"Er schuf einen Kosmos"

Thomas Koebner im Gespräch mit Joachim Scholl · 31.10.2013
Sein Tod vor 20 Jahren war das Top-Thema in den römischen Zeitungen: Federico Fellini hatte Filmgeschichte geschrieben. Berühmt wurde der italienische Regisseur mit Bildern und Geschichten, in denen sich märchenhafte, surreale und groteske Elemente verbinden, sagt der Filmjournalist Thomas Koebner.
Joachim Scholl: Und jetzt hören wir eine Minute in einen großen Klassiker des Films hinein!

((Filmausschnitt))

Aus "La Strada" im Original, einer der Klassiker, der Filmklassiker der Geschichte, gedreht, realisiert von Federico Fellini. "Dolce Vita", "Achteinhalb", "Stadt der Träume", das sind weitere seiner legendären Meisterwerke, heute vor 20 Jahren ist der italienische Regisseur gestorben. Vorhin haben wir im "Kalenderblatt" an ihn und seine Kunst schon erinnert und jetzt wollen wir über seinen Rang heutzutage diskutieren. Und zwar mit Thomas Koebner, Filmwissenschaftler, der nicht nur das Werk Fellinis in- und auswendig kennt, sondern auch über ihn mehrfach publiziert hat. Thomas Koebner sitzt in einem Studio in München, guten Tag, Herr Koebner!

Thomas Koebner: Ich grüße Sie!

Scholl: Federico Fellini, Herr Koebner, das ist einer jener Filmkünstler, deren Name allein schon auratisch wirkt, so wie Ingmar Berman, Bunuel oder Orson Welles. Wie kam das eigentlich, dass er so schnell doch zum Begriff wurde für eine ganz eigene Filmsprache?

Koebner: Weil er eine ganz eigene Filmsprache entwickelt hat. "La Strada" ist ja noch so in der Epoche des Neorealismus - des späten Neorealismus - entstanden. Und dann, so spätestens nach "Dolce Vita" und "Achteinhalb", entwickelte er so etwas wie eine Art Surrealismus ganz eigener Prägung. Und das ist, glaube ich, so typisch für ihn, dieses Opulente, Traurige, Witzige, Satirische, die Neigung zum Grotesken, dass man doch von einem Fellini-Stil sprechen kann.

Scholl: Man sagt ja rasch fellinesk, so im Sinne von kafkaesk. Woher kam denn dieses besondere Interesse für dieses Träumerische, für das Phantasmagorische, das ja immer auch Seelenwelt bedeutet?

Koebner: Ich denke, dass er, der angefangen hat mit Filmen, die auf der Straße spielen vor allen Dingen, auch "La Strada" nicht zuletzt, irgendwann mal den Drang hatte, darüber hinauszugehen. Er ging in das Innere seiner Personen und entdeckte deren Wahnwelten, beispielsweise bei "Julia und die Geister". Und er geht nach außen und geht ins Märchenhafte, ins Ungeheuerliche, ins Erfinderische, in eine Welt hinein, die eigentlich nur so er allein konzipieren konnte. Das ist so eine Doppelbewegung nach innen und nach außen.

Scholl: Wobei man nicht den politischen Menschen vergessen sollte, den politischen Künstler auch, den Fellini mit viel Sinn für die beißende politische Satire!

Koebner: Ja, unbedingt! Er ist ja groß geworden in der Zeit des Faschismus, noch in der Zeit, in der Mussolini in Italien herrschte, hat aber mit dieser Vergangenheit sehr genau manchmal witzig, manchmal unerbittlich sich auseinandergesetzt. Wenn man denkt an einen Film wie "Amarcord", das ist ein Erinnerungsfilm, wie ungeheuerlich übertrieben er die Repräsentation des Faschismus bloßstellt.

Und das ist etwas anders, als es in Deutschland möglich wäre, weil natürlich die Nazi-Herrschaft viel grauenhafter war. Aber dort, bei Fellini, ist es zugleich komisch. Entsetzlich und komisch. Wobei, das müsste man hinzufügen, er versteht, wenn Menschen in ihrer Not, weil sie allein sind, weil sie in einem kleinen Städtchen, in einem kleinen Beruf, einen kleinen Alltag haben, dass sie Sehnsüchte entwickeln, und Sehnsüchte auch, die im Faschismus beantwortet und aufgenommen worden sind. Auch Sehnsüchte, die von der Kirche aufgenommen worden sind. Das sind Schutzflehende, die sind immer wieder und sehr berührend in den Filmen von Fellini zu beobachten. Denen sozusagen will er nichts Böses antun. Aber vielleicht die Mächte, um deren Schutz gefleht wird, die versagen.

Federico Fellini und Anita Ekberg in Rom, 1960
Federico Fellini und Anita Ekberg in Rom, 1960© AP Archiv
"Fellini standen für seine Filme riesige Budgets zur Verfügung"
Scholl: Heute sind Fellinis Filme allesamt Klassiker, ihr filmhistorischer Rang auch unbestritten. Wie war das eigentlich zu Lebzeiten? So manches Projekt stand ja vor dem Scheitern, weil die Produzenten nicht mehr mitspielten, das Geld nicht reichte wie etwa bei "Casanova". Welche Stellung hatte er denn eigentlich im zeitgenössischen italienischen Film, war er so unangreifbar?

Koebner: Also, eine außerordentliche Stellung. Das ist so, dass man natürlich sehen muss, er hat Autorenfilme geschaffen, wie man das heute nennen könnte, aber mit einem riesigen Etat. Das ist heute fast unvorstellbar, die Budgets, die er brauchte, um seine Welten da, seinen Kosmos zu erschaffen! Als er gestorben ist vor 20 Jahren, waren die römischen Zeitschriften voll von diesem Ereignis, auf der ersten Seite in riesigen Lettern wurde die Krankheit des Maestro und sein Tod verfolgt und kommentiert. Das ist eigentlich unvorstellbar, dass in Deutschland ein Filmregisseur, falls er sich von uns verabschieden sollte, in dieser Weise gefeiert und gewürdigt wird!

