"Er ist ein pralles Menschenwerk"
Günter Grass habe sich nie als Intellektueller gefühlt, betont der Grass-Biograf Michael Jürgs. Er habe sich eher als moralische Instanz gesehen, als einen Bürger, der seinen literarischen Ruhm einsetzte, um sich einzumischen. So habe er auch immer eine politische Bedeutung gehabt in dem, was er schrieb. Als Mensch sei Grass sehr sinnlich, man spüre das "Kaschubische" an ihm.
Günter Grass: "Meine alte Olivetti ist Zeuge, wie fleißig ich lüge und von Fassung zu Fassung der Wahrheit um einen Tippfehler näher bin. Vorsorglich sollte man eine Schubkarre im Haus haben. Plötzlich kommt ein altbekannter Feind auf Besuch, fällt tot um. Wohin dann mit ihm? Heiterer Morgen. Nachdem ich meine unteren und oberen Zähne aus dem Glas genommen, mir eingesetzt, sie angesaugt habe, lächele ich dem Spiegel zu und lasse den Tag beginnen."
Joachim Scholl: Ob er diesen Tag heute auch so beginnt? Wir hörten Gedichte von Günter Grass, der Literaturnobelpreisträger, Romancier von Weltrang, Lyriker und Zeichner, das künstlerische Multitalent, aber auch stets kritischer und lautstarker Geist, wenn es um Politik und Gesellschaft geht. Günter Grass feiert heute seinen 80. Geburtstag. Längst ist er eine Institution, aber keine unumstrittene, wenn man an die heftige Debatte im letzten Sommer denkt, als Günter Grass in seiner Autobiographie und dann im Interview bekannte, bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Am Telefon ist jetzt Michael Jürgs, Autor der Biographie "Bürger Grass". Guten Morgen, Herr Jürgs!
Michael Jürgs: Hallo! Guten Morgen!
Scholl: Vor 30 Jahren hat Joachim Kaiser geschrieben: "Man kann diesen Günter Grass den vielleicht segensreichsten Intellektuellen nennen, der nach dem Zweiten Weltkrieg die politische Bühne betreten hat". Sehen Sie, Michael Jürgs, das auch so?
Jürgs: Ich glaube nicht, dass Grass ein Intellektueller ist. Er hatte immer ein tiefes Misstrauen gegen Intellektuelle. Er ist eine ganz andere Figur. Er ist ein, wenn Sie so wollen, Sprachbildhauer, der immer das Maul, so würde er es auch nennen, aufgemacht hat und laut geworden ist und bei Intellektuellen immer großes Misstrauen hatte.
Scholl: Was macht für Sie die Größe, den Rang dieses Schriftstellers Grass aus?
Jürgs: Das ist einfach zu beantworten: in dem, was er geschrieben hat, nicht in allem selbstverständlich, natürlich. Aber es gibt halt Meisterwerke der Weltliteratur wie die "Blechtrommel", seine Novelle "Telgte" natürlich auch, und, das werden Kritiker ungern hören, für mich auch "Das weite Feld", was vor zehn Jahren ja fürchterlich verrissen worden ist. Aber eines kommt dazu, und das ist bei großen Dichtern eigentlich das, was man erwartet von ihnen. Er hat sich immer als eine Art von moralische Instanz gefühlt, die den Mund aufmachen musste bei allem, was in dieser Republik passierte oder nicht passierte. Immer bestritten, dass er das sein möchte, aber gern in dieser Rolle sich natürlich auch präsentiert.
Scholl: Günter Grass hat Literatur und Politik immer als die zwei Seiten einer Medaille bezeichnet. Wie bewerten Sie denn dieses Verhältnis von Politik und Literatur in seinem Werk?
Jürgs: Nehmen wir "Die Blechtrommel". Das war ja nicht nur ein wunderbares Buch, eine große literarische Leistung, sondern auch eine Abrechnung mit dem, was die Nazi-Zeit war. Und für die Zeit, in der es in Deutschland erschienen ist, also 1959, geradezu ein Stein, der vom Himmel fiel. Himmel in dem Fall natürlich im überirdischen Sinne gemeint. Ein Stein, der vom Himmel fiel und letztlich alles aufbrach; die Prüderie aufbrach, die Krusten mit aufbrach. Und dass dieser Preis damals von einer SPD-Regierung in Bremen, wo er den Preis bekommen sollte für dieses Werk, erst abgelehnt worden ist, spricht für die Zeit oder gegen die Zeit, in der es erschienen ist.
