"Er war sicher einmal ein Revolutionsführer"

Jean Ziegler im Gespräch mit Ulrike Timm · 23.02.2011
Nach Einschätzung des Soziologen Jean Ziegler befindet sich der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi in einer schwierigen Situation. Was jetzt passiere, sei eine "grauenhafte, fürchterliche Repression gegen das eigene Volk", sagt Ziegler.
Ulrike Timm: Notfalls will Libyens Staatschef Gaddafi als Märtyrer sterben - aber für welche Mission? Nirgendwo im arabischen Raum sind die Unruhen so blutig wie in Libyen, weil der Staatschef auf sein Volk schießen lässt. Gestern Abend wandte sich Gaddafi im libyschen Fernsehen an seine Landsleute, deren Liebe er sich noch immer sicher glaubt, die er anschrie und als Ratten beschimpfte.

Der gesamte arabische Raum verändert sich, und Gaddafi war dort immer eine ganz besondere und in vielerlei Hinsicht besonders eindrückliche Figur. Wir wollen darüber sprechen mit Jean Ziegler, dem Soziologen, Schriftsteller, beratendem Mitglied im UN-Menschenrechtsausschuss und wahrscheinlich dem beliebtesten Schweizer in der Dritten Welt. Jean Ziegler, ich grüße Sie!

Jean Ziegler: Guten Tag!

Timm: Herr Ziegler, wenn man so will: In Libyen wenden sich die Revolutionäre gegen den Revolutionsführer. Wie schätzen Sie Gaddafis Stellung im Land ein nach seiner Rede gestern Abend?

Ziegler: Er war sicher einmal ein Revolutionsführer, nämlich am 1. September 1969, als er die Freien Offiziere angeführt hat, aber damals war er 28 Jahre alt, den König Idris gestürzt hat und dann gleich das Erdöl, die riesigen Erdölvorkommen, die größten übrigens in Afrika, nationalisiert hat. Da war er ein Revolutionär und wurde als solcher auch von seinem Volk begrüßt, gefeiert.

Gestern habe ich ihn am Fernsehen reden hören, gesehen, ich habe ihn auch verschiedene Male auf dem Grünen Platz in Tripoli gesehen, auch in Bengasi gehört, er ist ein ganz großer Redner. Gestern war er pathologisch, gestern war ein Verrücktes vor dem Mikrofon, und ich glaube, was jetzt passiert, diese grauenhafte, fürchterliche Repression gegen das eigenen Volk mithilfe afrikanischer Söldner und Milizen aus dem (…) – das ist das Werk eines Verrückten.

Timm: Herr Ziegler, die Tageszeitung "taz" vergleicht Gaddafi heute mit Ceausescu also mit dem rumänischen Staatschef, der vor 20 Jahren nicht verstehen wollte, dass um ihn herum die vertraute Welt längst zusammengebrochen war und den sein Volk dann hingerichtet hat. Ein zutreffender Vergleich?

Ziegler: Nein, Ceausescu war sicher ein kommunistischer Bürokrat, ein Bürokrat, der durch den Parteiapparat aufgestiegen ist, der keine besonderen Leistungen erbracht hat, und er wurde dann hingerichtet von seinem Volk. Vergleichen könnte man eigentlich Gaddafi mit Robert Mugabe, der den Befreiungskampf gegen die weiße Siedlerregierung von Ian Smith in den 70er-Jahren in Simbabwe angeführt hat, und wurde dann später, in einem späten Stadium seines Lebens, zum perversen – er lebt ja noch und ist immer noch an der Macht leider –, zum perversen korrupten Diktator.

Timm: Gestern war Gaddafi eine Parodie seiner selbst. Sie sind ihm öfter begegnet, Herr Ziegler, zuletzt vor drei Jahren. Wie haben Sie ihn erlebt?

Ziegler: Ich möchte ganz genau sagen, wie ich ihm begegnet hin und wieder, meine Bücher erscheinen auf Arabisch, Muammar al-Gaddafi, der Präsident des Revolutionsrates, ist ein Autodidakt, obschon er teilweise in Sandhurst, in der britischen Militärakademie ausgebildet worden ist und ein perfektes Englisch redet. Er hat theoretische Ambitionen, hat ein Grünes Buch über die dritte Theorie geschrieben und so weiter und so weiter, und lädt Intellektuelle ein, um zu diskutieren. Ich bin also nicht der Einzige.

Man ist immer der Einzige in der (…) Sackgasse in seinem kleinen Büro da im östlichen Vorstadt von Tripolis unter dem Zelt (…), aber er lädt reihenweise Intellektuelle ein. Ich habe mich nie in irgendeiner Form mit irgendeiner politischen Aktion Gaddafis solidarisiert, diesen impliziten Vertrag hat er immer respektiert.

Aber ich muss sagen, für einen Soziologen ist das Zusammenkommen mit Gaddafi, der ein unglaublich temperamentvoller und informierter Mensch ist als Staatschef und mit seinen ganzen Geheimdienstapparaten und so weiter, und dem zuzuhören – es geht ja (…) nicht um Diskussion, ist wie bei Fidel Castro, man stellt eine Frage und dann redet der andere eine halbe Stunde lang –, für mich war das unglaublich interessant, informativ, und Soziologen sind ja eigentlich dazu da, um die Welt verstehen zu helfen.

Timm: Nun hat der UN-Sicherheitsrat das Vorgehen in Libyen verurteilt heute Nacht. Sie sind als Soziologe auch UN-Menschenrechtsbeauftragter und jemand, der ihn kennt. Ist es sehr vermessen, wenn ich frage, ob sie in irgendeiner Weise Einfluss nehmen können?

