation: süßlicher Verwesungsgeruch. Und tatsächlich geht die Erntezeit jetzt, im Juni, dem Ende entgegen.
Rechts und links reiht sich ein Plastikplanen-Halbtunnel an den anderen. Auf dem Weg steht ein kleiner Kühl-LKW. Zwischen den Beeten: zwei Dutzend von gut 100.000 Erntehelfern, die zwischen dem Nationalpark Coto Donana im Osten und der Grenze zu Portugal im Westen bei der Erdbeerernte helfen.

Es gibt nicht genug einheimische Erntehelfer

Frisch müssen die Erdbeeren sein, und das ist ohne viele helfende Hände nicht zu machen, sagt Manuel Reina vom Verband der kleinen und mittelgroßen Landwirte. Von Montag bis Sonntag wird geerntet, ab dem ersten Januar bis zum 30. Juni.
Knapp 43 Euro pro Tag haben die Gewerkschaften ausgehandelt, aber obwohl die Arbeitslosenquote über 20 Prozent liegt, finden sich nicht genügend einheimische Erntehelfer. Um die 25.000 kommen deswegen aus Osteuropa, 16.000 aus Ländern südlich der Sahara und 12.000 aus dem afrikanischen Nachbarland Marokko, so wie Fatima. In Marokko ist es schwierig, sagt die Alleinerziehende - als Erntehelferin bekommt sie da umgerechnet nur sieben Euro pro Tag. Deswegen ist es für sie finanziell extrem attraktiv, in Spanien zu arbeiten. Und für Fatima steht es auch für Selbstbestimmung.
Eine Hand hält eine Erdbeere, die in einer langen Erdbeerpflanzenreihe auf dem Feld wächst.
Der kleine Unterschied - das Pflücken marokkanischer Erdbeeren bringt weniger Geld als derselbe Job in Spanien.© Dunja Sadaqi, ARD-Studio Rabat
Selbstbestimmung - das sei für viele marokkanische Erntehelferinnen ein wichtiger Aspekt, sagt auch der marokkanische Soziologe Mustapha Azaitraoui.
"Die Frauen, können sich durch das Leben in Spanien weiterentwickeln. Sie übernehmen Verantwortung für sich selbst, für die Familie. Damit tragen sie zur Entwicklung bei - ihrer selbst und ihrer Familien im Heimatland. Das ist ein wichtiger wirtschaftlicher, aber auch sozialer Aspekt."
Viele marokkanische Erntehelferinnen können sich durch die Reise nach Spanien finanziell emanzipieren. Auf ihnen lastet großer wirtschaftlicher Druck: Mit dem Geld ernähren sie mehrköpfige Familien zuhause, schicken Kinder zur Schule, helfen über finanzielle Krisen wie die Pandemie hinweg.

"Es gibt Frauen, die Übergriffe erlitten haben"

Mit den spanischen Löhnen kann Erdbeerbauer Sghir Chriet aber nicht mithalten. Sieben bis acht Euro könne er den Pflückerinnen pro Tag zahlen, erzählt er. In Spanien können sie ein Vielfaches verdienen. Dass seine eigene Frau oder gar seine Tochter spanische Erdbeeren pflücken geht, will er aber auf keinen Fall. Er kenne zu viele schlimme Geschichten.
"Es gibt einige Frauen, die Übergriffe erlitten haben, weshalb die meisten jetzt Angst haben. Sie sagen dir: 'Dort sind wir Ausländer und haben nichts.' Die meisten Leute sagen: 'Es ist besser, hier zu bleiben als dorthin zu gehen.' Nur eine kleine Minderheit sagt: 'Besser, ich gehe, als hier zu bleiben."
Ein riesieges grünes Feld mit Erdbeerpflanzen in langen nebeinanderliegenden Reihen. Darüber gewölbte Stahlkonstruktionen.
Die spanischen Landwirte klagen: deutsche Lebensmittelketten setzten Preise durch, zu denen sie die Erdbeeren eigentlich gar nicht produzieren könnten. © Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Diese Erzählungen kann auch der Soziologe Mustapha Azaitraoui bestätigen. Zusammen mit einer Kollegin hat er 2018 die marokkanischen Erntehelferinnen im spanischen Huelva besucht.
"Sie sind unsichtbare Frauen. Frauen, die im Schatten leben."