Er hatte immer eine politische Bedeutung in dem, was er schrieb. Und das ist so geblieben. Denken Sie an die Geschichte bei der Einheit 1990, als er der Meinung war, die Einheit sei eigentlich unverdient für die Deutschen, weil nach Auschwitz das nicht mehr erlaubt sei. Auch da hat er, auch wenn es kräftigen Gegenwind gab, immer den Mund aufgemacht. Und das hat er immer als Einheit gesehen.
Scholl: Ich würde gerne noch früher zurückgehen als 1990. In den 60er Jahren fiel Grass ja auf, dass er lautstark selbst trommelte für die SPD, im VW-Bus über die Dörfer gezogen, um für Willy...
Jürgs: Im "Tagebuch der Schnecke", ja.
Scholl: Im "Tagebuch der Schnecke" wurde das dann literarisch verewigt. Aber erst mal der Fall: Ein Schriftsteller sitzt also im VW-Bus und hackt in die Schreibmaschine und liest auf Dorfplätzen oder redet auf Dorfplätzen, hält politische Reden, tritt massiv für Willy Brandt, für den Bundeskanzler ein. Was für eine Rolle hatte er damals eigentlich gespielt?
Jürgs: Es war der Versuch für die SPD, also für Willy Brandt, den er gerade wichtig, gerade aus seiner Berlin-Zeit, in der er noch nicht Bundeskanzler war... Und es hat ihn unglaublich empört, und das war eigentlich der Anlass, dass Willy Brandt von den Leuten, die damals die Demokratur Adenauer bestimmten, als Vaterlandsverräter, uneheliches Kind diffamiert worden ist. Das hat ihn moralisch erregt. Das hat ihn, diese Ungerechtigkeit, empört. Das war der Anlass aufzutreten und dann durchs Land zu reisen und für die SPD, "Dich singe ich SPD" hieß sein Lied, zu machen. Und das war eine Sensation damals, denn es gab vorher noch nicht. Es gab keine Dichter, die plötzlich politische Reden hielten und auch noch wussten, wovon sie sprachen. Denn er hat sich immer, um in seinen Worten zu bleiben, kundig gemacht, bevor er über Politik sprach.
Scholl: Sie, Michael Jürgs, haben Ihre Biographie mit dem Titel "Bürger Grass" versehen. Das kann man sogar als Anspielung auf die Französische Revolution sehen. Welchen Bürger haben Sie denn im Blick gehabt?
Jürgs: Bürger Grass ist für den, über den ich gerade gesprochen habe, der Mann, der seinen literarischen Ruhm benutzt, um politisch sich einzumischen, sich immer, immer wieder einzumischen, manchmal völlig danebenlag, das ist normal, aber auch oft richtig lag. Und deshalb ist der Begriff "Bürger Grass", weil jeder weiß, wer Grass als Literat ist, für mich wichtig gewesen.
Scholl: Lassen Sie uns noch mal über den Menschen, die Persönlichkeit sprechen. Als Biograph haben Sie ihn in vielen Gesprächen hautnah erlebt. Was für einem Menschen sind Sie da begegnet?
Jürgs: Ein Mensch, der in sich ruht. Ein Mensch, der weiß, was er will. Ein Mensch, der aber auch selten andere Meinungen schätzt. Er hört sie sich an, hat sofort eine Gegenmeinung. Es gibt so einen klassischen Satz: "Ich warne hiermit." Das heißt, er spricht auch im privaten Gespräch - jenseits von ab und zu Momenten, wo es natürlich auch ganz lustig zugehen kann, wenn man sich besser kennen lernt - es spricht immer die Figur Grass. Ich würde nie wagen zu sagen, der Mensch Grass sei mir nähergekommen. Er ist mir in vielen Gesprächen nähergekommen dadurch, dass ich mit vielen sprach, die den Menschen besser kannten einschließlich Danzig, und wo ich überall war und mit 40, 50 Leuten, darunter auch seine ehemaligen Geliebten, Frauen und Kinder und Freunde. Dadurch wurde die Figur für mich ja fassbar, menschlich.