Scholl: Über Federico Fellini, der heute vor 20 Jahren gestorben ist, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Filmwissenschaftler Thomas Koebner. Wie hat, Herr Koebner, Fellinis Ästhetik das Kino, den Film beeinflusst, was wurde durch ihn anders, würden Sie sagen, was war durch ihn in der Welt, das auch bis heute nicht mehr wegzudenken ist?

Koebner: Ich denke, dass er vor allem in seinem Spätwerk jüngeren Regisseuren Mut machte zur fantastischen Übertreibung, sich von einer banalen Realität abzukehren und ins Erfindungsreiche hineinzugehen. Ich denke an Regisseure wie Tim Burton etwa! Ich weiß jetzt nicht genau, ob er jetzt von Fellini gelernt hat, ich könnte es mir nur vorstellen, dass das Werk von Fellini ihm auch Mut gemacht hat, eine eigene Welt zu erschaffen.

Ich habe neulich "Titanic" gesehen von James Cameron. Wenn ich dann die Koffer auf dem Wasser schwimmen sehe, das die Gänge durchzieht auf dem sinkenden Schiff, erinnere ich mich an den Film "E la nave va", "Schiff der Träume" von Fellini, wo er mit eigentlich viel geringeren Mitteln ähnliche suggestive Bilder des Untergangs geschaffen hat. Auch hier weiß ich nicht, ist es Cameron darum zu tun, wörtlich Fellini zu zitieren oder bildlich, oder ist es eine Annäherung, aber das ist so ein Beispiel dafür, wie die Bildwelt von Fellini doch manchmal unterirdisch vielleicht weiterwirkt.

Scholl: Jetzt haben Sie große internationale Regisseure, Amerikaner zitiert. Was bedeutet Fellini heute eigentlich in seiner Heimat, ist er hier für den filmischen Nachwuchs immer noch eine Art Übervater oder doch so ein Olympier, der …

Koebner: Das ist eben so mit Übervätern, da haben Sie völlig recht. Man hasst sie. Man versucht, ihnen auszuweichen. Das ist, wie das deutsche Theater auch im Westen mit Brecht umgegangen ist.

Scholl: Man arbeitet sich an ihnen ab.

Koebner: Ja! Also, man geht weit weg von ihm und von seiner Ästhetik, aber ich denke an Leute wie zum Beispiel einen berühmten Komiker, Benigni, der in seiner eigenen Arbeit – er hat ja auch mit Fellini zusammengearbeitet in dessen letztem Film – durchaus Elemente der fellinischen Ästhetik übernimmt.

Scholl: Sie, Herr Koebner, haben ein Buch über Fellini veröffentlicht unter dem schönen Titel "Der Zauberspiegel seiner Filme". Jetzt haben Sie uns schon ein paar Namen genannt, die heute vielleicht noch in diesen Zauberspiegel ab und an schauen. Was glauben Sie, glänzt er immer noch so, dieser Zauberspiegel, wenn man heute diese Filme schaut, oder wird das dann doch über die historische Patina ein wenig stumpf?

Koebner: Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich ein leidenschaftlicher Anhänger bin. Für mich sind diese Filme lebendig, immer noch frisch, ungeheuer, wie soll man sagen, appellativ, sie springen mich an. Ich kann ihnen nicht ausweichen, ich kann mir nicht vorstellen, wie das bei anderen ist. Ich weiß, dass andere sozusagen protestantischer reagieren vor dieser Opulenz, diesem Überfluss, vielleicht ein bisschen erschreckt zurückweichen. Ich kann mir nur wünschen, dass diese protestantische Verweigerung sich aufweichen lässt, sodass man erkennt, was für ein grandioser Erfinder, Bilderfinder und Erzähler Fellini gewesen ist.

Scholl: Heute, in der Welt der DVDs, ist es ja möglich sozusagen, sich auch das Gesamtwerk eines solchen Meisterregisseurs durchaus problemlos zu besorgen. Wenn uns jetzt ein junger Mensch zuhört, Herr Koebner, der sagt, Mensch, ja, diese alten Schwarz-Weiß-Filme da, 50er-, 60er-Jahre, ich habe mal was gehört, aber irgendwie weiß ich gar nicht, Fellini heißt der Typ! – Wenn Sie so einen treffen würden, was würden Sie ihm empfehlen, mit welcher DVD, mit welchem Film sollte er anfangen, vielleicht Fellini zu entdecken?

Koebner: Ich denke an zwei, "La Strada", den Sie eben erwähnt haben eingangs der Sendung, und "Amarcord", der Erinnerungsfilm aus den 70er-Jahren. Beide sind auch vielleicht durch ihre Musik von Nino Rota charakterisiert, die ja etwas sehr sozusagen Zirkushaftes und zugleich unendlich Melancholisches hat. Ich denke, diese Verbindung aus Burleske und Melancholie findet sich auch in "Amarcord", das ist ein Abschiedsfilm. Aber "La Strada" ist in gewisser Hinsicht auch ein Abschieds- und Erinnerungsfilm. Die beiden würde ich als Erste nennen.

Scholl: Federico Fellini, über seinen Rang, seine Wirkung heute haben wir Thomas Koebner gehört, den Filmwissenschaftler und Fellini-Experten. Herr Koebner, besten Dank für das Gespräch!

Koebner: Ich bedanke mich!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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