"Frauen in unmenschlichen Verhältnissen"

Die Eindrücke vor Ort seien erschreckend gewesen, erzählt er: "Es ist eine moderne Art der Sklaverei in einem spanischen Land, ohne Respekt vor den Rechten der Frauen. In einigen Kooperativen vor Ort leben die Frauen in unmenschlichen Verhältnissen. Ich selbst habe Frauen gesehen - stellen Sie sich vor: Vier Frauen in einem kleinen Stahlcontainer mit der Hitze von 43 Grad im spanischen Sommer. Wir haben Frauen begleitet, die über sexuelle Gewalt auf den spanischen Farmen von Huelva geklagt haben."
Die spanischen Provinzen Huelva, Sevilla und Cadiz waren im 16. Jahrhundert tatsächlich Zentren der Sklaverei. Auf manchen Feldern schufteten noch im 18. Jahrhundert Sklaven.
Auf einer Wäscheleine vor einem flachen weißen Haus hängen verschiedene Kleidungsstücke.
Auslandseinsatz in Huelva - 25.000 Saisonkräfte kommen aus Osteuropa, 16.000 aus Ländern südlich der Sahara und 12.000 aus Marokko.© Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Und wirklich frei kann sich auch Fatima nicht fühlen, heute, in Spanien. Sie hat unser verabredetes Interview am Morgen abgesagt.

Wer eine schlechte Erdbeere einsammelt, wird bestraft

Die Fragen beantwortet sie per Voicemail, denn ihr Chef hat ihr gesagt, sie dürfe nicht einfach mit Journalisten sprechen. - Gibt es denn auch sonst Druck:
"Ja, wer zum Beispiel eine angegammelte Erdbeere mit einsammelt, der wird nach Hause geschickt, oder darf sogar einen ganzen Tag nicht arbeiten. Und verdient dann kein Geld. Wir wissen noch nicht mal, wie hoch der Lohn ist. Die einen sagen 42, die anderen sagen 40 Euro."
Nein, nein, sagt Manuel Reina vom Bauernverband. Wir stellen ja sogar kostenlose Wohnungen: "Wenn sich Einzelne nicht an die Vorgaben halten, dann ist das wie in der Politik, oder bei der Polizei, oder in der Verwaltung. Von ein paar wenigen schwarzen Schafen kann man doch nicht auf die ganze Provinz Huelva schließen."
In der kennt sich auch Gewerkschafter José Antonio Brazo von der Andalusischen Arbeitergewerkschaft aus. Er ist viel unterwegs. Und er sagt: Die Arbeitsbedingungen sind mies, und zwar systematisch.
Ein älterer und ein jüngerer Mann stehen nebeinander auf einem Hf.
"Die Arbeitsbedingungen sind mies" - Gewerkschafter José Antonio Brazo von der Andalusischen Arbeitergewerkschaft mit einem jungen Mann aus Mali.© Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Von einem Bahndamm ein paar Kilometer weiter hat man einen guten Rundumblick: Plastik-Gewächshäuser, so weit das Auge reicht.

"Wir reden hier über Ausbeutung"

Und an dieser Stelle im Hintergrund riesige Öltanks und eine Raffinerie. Die zweite große Einnahmequelle in der Provinz. Der süßliche Verwesungsgeruch vermischt sich hier mit säuerlichen Erdöl-Ausdünstungen. Das kann nicht gesund sein, weder für die Erntehelfer, noch für die Früchte, meint Brazo.
Und:"Der Tariflohn wird systematisch nicht gezahlt. Wir reden hier über Ausbeutung. In jedem Dorf hier gibt es eine Marienfigur, die verehrt wird, aber in Wirklichkeit beten sie den Mammon an."
Eine Holzkiste mit jeder Menge großer knallroter Erdbeeren.
Made in Huelva - Arbeiter:innen zahlen einen bittere Preis für die süßen Früchte.© Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Auch eine Studie der Löning-Nachhaltigkeitsberatung in Berlin hat ergeben, dass Erntehelfer oft schlecht bezahlt werden. Dabei ist die Stimmung in der Kolonne von Manuel Reina zumindest oberflächlich gut. Fröhliches Schnattern, kein Befehlston - zumindest unter den spanischen Helfern. Die Afrikaner, die zwischen den Beeten stehen, schauen eher etwas misstrauisch.

Sexuelle Übergriffe auf marokkanische Frauen

Klar, sagt Gewerkschafter José Antonio Brazo von der Andalusischen Arbeitergewerkschaft. Es gibt eine Art Hackordnung: Erntehelferinnen und - Helfer aus der EU hätten unter bestimmten Bedingungen sogar Recht auf Arbeitslosenhilfe. Aus Staaten südlich der Sahara seien vor allem jüngere Männer auf den Feldern, die sich nicht alles gefallen ließen.
Ganz unten stünden marokkanische Frauen. Immer wieder komme es auch zu sexuellen Übergriffen durch Vorarbeiter, sagt der Gewerkschafter:
"Erst versuchen sie, sich einzuschmeicheln, aber wenn die Frauen auf ihre Avancen nicht wie gewünscht reagieren, drohen sie, die Frauen rauszuwerfen und dass sie im nächsten Jahr keinen Vertrag mehr bekommen."
Die Frauen sprechen nicht darüber, weil sie aus Marokko gewohnt sind zu schweigen, sagt Brazo. Nur bei den Jüngeren sei das anders, die würden, wie überall in der Welt, gegen das Althergebrachte rebellieren.