Er ist ein glänzender Tänzer. Er ist ein Mensch, der die Musik liebt. Er ist ein sinnlicher Mensch, der den Rotwein liebt und gerne getrunken hat und auch gern noch trinkt. Nicht Trinker, sondern gern den Rotwein trinkt, um nicht missverstanden zu werden. Er ist also ein pralles Menschenwerk. Dieses Kaschubische in ihm ist ja auch etwas, was seine Arbeit bestimmt hat.
Scholl: Günter Grass und die Kritik. Das ist ein eigenes umfangreiches Kapitel. Sie zitieren an einer Stelle Ihrer Biographie die Spiegel-Redakteurin Ariane Barth, die einmal gesagt hat: "Dieser Großdichter kann nicht anders. Er will angehimmelt sein". Ist Günter Grass so ein spezieller Fall von Kritikresistenz? Das sind ja viele Autoren.
Jürgs: Ich finde diesen Satz von Ariane Barth nach wie vor gültig. Und ich würde ihn unterschreiben. Ja.
Scholl: Insofern wäre Grass' heftige und auch tief verletzte Reaktion auf die Debatte nach seinem Bekenntnis, bei der Waffen-SS gewesen zu sein, im letzten Jahr auch so ein bisschen in der Logik seines Wesens?
Jürgs: Es passt genau zu ihm. Und ich finde es eigentlich schon erstaunlich, dass er jetzt soweit ist, bei aller Liebe zu seinem 80. Geburtstag nur die besten Wünsche natürlich, dass man jetzt das Gefühl hat, er sei geneigt, in seiner Güte seinen Kritikern zu verzeihen.
Scholl: Das heißt, den Band "Dummer August" kann er aber doch nicht ganz vergessen machen. Das ist ja auch die lyrische Replik gewesen, eine böse und sehr polemische Art?
Jürgs: Ich würde nicht sagen, dass es eine lyrische Art war. Polemisch würde ich unterschreiben. Aber ich glaube nicht, dass zu den vielen wunderbaren Gedichten, die er geschrieben hat, der "Dumme August" gehört.
Scholl: Was glauben Sie, wird dieses späte Bekenntnis einen Makel hinterlassen, oder werden spätere Epochen das als Marginalie, als Fußnote einer großen Künstlerbiographie werten? Ich meine Gerhart Hauptmann hat auch im Akt der Verblendung die Hakenkreuzfahne an seiner Villa gehisst. Heute sagt man: Ach, Schwamm drüber.
Jürgs: Ich würde sagen, nein. Gerade weil Grass immer darauf gedrängt hat, dass man die Vergangenheit aufarbeitet und gegen alle, die verdrängen wollten, aufgetreten ist, wird dies keine Fußnote sein. Denn dass er zu denen gehörte, die sozusagen … Die Schuld der Väter, das ist die Generation, zu der ich gehöre, war nicht, dass sie dabei waren mit 17, um nicht missverstanden zu werden, sondern dass sie zulange geschwiegen haben. Plötzlich ist er ein Deutscher wie jeder andere auch, und damit muss er leben. Darum ist es keine Fußnote.
Scholl: Wie haben Sie als Biograph eigentlich reagiert, als das damals rauskam? Ich meine, Ihnen hat er es auch nicht erzählt.
Jürgs: Dass man davon persönlich enttäuscht ist, das ist die eine Geschichte. Aber das ist professionell unwichtig. Ich habe den Satz gesagt und zu dem stehe ich, dass er für mich als moralische Instanz damit beschädigt war. Oder, wenn Sie sogar wollen, erledigt war. Jetzt heißt das nicht das Literarische, nach wie vor nicht. Aber ich war nicht nur persönlich enttäuscht, sondern ich fand in der ganzen Lebensgeschichte von Günter Grass und so, wie er mit anderen umgegangen ist, dies eigentlich nicht unverzeihlich. Fast alles ist verzeihlich. Aber dies ist schon ein ziemlich harter Schlag gewesen.
Scholl: Heute ist Geburtstag. Da wollen wir versöhnlich schließen.
Jürgs: Eben das meine ich.
Scholl: Welches literarische Werk, Michael Jürgs, würden Sie denn am meisten hochhalten und empfehlen und schätzen aus diesem reichhaltigen, großen, umfangreichen Oeuvre?