Ziegler: Nein, also jetzt ... Ich habe ihn in frühesten Zeiten, besonders als die zwei Schweizer Geiseln festgehalten wurden, die letzten anderthalb Jahre, habe ich versucht, ihm Botschaften für die Befreiung für politische Gefangene überbringen zu lassen durch Diplomaten oder andere Leute, die ihm sehr, sehr nahestehen, die ihn jeden Tag sehen und zu denen ich Zugang habe. Aber ich kann nicht das Telefon nehmen und Tripolis anrufen und sagen, jetzt möchte ich mit dem Bruder Muammar reden. Das geht nicht. Aber es gibt Wege, wie man zu ihm gelangen kann, und das habe ich versucht.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Jean Ziegler über Libyens Staatschef Oberst Gaddafi. Herr Ziegler, Gaddafi ist ja nicht nur eine bizarre Figur, er war für viele sehr lange auch eine Pittoreske. Wenn er in der Vergangenheit bei Auslandsbesuchen zum Beispiel mit seinem Beduinenzelt anrückte; Berlusconi hat 2008 einen großen Empfang für ihn bereitet inklusive eines Aufgebots hübscher Mädchen, denen Gaddafi dann die Vorzüge der Keuschheit predigte – diese Auftritte haben sein Bild geprägt. Haben sie sein Bild auch vernebelt?

Ziegler: Man muss aufpassen, wenn es um Beduinen geht, also so große intuitive kluge wie Gaddafi, ein fürchterlicher Diktatur heute, blutrünstig, muss bekämpft werden, es sollte jetzt endlich das europäische Embargo geben. Gegen Saddam Hussein hat der Sicherheitsrat, weil sie das abgesprochen haben, 1992 die Resolution 2442 verhängt, also als Saddam Hussein die Kurden massakriert hat jenseits des 36. Breitengrades, hat die UNO ein Flugverbot für irakische Flugzeuge durchgesetzt, hat einen Freiraum geschaffen für die aufständischen Kurden, und zwar mit Waffengewalt.

Und das sollte jetzt auch geschehen, also der Sicherheitsrat müsste jetzt einmal das Kapitel sieben, die Universalisierung der Menschenrechte, durchsetzen, das müsste geschehen, geschieht aber nicht. Und die EU verhandelt weiter mit den Libyern über ein Freihandelsabkommen, anstatt ein Embargo ... Libyen ist sehr, sehr, sehr auslandabhängig, und ein Embargo würde etwas bewirken. Das Embargo müsste endlich verhängt werden. Jetzt zurück zu Ihrer Frage: Wenn Sie sagen, ein Clown – das stimmt, für Europäer, wenn er da in Rom auftritt, aber alles ist genau kalkuliert bei Gaddafi. Ich möchte Ihnen ein Beispiel sagen: Sie haben den Besuch bei Berlusconi angesprochen, da ist Gaddafi aus dem Flugzeug gestiegen und hat mitten auf der Brust ein großes Foto von Omar Mukhtar gehabt, und Omar Mukhtar, das war der letzte große Rebellenchef in Tripolitanien, der sich gegen die italienische Besetzung, Kolonialbesetzung aufgebäumt hat im Jahre 1931, und ist dann nach langem Widerstand gefangen genommen und gehängt worden.

Und (…) hat gesagt, ja, aber da kommt ein Staatschef, trägt auf seinem Bauch ein Foto eines alten Beduinen – das ist doch clownesk, das ist ja lächerlich und so weiter. Aber diese Geste hat in der ganzen nordafrikanischen Welt unglaubliche Zustimmung ausgelöst, weil Omar Mukhtar wurde in Rom gehängt, und jetzt kommt Gaddafi, der Nachfolger, und rehabilitiert den im Angesicht des ehemaligen Kolonialherren. Man muss die Geschichte kennen, um das Betragen von Gaddafi richtig einzuschätzen.

Timm: Schönes Stichwort, ich fragte nach den pittoresken Auftritten auch noch aus einem anderen Grund. Er hat ja in der Vergangenheit, und zwar gar nicht versteckt, Verbindungen zu Terroristen gepflegt, hat 2004 erhebliche Zahlungen an die Opfer des Flugzeugabschusses von Lockerbie gezahlt und danach diesen Verbindungen offiziell abgeschworen, und er hat der Welt zuverlässig Öl geliefert und ihre Waffen gekauft. Hat die Welt seine Gewaltherrschaft vielleicht auch ganz gerne übersehen?

Ziegler: Sie haben absolut recht, es gibt eine große Scheinheiligkeit bei europäischen Regierungen. Libyen fördert jeden Tag 1,8 Millionen Barrel, das ist der größte zusammen mit Nigeria, der größte Erdölproduzent Afrikas, dazu kommt, dass das Erdöl qualitätsmäßig sehr hochstehend ist. Der libysche Staat verdient jedes Jahr zwischen 50 und 60 Milliarden Dollar am Erdöl. Das erlaubt ihm, riesige Investitionen zu machen in die Infrastruktur, und das macht ihn sehr, sehr attraktiv natürlich für die europäischen Unternehmen und die europäischen Regierungen, die dann gerne ihre Augen zuschließen, wenn es um Folter, wenn es um Exekutionen geht, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht.

Timm: Wir sprachen über Libyens Staatschef Oberst Gaddafi mit Jean Ziegler, dem Soziologen, Schriftsteller und beratendem Mitglied im UN-Menschenrechtsausschuss. Das letzte Buch von Jean Ziegler heißt "Hass auf den Westen" und lohnt sich sehr. Dankeschön!

Ziegler: Vielen Dank!