Wer redet, soll zurück nach Marokko

Der Gewerkschafter hat selbst zwei Prozesse miterlebt, nachdem Frauen ihr Schweigen gebrochen, und Anzeige erstattet hatten: "Man wollte sie direkt nach Marokko zurückschicken, damit alles im Sande verläuft."
Das ist zwar nicht passiert, aber beweisen konnten die Frauen die Übergriffe letzten Endes nicht. Fatima sagt, in ihrem Betrieb gebe es so etwas nicht: "Wir Frauen sind immer zusammen mit dem Bus unterwegs, der uns auf die Plantage oder zum Einkaufen bringt. Ich habe von solchen Dingen gehört, aber nie tatsächlich etwas mitbekommen."
Große Plastikplanen in Weiß bedecken die Felder, so dass man nichts Grünes darunter sieht.
Wenn Frauen ihr Schweigen über sexuelle Übergriffe brechen - versucht man sie nach Marokko zurückzuschicken.© Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Die Auswahl der Erntehelferinnen - allein das sei schon ein Problem, sagt Soziologe Azaitraoui.

Viele Frauen wissen nicht, was ihnen zusteht

Die ausschließlich marokkanischen Frauen stammten aus armen Regionen. Viele könnten nicht lesen und schreiben und wüssten nicht, was ihnen zusteht.
"Damit die Frauen auch tatsächlich nach Marokko zurückkehren, wurde eine spezielle Auswahl getroffen. Ein Alter zwischen 25 und 45 Jahren, verheiratet mit mindestens einem Kind, das jünger als 18 ist. So hat die Frau immer eine Verbindung mit der Familie und dem Land und wird nach ihrer Arbeit nicht in Spanien bleiben wollen."
Im Vordergrund große mit weißen Planen bedeckte Erdbeerfelder, im Hintergrund große Industrieanlagen und Raffinerien.
"Das kann nicht gesund sein" - Erdbeerfelder in Huelva umgeben von riesigen Öltanks und einer Raffinerie.© Reinhard Spiegelhauer, ARD-Studio Madrid
Auch die 15-jährige Tochter von Erdbeerbauer Sghir Chriete will nach Spanien. Safaa hilft morgens ihrem Vater auf dem Feld, danach geht sie in die Schule. Bald macht sie ihren Abschluss. Die Negativschlagzeilen von den spanischen Feldern in Huelva schrecken sie nicht ab.
"Ich kenne Frauen aus meiner Familie, die nach Spanien gegangen sind, und als sie zurückgekommen sind, haben sie gesagt, dass die Arbeit dort besser ist und dass sie gut bezahlt werden. Ich höre, wie sie über die großen Farmen sprechen. Ich wäre auch gerne mitgegangen. Dort hast du deine Rechte und alles, es ist nicht wie hier."

"Unsere Pflückerinnen sind unsere Familie"

Tatsächlich sagt Manuel Reina vom Bauernverband in Andalusien: die marokkanischen Frauen gehören doch fast zur Familie. Wir brauchen sie, wir kümmern uns. Und dass Marokko ihnen nicht erlaubt hatte, nach der Ernte aus Spanien in die Heimat zurückzufahren, weil es eine diplomatische Krise zwischen den beiden Ländern gibt, darüber müsse man dringend reden:
"Wenn Marokko sie mit ihrem verdienten Geld nicht zurück zur Familie lässt, werden wir ihnen weiter eine Wohnung stellen, Strom und Wasser. Sie zum Arzt bringen und mit den Kleinbussen zum Einkaufen. Unsere Pflückerinnen sind unsere Familie."

Für die Landwirte ein Euro, für den Supermarkt sechs

Was er zwischen den Zeilen sagt: eine ganz schön teure Familie. Denn auch wenn der vereinbarte Tageslohn niedrig ist, und wenn oft sogar noch weniger gezahlt wird, schon gar keine Zuschläge für Überstunden oder Wochenendarbeit - eigentlich seien die Landwirte die Gekniffenen:
"Wir tragen das ganze Risiko. Wir müssen alles vorstrecken, und bekommen keinen angemessenen Preis für unser Produkt. Von dem, was die Konsumenten bezahlen, sehen wir nicht viel. Einen bis eineinhalb Euro pro Kilo Erdbeeren, die im Supermarkt für sechs Euro verkauft werden."
Das Preisdiktat durch die Abnehmer, auch in Deutschland ist tatsächlich auch ein Thema in der Studie der Berliner Nachhaltigkeitsberatung. Gewerkschafter José Antonio Brazo steht noch immer auf dem Bahndamm, schaut in Richtung Raffinerie. Er hat seine Schlüsse gezogen:
"Es muss endlich Schluss sein, mit dem Missbrauch, der Ausbeutung, die die Menschen krank macht. Die roten Früchte, die Erdbeeren, sie sind nicht mehr süß, sondern bitter."
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