Jürgs: Ich bin jetzt ganz gemein und viele, die das kritisiert haben, sollen endlich mal nach zehn Jahren bekennen, dass "Das weite Feld" ein wunderbarer Roman ist.
Scholl: Michael Jürgs, ich danke Ihnen!
Jürgs: Danke.
Scholl: Wir sprachen über Günter Grass zum 80. Geburtstag. Die Biographie von Michael Jürgs "Bürger Grass" ist im Bertelsmann Verlag erschienen. Jetzt gerade auch als Taschenbuch und erweitert um ein spezielles Kapitel, wie man sich denken kann.
Joachim Scholl: Ob er diesen Tag heute auch so beginnt? Wir hörten Gedichte von Günter Grass, der Literaturnobelpreisträger, Romancier von Weltrang, Lyriker und Zeichner, das künstlerische Multitalent, aber auch stets kritischer und lautstarker Geist, wenn es um Politik und Gesellschaft geht. Günter Grass feiert heute seinen 80. Geburtstag. Längst ist er eine Institution, aber keine unumstrittene, wenn man an die heftige Debatte im letzten Sommer denkt, als Günter Grass in seiner Autobiographie und dann im Interview bekannte, bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Am Telefon ist jetzt Michael Jürgs, Autor der Biographie "Bürger Grass". Guten Morgen, Herr Jürgs!
Michael Jürgs: Hallo! Guten Morgen!
Scholl: Vor 30 Jahren hat Joachim Kaiser geschrieben: "Man kann diesen Günter Grass den vielleicht segensreichsten Intellektuellen nennen, der nach dem Zweiten Weltkrieg die politische Bühne betreten hat". Sehen Sie, Michael Jürgs, das auch so?
Jürgs: Ich glaube nicht, dass Grass ein Intellektueller ist. Er hatte immer ein tiefes Misstrauen gegen Intellektuelle. Er ist eine ganz andere Figur. Er ist ein, wenn Sie so wollen, Sprachbildhauer, der immer das Maul, so würde er es auch nennen, aufgemacht hat und laut geworden ist und bei Intellektuellen immer großes Misstrauen hatte.
Scholl: Was macht für Sie die Größe, den Rang dieses Schriftstellers Grass aus?
Jürgs: Das ist einfach zu beantworten: in dem, was er geschrieben hat, nicht in allem selbstverständlich, natürlich. Aber es gibt halt Meisterwerke der Weltliteratur wie die "Blechtrommel", seine Novelle "Telgte" natürlich auch, und, das werden Kritiker ungern hören, für mich auch "Das weite Feld", was vor zehn Jahren ja fürchterlich verrissen worden ist. Aber eines kommt dazu, und das ist bei großen Dichtern eigentlich das, was man erwartet von ihnen. Er hat sich immer als eine Art von moralische Instanz gefühlt, die den Mund aufmachen musste bei allem, was in dieser Republik passierte oder nicht passierte. Immer bestritten, dass er das sein möchte, aber gern in dieser Rolle sich natürlich auch präsentiert.
Scholl: Günter Grass hat Literatur und Politik immer als die zwei Seiten einer Medaille bezeichnet. Wie bewerten Sie denn dieses Verhältnis von Politik und Literatur in seinem Werk?
Jürgs: Nehmen wir "Die Blechtrommel". Das war ja nicht nur ein wunderbares Buch, eine große literarische Leistung, sondern auch eine Abrechnung mit dem, was die Nazi-Zeit war. Und für die Zeit, in der es in Deutschland erschienen ist, also 1959, geradezu ein Stein, der vom Himmel fiel. Himmel in dem Fall natürlich im überirdischen Sinne gemeint. Ein Stein, der vom Himmel fiel und letztlich alles aufbrach; die Prüderie aufbrach, die Krusten mit aufbrach. Und dass dieser Preis damals von einer SPD-Regierung in Bremen, wo er den Preis bekommen sollte für dieses Werk, erst abgelehnt worden ist, spricht für die Zeit oder gegen die Zeit, in der es erschienen ist.
Er hatte immer eine politische Bedeutung in dem, was er schrieb. Und das ist so geblieben. Denken Sie an die Geschichte bei der Einheit 1990, als er der Meinung war, die Einheit sei eigentlich unverdient für die Deutschen, weil nach Auschwitz das nicht mehr erlaubt sei. Auch da hat er, auch wenn es kräftigen Gegenwind gab, immer den Mund aufgemacht. Und das hat er immer als Einheit gesehen.
