"Er ist der Modernste der Dichter aus der klassischen Zeit"

Peter Michalzik im Gespräch mit Ulrike Timm · 18.04.2011
Pünktlich zum Kleist-Jahr 2011 erscheint eine große Biografie des Dichters aus der Feder von Peter Michalzik. Im Interview spricht der Autor über Kleists Kriegs-Traumata, sein Verhältnis zu Frauen und seine wachsende Popularität beim Publikum.
Ulrike Timm: Er ist der Dichter des "Käthchen von Heilbronn", die Theaterstücke "Penthesilea", "Amphitryon" und "Der zerbrochene Krug" stammen von Heinrich von Kleist genau so wie die Novelle um den Rechtsfanatiker "Michael Kohlhaas". Und jetzt, zum 200. Todesjahr von Kleist, wird gerne vielsagend hingeraunt, was er selbst über sich sagte, dass ihm nämlich auf Erden nicht zu helfen. Der spektakuläre Selbstmord am Berliner Wannsee, in den er seine Freundin Henriette Vogel gleich mitnahm, gibt dem Dichter eine geheimnisvoll-tragische Aura, die das Leben davor fast zu verdecken scheint. Dabei hatte Kleist ein intensives und spannungsreiches Leben, das macht die neue Biografie Kleists deutlich, die der Theaterkritiker und Journalist Peter Michalzik jetzt vorgelegt hat. "Kleist: Dichter, Krieger, Seelensucher", so heißt sie. Herr Michalzik ist uns zugeschaltet, schönen guten Tag!

Peter Michalzik: Ja guten Tag!

Timm: Sie beschreiben Kleist als ständig auf der Suche nach Lebenssinn und Glück, und letztlich unternimmt er dabei einen Fehlversuch nach dem anderen. Ein ganz moderner Mensch?

Michalzik: Ja, ja natürlich ist er ein ganz … Er ist der Modernste der Dichter aus der klassischen Zeit, und modern ist er glaube ich vor allen Dingen in einer Sache: Er erfindet mit einer Vehemenz und einem Mut einen neuen Typus von Schriftsteller oder Künstler überhaupt, der sich quasi ganz auf das Leben einlässt, und bei dem sich Leben und Schreiben, Leben und Kunst auf eine so intensive Weise verbinden, wie das vorher überhaupt nicht denkbar war. Und das beschäftigt ja die Kunst bis heute und insofern ist er vollkommen modern.

Timm: Sie beginnen Ihr Buch ja auch mit einer großen Veränderung, nicht mit Kindheit und Jugend, sondern mit einer Schnittstelle im Leben von Kleist, nämlich dem Entschluss, das Militär zu verlassen. Was sehr ungewöhnlich war für einen Adligen seiner Zeit, er hätte da prima Karriere machen können. Hat dieser Entschluss das Leben des Dichters denn so entscheidend geformt und verändert?

Michalzik: Es ist der erste Entschluss in einer Reihe mehrerer Entschlüsse, und dieser erste Entschluss, wo er quasi der Welt, aus der er kommt, vollkommen Ade sagt, in jeder Beziehung, indem er alles abschneidet – also die Beziehungen zu seiner Familie sind von da an schwierig, er hat keine wirklichen Aussicht mehr auf Beruf, er weiß eigentlich gar nicht mehr, was sein Platz auf der Welt ist. Und damit aber schaffte er sich einen Raum von Freiheit, der bis dahin undenkbar war. Die gesamte Welt der Möglichkeiten liegt mit einem Schlag vor ihm. Und dass er daran scheitert, gut: Er ist der erste in diesem Land. Aber er fängt an, zu gehen.

Timm: Aber warum hat er das alles abgeschnitten, er war ja nun wirklich kein Pazifist?

