Erbarmungslose Kämpfe unter Kindern

06.09.2011
Schläge, Erpressung, soziale Konflikte: Aus der Perspektive eines elfjährigen Ich-Erzählers schildert Morten Ramsland die brutale Welt Heranwachsender in einer dänischen Reihenhaussiedlung. Der Autor verzichtet dabei auf Melancholie - und gerät nie in den Sog moralisierender Rhetorik.
Odense ist nicht nur die drittgrößte Stadt Dänemarks, sondern auch der Geburtsort des großen Schriftstellers Hans Christian Andersens (1805-1875), der neben Märchen, Novellen und Erzählungen auch Reiseberichte und Theaterstücke verfasste. 27-jährig, da lebte er bereits in Kopenhagen, wünschte er sich, einmal eine Berühmtheit dieser "edlen Stadt" zu werden.

Nun hat der Däne Morten Ramsland (geboren 1971) als Kulisse für seinen Roman diesen Ort auf der Insel Fünen gewählt. Genauer gesagt, eine Reihenhaussiedlung mit dem verführerischen Namen "Paradiesgarten". Allerdings ist weder von der edlen Stadt noch vom Paradies etwas darin zu entdecken. Aus der Perspektive des elfjährigen Ich-Erzählers Lars wird eine äußerst brutale Welt von Heranwachsenden geschildert. Wer selbst nicht austeilen kann oder will, wird erpresst und drangsaliert, bis er nicht mehr aufstehen kann oder auch zum Schläger wird. Für Lars ist dieser Punkt erreicht, als sein kleiner Bruder Mikael durch einen Steinwurf fast zu Tode kommt.

Dabei wird nicht einmal angedeutet, warum ein gewöhnlicher Gang durch "Paradiesgarten" plötzlich derart eskalieren kann. Von den Erwachsenen ist kein Beistand zu erwarten, da sie mit den eigenen Problemen beschäftigt sind: Arbeitslosigkeit, Alkohol, Krankheit, Einsamkeit. Doch ihre Ignoranz führt zu einer fatalen Tabuisierung der sozialen Konflikte, die in den erbarmungslosen Kämpfen der Kinder eruptiv hervorbrechen.

Ramsland schafft mit seinem Erzähler ein begrenztes Sprach- und Erkenntnisfeld. Das Geschehene bleibt unkommentiert und ohne Wertung. Biologisch befindet sich Lars in einer Schwellensituation. Während er mit einem Bein noch in der Kindheit steht, betritt er mit dem anderen bereits das Land der Erwachsenen. Doch die Welten scheinen nicht kompatibel zu sein. Zum Glück führt ihn seine Fantasie immer wieder in Gegenden, die denen Hans Christian Andersens ähneln. Der Stubenhocker Andersen hatte ebenfalls im Alter von elf Jahren, als er in die Arbeitswelt des frühen 19. Jahrhunderts geschickt wurde, menschliche Grausamkeit erfahren. Vielleicht singen deshalb in seinem Märchen "Der Paradiesgarten" Blumen und Bäume und nicht menschliche Stimmen die Lieder der Kindheit. Auch wenn sein Name im Roman nicht genannt wird, Andersen erscheint wie eine Referenzfigur, sein Märchen als Referenzraum, der dem Erzähler Rettung verspricht. So verweigert sich Lars dem Ordnungssystem der Sprache mit Wortkombinationen wie "duf gerd dif tuf" oder "dä dit dovt". Seltsam frühreif konstatiert er schließlich: "In meinem Inneren schien irgendetwas nicht in Ordnung zu sein – etwas, das schon immer verkehrt gewesen war".

Morten Ramsland verzichtet auf Melancholie und gerät niemals in den verführerischen Sog moralisierender Rhetorik. Sein "Paradiesgarten" ist ein Ort permanenten Sündenfalls – wer dort wohnt, ahnt, dass er bald schon daraus vertrieben werden wird.

Besprochen von Carola Wiemers

Morten Ramsland: Sumobrüder
Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 2011
318 Seiten, 19,95 Euro