Scholl: Ich würde gerne noch früher zurückgehen als 1990. In den 60er Jahren fiel Grass ja auf, dass er lautstark selbst trommelte für die SPD, im VW-Bus über die Dörfer gezogen, um für Willy...
Jürgs: Im "Tagebuch der Schnecke", ja.
Scholl: Im "Tagebuch der Schnecke" wurde das dann literarisch verewigt. Aber erst mal der Fall: Ein Schriftsteller sitzt also im VW-Bus und hackt in die Schreibmaschine und liest auf Dorfplätzen oder redet auf Dorfplätzen, hält politische Reden, tritt massiv für Willy Brandt, für den Bundeskanzler ein. Was für eine Rolle hatte er damals eigentlich gespielt?
Jürgs: Es war der Versuch für die SPD, also für Willy Brandt, den er gerade wichtig, gerade aus seiner Berlin-Zeit, in der er noch nicht Bundeskanzler war... Und es hat ihn unglaublich empört, und das war eigentlich der Anlass, dass Willy Brandt von den Leuten, die damals die Demokratur Adenauer bestimmten, als Vaterlandsverräter, uneheliches Kind diffamiert worden ist. Das hat ihn moralisch erregt. Das hat ihn, diese Ungerechtigkeit, empört. Das war der Anlass aufzutreten und dann durchs Land zu reisen und für die SPD, "Dich singe ich SPD" hieß sein Lied, zu machen. Und das war eine Sensation damals, denn es gab vorher noch nicht. Es gab keine Dichter, die plötzlich politische Reden hielten und auch noch wussten, wovon sie sprachen. Denn er hat sich immer, um in seinen Worten zu bleiben, kundig gemacht, bevor er über Politik sprach.
Scholl: Sie, Michael Jürgs, haben Ihre Biographie mit dem Titel "Bürger Grass" versehen. Das kann man sogar als Anspielung auf die Französische Revolution sehen. Welchen Bürger haben Sie denn im Blick gehabt?
Jürgs: Bürger Grass ist für den, über den ich gerade gesprochen habe, der Mann, der seinen literarischen Ruhm benutzt, um politisch sich einzumischen, sich immer, immer wieder einzumischen, manchmal völlig danebenlag, das ist normal, aber auch oft richtig lag. Und deshalb ist der Begriff "Bürger Grass", weil jeder weiß, wer Grass als Literat ist, für mich wichtig gewesen.
Scholl: Lassen Sie uns noch mal über den Menschen, die Persönlichkeit sprechen. Als Biograph haben Sie ihn in vielen Gesprächen hautnah erlebt. Was für einem Menschen sind Sie da begegnet?
Jürgs: Ein Mensch, der in sich ruht. Ein Mensch, der weiß, was er will. Ein Mensch, der aber auch selten andere Meinungen schätzt. Er hört sie sich an, hat sofort eine Gegenmeinung. Es gibt so einen klassischen Satz: "Ich warne hiermit." Das heißt, er spricht auch im privaten Gespräch - jenseits von ab und zu Momenten, wo es natürlich auch ganz lustig zugehen kann, wenn man sich besser kennen lernt - es spricht immer die Figur Grass. Ich würde nie wagen zu sagen, der Mensch Grass sei mir nähergekommen. Er ist mir in vielen Gesprächen nähergekommen dadurch, dass ich mit vielen sprach, die den Menschen besser kannten einschließlich Danzig, und wo ich überall war und mit 40, 50 Leuten, darunter auch seine ehemaligen Geliebten, Frauen und Kinder und Freunde. Dadurch wurde die Figur für mich ja fassbar, menschlich.
Er ist ein glänzender Tänzer. Er ist ein Mensch, der die Musik liebt. Er ist ein sinnlicher Mensch, der den Rotwein liebt und gerne getrunken hat und auch gern noch trinkt. Nicht Trinker, sondern gern den Rotwein trinkt, um nicht missverstanden zu werden. Er ist also ein pralles Menschenwerk. Dieses Kaschubische in ihm ist ja auch etwas, was seine Arbeit bestimmt hat.