Michalzik: Warum ist eine Frage, die sich nicht so einfach beantworten lässt. Meine Mutmaßung ist eine Mischung aus zwei Dingen. Erstens: Er suchte wirklich nach etwas, was dann das 20. Jahrhundert vielleicht mit einem relativ schmalen Wort Selbstverwirklichung genannt hat. Er spürte, dass in ihm etwas ist, was etwas anderes ist als die Möglichkeiten des Menschseins, die ihm bis dahin gegeben waren. Und er wollte das verwirklichen, er wollte das ausprobieren. Das ist das eine.
Das andere ist, dass er beim Militär – was bisher viel zu wenig bekannt ist –, dass er beim Militär Dinge erlebt hat, im Krieg Dinge erlebt hat, die mehr als schrecklich waren. Er hat wirklich sowohl den Nahkampf, wo ja Soldaten einander gegenüberstehen, sich quasi in die Augen schauen, und dann schießt die ganze Batterie, so wie wir das aus manchen Filmen kennen … Da stand er dabei und hat das miterlebt. Und genau so, wie die Stadt Mainz in Schutt und Asche gelegt wurde, wo die Bewohner versuchten aus ihr zu flüchten, und nicht konnten. Und bei einem sensiblen Menschen wie Kleist muss man das annehmen, einem hoch sensiblen Menschen, dass das tiefgreifende, vielleicht auch Traumatisierungen bei ihm hinterlassen hat.

Timm: Peter Michalzik, Heinrich von Kleist. Bleibt er trotzdem zeitlebens ein Krieger? Er war ja zum Beispiel privat nicht zimperlich, wenn er Menschen - insbesondere Frauen – nach seinem Ideal zurechtschnitzen wollte. Kann man sagen, die Gewalt erfahren und auch ausgeteilt ist so was wie der rote Faden durch das Leben bis hin zum Tod?

Michalzik: Na ich glaube, im Verhältnis zu Frauen war er eher so ein Schüchterner, Verstockter, Eigensinniger, eine ganz merkwürdige … Also der ganze erotische Komplex ist noch mal was ganz Eigenes und Merkwürdiges. Die Frage nach der Gewalt stellt sich eigentlich erst mal anders, nämlich, dass es eigentlich kein Werk gibt von Kleist, in dem Gewalt nicht eine zentrale Rolle spielen würde. Und das ist doch wirklich augenfällig und merkwürdig zugleich, dass jemand, der wie kein anderer Dichter Gewalt thematisiert hat und offensichtlich unter einem Zwang stand, sie immer wieder durchzuarbeiten quasi, dass man bei dem nicht annehmen sollte, dass Gewalterfahrungen, die er in seiner Jugend als 14-, 15-, 16-Jähriger gemacht hat, dass die für ihn keine Rolle spielen sollten. Das wäre ja schlicht undenkbar eigentlich.

Timm: Von ihm stammen die glühendsten Gewaltfantasien der deutschen Literatur, ich erinnere an ein paar: Penthesilea verspeist ihren Geliebten Achill, Michael Kohlhaas streitet erst um sein Recht und verbrennt dann halb Sachsen, das Käthchen wird ausgepeitscht, die Marquise von O. vergewaltigt. Man sollte ja immer vorsichtig sein mit Übersetzungen vom Leben ins Werk, aber er war schon ein ziemlicher Katastrophenjunkie, oder?

