"Er ist unser vierblättriges Kleeblatt"

Von Eva Raisig · 19.04.2012
Familie Schliekmann gehört zu einer Minderheit: Über 90 Prozent der Eltern, die während der Schwangerschaft von einer Trisomie 21 des Fötus' erfahren, entscheiden sich gegen ihr Kind. Trotz der schwierigen Zeit nach der Diagnose, habe gerade auch der Rückhalt von Freunden und Verwandten die Entscheidung für ihren Sohn Janus erleichtert, sagt das Berliner Ehepaar.
Als Renate Schliekmann zum dritten Mal schwanger wird, ist sie über 35 und es ist für sie ein kleines Wunder: Nach einer Krebserkrankung am Gebärmutterhals hatte sie befürchtet, nie wieder ein Kind bekommen zu können.
Die Untersuchung in der 13. Schwangerschaftswoche habe ganz normal und unaufgeregt angefangen, sagt Renate Schliekmann, reine Routine.

"Als er dann den Schallkopf auf meinen Bauch legte und das erste Bild auf dem riesigen Bildschirm zu sehen war, sahen wir Janus’ linke Hand und schon nach Bruchteilen einer Minute, ich weiß nicht, nach 20 Sekunden, sagte der Pränataldiagnostiker: "Was ist Ihnen in Ihrem Leben wirklich wichtig?" Und in dem Moment ist mir mein Herz in die Hosentasche gerutscht, weil ich wusste: Da ist was."

Ein paar Tage später steht fest: Der Fötus hat das Downsyndrom, eine sogenannte Trisomie 21, das 21. Chromosom liegt dreifach vor – eine kleine Laune der Natur, die das Leben der Schliekmanns aus der Bahn wirft.

Plötzlich stehen viele Fragen im Raum: Sollen sie dieses Kind, das doch so sehr ein Wunschkind war, tatsächlich bekommen? Welche Belastungen, welche Aufgaben kämen auf sie zu und wären sie ihnen gewachsen? Hielte die Beziehung das aus, die Familie, wie kämen die beiden älteren Geschwister damit zurecht?
Die Bilder, die die Schliekmanns von ihrer Zukunft im Kopf haben, verschwimmen. Völlig überfordert von der Situation, von der Qual, über Leben und Tod entscheiden zu müssen, braucht Renate Schliekmann Wochen bis sie einen Entschluss treffen kann.

"Marius hingegen hat eine Nacht über die Diagnose geschlafen und hat dann die wunderbarsten Plädoyers für dieses Leben gehalten."

..und das..

Marius Schliekmann:"..gar nicht aus tiefster innerer Überzeugung, das konnte ich auch gar nicht, dafür wusste ich viel zu wenig, sondern einfach, weil ich mir nicht vorstellen wollte, dass es nicht doch geht, oder ich mich diesem Automatismus nicht so hingeben wollte."

Automatismus hätte bedeutet: Schwangerschaftsabbruch nach der Diagnose Trisomie 21. Über 90 Prozent der Eltern, die während der Schwangerschaft diese Diagnose erfahren, entscheiden sich gegen das Kind. Sie selbst hätten Glück gehabt, sagen die Schliekmanns, Familie und Freunde hätten zu ihnen gehalten, ohne ihnen in der Entscheidung zu einer Richtung zu raten.

Was wäre positiv für uns daran, das Kind nicht zu bekommen? Diese Frage ist für Renate Schliekmann am Ende die entscheidende und die Entscheidung für Janus.
Mit ihr habe sofort eine große Erleichterung eingesetzt, sagt sie und betrachtet ihren zweijährigen Sohn, der in Ringelpulli und grüner Latzhose auf ihrem Schoß sitzt. Die Last von Wochen sei der Vorfreude auf ihr drittes Kind gewichen, endlich konnten sie ihren Sohn wieder beim Namen nennen.

Trotz der schwierigen Situation sei die frühe Diagnose wichtig für sie gewesen, sagt Marius Schliekmann. Sie alle hätten die Zeit der Auseinandersetzung gebraucht.

"Er ist anders und wie dieses "anders" zu sein hatte, das war uns allen nicht klar, wie stark es ausgeprägt ist, wie sehr es sich im Alltag auswirkt. Und in dieser Ungewissheit haben wir das auch in der Familie behandelt, also mit den Kindern."

Ausgrenzung, Unverständnis oder Anfeindungen, wie sie andere betroffene Eltern erfahren, kennen die beiden Architekten nur aus Erzählungen. Keiner habe sie je gefragt, warum sie sich für Janus entschieden hätten. Janus, sagen die Schliekmanns, habe ihre Familie erst komplett gemacht.

Renate Schliekmann: "Er ist einfach unser vierblättriges Kleeblatt. Das suchen so viele und finden es nicht und wir haben es einfach so bekommen."


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