Scholl: Günter Grass und die Kritik. Das ist ein eigenes umfangreiches Kapitel. Sie zitieren an einer Stelle Ihrer Biographie die Spiegel-Redakteurin Ariane Barth, die einmal gesagt hat: "Dieser Großdichter kann nicht anders. Er will angehimmelt sein". Ist Günter Grass so ein spezieller Fall von Kritikresistenz? Das sind ja viele Autoren.
Jürgs: Ich finde diesen Satz von Ariane Barth nach wie vor gültig. Und ich würde ihn unterschreiben. Ja.
Scholl: Insofern wäre Grass' heftige und auch tief verletzte Reaktion auf die Debatte nach seinem Bekenntnis, bei der Waffen-SS gewesen zu sein, im letzten Jahr auch so ein bisschen in der Logik seines Wesens?
Jürgs: Es passt genau zu ihm. Und ich finde es eigentlich schon erstaunlich, dass er jetzt soweit ist, bei aller Liebe zu seinem 80. Geburtstag nur die besten Wünsche natürlich, dass man jetzt das Gefühl hat, er sei geneigt, in seiner Güte seinen Kritikern zu verzeihen.
Scholl: Das heißt, den Band "Dummer August" kann er aber doch nicht ganz vergessen machen. Das ist ja auch die lyrische Replik gewesen, eine böse und sehr polemische Art?
Jürgs: Ich würde nicht sagen, dass es eine lyrische Art war. Polemisch würde ich unterschreiben. Aber ich glaube nicht, dass zu den vielen wunderbaren Gedichten, die er geschrieben hat, der "Dumme August" gehört.
Scholl: Was glauben Sie, wird dieses späte Bekenntnis einen Makel hinterlassen, oder werden spätere Epochen das als Marginalie, als Fußnote einer großen Künstlerbiographie werten? Ich meine Gerhart Hauptmann hat auch im Akt der Verblendung die Hakenkreuzfahne an seiner Villa gehisst. Heute sagt man: Ach, Schwamm drüber.
Jürgs: Ich würde sagen, nein. Gerade weil Grass immer darauf gedrängt hat, dass man die Vergangenheit aufarbeitet und gegen alle, die verdrängen wollten, aufgetreten ist, wird dies keine Fußnote sein. Denn dass er zu denen gehörte, die sozusagen … Die Schuld der Väter, das ist die Generation, zu der ich gehöre, war nicht, dass sie dabei waren mit 17, um nicht missverstanden zu werden, sondern dass sie zulange geschwiegen haben. Plötzlich ist er ein Deutscher wie jeder andere auch, und damit muss er leben. Darum ist es keine Fußnote.
Scholl: Wie haben Sie als Biograph eigentlich reagiert, als das damals rauskam? Ich meine, Ihnen hat er es auch nicht erzählt.
Jürgs: Dass man davon persönlich enttäuscht ist, das ist die eine Geschichte. Aber das ist professionell unwichtig. Ich habe den Satz gesagt und zu dem stehe ich, dass er für mich als moralische Instanz damit beschädigt war. Oder, wenn Sie sogar wollen, erledigt war. Jetzt heißt das nicht das Literarische, nach wie vor nicht. Aber ich war nicht nur persönlich enttäuscht, sondern ich fand in der ganzen Lebensgeschichte von Günter Grass und so, wie er mit anderen umgegangen ist, dies eigentlich nicht unverzeihlich. Fast alles ist verzeihlich. Aber dies ist schon ein ziemlich harter Schlag gewesen.
Scholl: Heute ist Geburtstag. Da wollen wir versöhnlich schließen.
Jürgs: Eben das meine ich.
Scholl: Welches literarische Werk, Michael Jürgs, würden Sie denn am meisten hochhalten und empfehlen und schätzen aus diesem reichhaltigen, großen, umfangreichen Oeuvre?
Jürgs: Ich bin jetzt ganz gemein und viele, die das kritisiert haben, sollen endlich mal nach zehn Jahren bekennen, dass "Das weite Feld" ein wunderbarer Roman ist.
Scholl: Michael Jürgs, ich danke Ihnen!
Jürgs: Danke.
Scholl: Wir sprachen über Günter Grass zum 80. Geburtstag. Die Biographie von Michael Jürgs "Bürger Grass" ist im Bertelsmann Verlag erschienen. Jetzt gerade auch als Taschenbuch und erweitert um ein spezielles Kapitel, wie man sich denken kann.