Michalzik: Der war er mit Sicherheit, ja. Und das mit der Übersetzbarkeit von Leben ins Werk, Sie haben recht, man sollte vorsichtig sein und es ist keine dieser Szenen, die Kleist schildert, mit Sicherheit rückübertragbar in sein Leben. Aber diese ursprüngliche Gewalterfahrung wäre bei einem – wie ich ja vorher auch gesagt habe –, einem Typus Schriftsteller, der wirklich Leben und Kunst so weit ineinander verschränkt, wie das vorher nicht möglich war, und der auch seitdem der Kunst seine eigene Dignität, also eine Ehrwürdigkeit gibt, die gibt es erstmals bei Kleist. Und gerade bei so jemandem zu denken, nein, das hat nichts miteinander zu tun, wäre eigentlich blöd. Und es war auch nicht so, das denkt auch niemand ernsthaft.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Theaterkritiker Peter Michalzik über seine große Kleistbiografie, die jetzt erschienen ist. Herr Michalzik, was Ihr Buch von anderen unterscheidet, ist zum einen eine ganz akribische Auslegung der Briefe, und zum anderen sind es kleine Zwischenkapitel wie: Wie sprach Kleist überhaupt, oder Kleist und das Geld, Kleist und das Reisen. Ich kann mich irren, aber ich hatte den Eindruck, dass gerade diese Kapitel Sie möglicherweise für sich selbst geschrieben haben, um als Literaturkenner, der Sie sind, den Menschen besser zu begreifen. Stimmt das?

Michalzik: Ich habe sie schon sehr für Leser geschrieben, weil mich selbst seit 20 Jahren stört: Da wird immer gesagt, er gab soundso viel Geld aus, und man weiß eigentlich ja eigentlich gar nicht, wie viel war das. Es wird immer gesagt, er stottert, und je näher man hinguckt, desto deutlicher sieht man, vor 1805 hat der Mensch mitnichten gestottert. Das Ziel meines Buches, und ich finde eigentlich, das Ziel jeder Biografie sollte sein: Zeichne den Menschen so deutlich, wie es irgend geht. Versuche, dem Leser plastisch zu machen, was für ein Leben wurde damals gelebt, worum ging es? Und dazu gehört auch, wie sah er aus. Weil das spielt ja in der Interaktion zwischen Menschen durchaus eine Rolle.

Nun ja, und natürlich hat mir das Vergnügen gemacht, insofern habe ich es auch ein Stück weit für mich geschrieben, aber es war mir wesentlich dafür, dass jeder nachvollziehen kann, das Geld war damals so viel wert, und hat der nun auf so großem Fuße gelebt, war er ein Verschwender oder hatte er zu wenig Geld – diese Fragen, die ja wirklich wichtig sind, dass man die beantworten kann. Es war auch ein Versuch, etwas, was es in Deutschland meines Erachtens nach viel zu wenig gibt. Also die Deutschen lesen sehr gerne Biografien, wissen wir, es sind aber alle Biografien irgendwie so merkwürdig akademisch. Es werden immer irgendwelche akademischen Diskussionen versucht, populär zu erzählen. Und ich dachte aber, nein, die Leute interessiert doch was anderes, nämlich Fragen wie Geld, Sprechen, Liebe und so weiter. Und die versuche ich so anschaulich und so minutiös eben aber auch ins Auge zu fassen, wie es irgend geht, und dann so zu erzählen, dass es einfach Spaß macht.

Timm: Am produktivsten war Kleist, der Krieger, der Selbstzerrissene, in seiner Zeit als Beamter in Königsberg. Ließ da der Job schlicht am meisten Platz? Da hat er die meisten Stücke geschrieben, die wir heute kennen.

Michalzik: Der Job ließ paradoxerweise am wenigsten Platz, er hat nie so viel ganz normale Arbeit geleistet wie in dieser Zeit, und trotzdem war er am produktivsten. Wenn man sich fragt, woran könnte denn das gelegen haben, dann ist es eigentlich klar, dass diese Arbeit und auch das Aufgehobensein in der Gesellschaft, das er damals erlebte, dass diese Arbeit ihm quasi einen Schutz bot. Er musste über manche Sachen – welchen Platz habe ich in der Welt, die Entscheidung, die er früh getroffen hatte –, über manche Sachen musste er einfach nicht mehr nachdenken.

Das hat ihn ungeheuer entlastet und er konnte – er beschreibt das dann so als eine stabil-labile Stimmung, in der er sich befand –, er konnte einfach so dahinschreiben. Man kann sich das wirklich so vorstellen, er kam abends nach Hause, nach gemachter Arbeit, setzte sich hin, wenn er nicht bei irgendeiner Gesellschaft war, und schrieb und schrieb und schrieb stundenlang etwas: Was ihn vorher unglaublich aufgeregt hatte, ging dann in schöner Gleichmut dahin.

