Epochal, doch mit Nebenwirkungen

Von Sibylle Tönnies · 08.12.2008
Es gibt zurzeit einen frischen und lebendigen Anlass, sich der Menschenrechte zu freuen: die Wahl Obamas zum amerikanischen Präsidenten. Die ethnische Herkunft eines Menschen hat sich an höchster Stelle als irrelevant erwiesen. Die Geschichte der Gleichheitsidee zeigt sich als Siegeszug. Diese Idee macht den Kern der Menschenrechte aus.
Egal, was unter Obamas Regierung schiefgehen mag: Die Tatsache allein, dass seine Wahl möglich war, ist ein Triumph. "So etwas vergisst sich nicht" – dieses Wort, das Kant auf die Französische Revolution angewandt hat, gilt auch hier. "So etwas vergisst sich nicht" in der Weltgeschichte, egal, was anschließend geschieht.

Behalten wir die Französische Revolution im Auge. In dieser Revolution, die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ausgerufen hat, verursachte die Menschenrechtsidee eine Explosion der Verhältnisse, wie die Menschheit sie vorher noch nie erlebt hatte. In den Jahren zuvor waren Bücher veröffentlicht worden, in denen Denker – Rousseau, Voltaire, Diderot, d’Alembert – behauptet hatten, dass die tatsächlichen Verhältnisse unrechtmäßig seien, unrechtmäßig, ohne dass die geschriebenen Gesetze verletzt waren. Diese Denker behaupteten, das staatliche Recht sei unmaßgeblich; maßgeblich seien vielmehr ungeschriebene, von der Natur vorgegebene Gesetze, und diese Gesetze verlangten, dass die Menschen als Freie und Gleiche nebeneinander stünden. "Naturrecht" nannten sie dieses rein geistig, rein ideell über den Verhältnissen schwebende Recht. "Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann finden", ließ Schiller im Wilhelm Tell sagen, "greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel und holt herunter seine ewigen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst."

Der Zusammenprall dieser himmlischen Sphäre mit den irdischen Verhältnissen war das Donnerwetter der Französischen Revolution. Sie löste zunächst allgemeine Begeisterung aus, auch bei den Zuschauern in Deutschland, wo die geistige Elite geschlossen auf der Seite der Revolution stand. Bis das Entsetzliche passierte: der Umschlag der Revolution in Terror. Gleichheit wurde dadurch hergestellt, dass den Adligen die Köpfe abgeschlagen wurden. Fischweiber hatten ihren Spaß daran, diese Köpfe auf Stangen zu spießen – so wurde aus Paris berichtet. Eine geistige Depression war die Folge. "Da werden Weiber zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Spott", sagte Schiller jetzt in der Glocke. Als der "ewig Blinde" erschien ihm der Mensch: "Weh denen, die dem ewig Blinden des Lichtes Himmelfackel leihn, sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden und äschert Städt’ und Dörfer ein."

Obwohl wir alle in der Schule etwas von dem Umschlag der Revolution und dem Wirken der Guillotine gehört haben, wird in den Sonntagsreden über die Menschenrechte nicht darüber gesprochen. Es darf aber nicht vergessen werden: Diese Rechte träufeln nicht nur Segen aus. Sie können auch gefährlich werden. Denn wenn sie den konkreten Verhältnissen konträr entgegenstehen, können sie nur dadurch verwirklicht werden, dass die bestehende Ordnung radikal aufgelöst wird. Das Ergebnis sind dann Anarchie und Terror.

Das war nicht nur im achtzehnten Jahrhundert so. Wir haben dieses Ergebnis auch in der Gegenwart fast täglich in der Tagesschau vor Augen. Vor wenigen Jahren wurde eine Hauptstadt bombardiert und ein Tyrann an den Galgen gehängt, der in seinem Land eine Herrschaft ausgeübt hatte, die den Menschenrechten spottete; man hatte gemeint, mit diesem brutalen Akt den ewigen Rechten Geltung zu verschaffen. Das Gegenteil ist eingetreten. Fortschritte, die in diesem Land schon erreicht waren und auch unter der Tyrannenherrschaft Bestand hatten, wurden durch die Zerstörung der Ordnung rückgängig gemacht. Jetzt werden dort die Frauen wieder in die Häuser eingesperrt, während sich in den Straßen religiöse Gruppierungen beschießen. Ich spreche natürlich vom Irak.

Da die Erklärung der Menschenrechte Teil des Völkerrechts ist, wird oft gemeint, dass dieses Recht ihre gewaltsame Durchsetzung gebiete. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Das Völkerrecht verbietet sie. Es ist viel klüger, als allgemein angenommen wird. Die Menschenrechtserklärung, so wie sie 1948 verkündet wurde, enthält keineswegs die Aufforderung, souveräne Staaten zu bombardieren, um dort das Unrecht zu beseitigen. Denn ein solches Vorgehen ist (nach der UN-Charta) ein verbotener Angriffskrieg. Daran wollte die Menschenrechtserklärung nichts ändern. Die Generalversammlung verkündete "die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal." Ein Ideal wurde verkündet, von dem bekannt ist, wie gefährlich seine Durchsetzung sein kann.

Sibylle Tönnies, Juristin, Soziologin, Publizistin, 1944 in Potsdam geboren, studierte Jura und Soziologie. Sie arbeitete zunächst als Rechtsanwältin und war Professorin im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bremen. Heute unterrichtet sie an der Universität Potsdam. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen die Bücher ‘Der westliche Universalismus’, ‘Linker Salon-Atavismus’ und ‘Pazifismus passé?’