Timm: Auch Katastrophenjunkies brauchen mal Frieden. Herr Michalzik, jenseits des "Zerbrochenen Krugs" und der Schullektüre von "Michael Kohlhaas" ist Kleist nicht wirklich bei Lesern ein gut verankerter Autor. Seine Sprache gilt als schwierig, eine Zumutung für Schauspieler wie fürs Publikum, hat der Regisseur Armin Petras einmal gesagt, man brauche für diese exaltierte Sprache dampfende oder frierende Körper, aber niemanden, der einfach mal spazieren geht. Hat Kleist diese Sprache eine größere Popularität schlicht vermasselt?

Michalzik: Nein, ich glaube das nicht. Ich glaube, dass diese Sprache Kleist bis heute eine immer weiter ansteigende Wirkung beschert hat. Also Kleist wird ja glaube ich im Moment oder seit einigen Jahren mehr gespielt als Schiller und Goethe. Er ist ein Schriftsteller, der bei Schriftstellern selbst und bei Theaterleuten ein ungeheures Renommee genießt. Und nach meinem Eindruck ist es auch so, dass er sich mehr und mehr – einfach ganz langsam, er ist immer noch im Prozess des Entdeckens – beim Publikum durchsetzt. Und die Sprache sagt einem zwar Schauer den Rücken runter und macht alles Mögliche mit einem, aber hat man sich mal quasi an diesen anderen Duktus gewöhnt, dann ist sie so schwierig eigentlich überhaupt nicht, weil sie sehr, sehr, sehr gestisch ist und dadurch quasi fast körperlich nachvollziehbar.

Timm: Er ist mit Furor in den eigenen Tod gegangen, hat noch eine Frau mitgerissen, Henriette Vogel, ein Doppelselbstmord, der ihn fast berühmter gemacht hat als seine Dichtung, und bei dem nach Ihren Recherchen viel Inszenierung dabei war. Inwiefern?

Michalzik: Na ja, nicht nur Inszenierung, das hat man schon bisher vermutet, dass da irgendwie das ganze Arrangement da am Kleinen Wannsee, wo ja sein Grab ist und wo er sich auch mit Henriette Vogel erschossen hat … Aber es geht weiter, er hat 1807 in Kriegsgefangenschaft in Frankreich ein Gemälde gesehen und auf diesem Gemälde war eine tote Person, die in den Armen von Engeln lag. Und er schrieb über dieses Gemälde, das sei das Schönste und Berührendste, was er je gesehen habe. Und dieser Mensch lag auf Knien, in einer ganz merkwürdigen Haltung, und genau diese Lage des Menschen, dem sich die Engel nähern oder ihn empfangen haben, genau diese Position hat er am Kleinen Wannsee sowohl für Henriette Vogel als auch für sich selbst nachgestellt. Das heißt, er hat sich im Tod in die Position dieses Menschen gebracht. Und damit ist ja eigentlich offensichtlich – weil die Position wirklich eigenartig ist, so halb liegend, halb sitzend auf Knien, also die Knie eingeschlagen, dass er davon ausging, dass diese Position – das beschreibt er dann in dem Brief – diejenige ist, wo die Engel, indem sie das Zarte des Menschen, was noch übrig ist, nämlich die Seele, berühren, sie am leichtesten in dieser Position aufnehmen können und dann mit ihr tun, was dann … Na ja, wovon wir eigentlich nichts wissen.

Timm: Peter Michalzik über Heinrich von Kleist, er hat eine große Biografie über den Dichter vorgelegt, "Kleist: Dichter, Krieger, Seelensucher", erschienen im Propyläen Verlag. Herr Michalzik, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Michalzik: Ja, ich danke auch!

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