Epidauros-Festival in Griechenland

Die Wiederentdeckung des antiken Dramas

05:08 Minuten
Während den Proben zum Athens/Epidaurus Festival auf dem antiken Ruinengelände.Die Teilnehmer kommen von überall her: Griechenland, die Nachbarländer, Europa, China, Brasilien, Kanada.
Das antike Ruinengelände bietet einen historischen Rahmen für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Themen. © Gerd Brendel
Von Gerd Brendel · 20.07.2019
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Im antiken Theater von Epidaurus stehen die Stücke von Aischylos bis Sophokles auf dem Spielplan. Dieses Jahr hat der künstlerische Leiter Vangelis Theodoropoulos zum ersten Mal auch nicht-griechische Produktionen eingeladen. Ein Festival der Utopien.
Morgens um acht in Epidaurus. Einen Steinwurf entfernt vom antiken Theater tanzen 100 junge Schauspieler, Schauspielerinnen, Performer und Tänzerinnen im alten Stadion wild durcheinander. Zwei Wochen lang haben sie sich in Workshops mit der "Wieder-Erfindung des antiken Dramas für die zeitgenössische Bühne" auseinandergesetzt. So der Titel des "Lyceums", der Summer School des Festivals in diesem Jahr.
An diesem Morgen erfinden die jungen Teilnehmer aus aller Welt den "Kommos" das Klagelied der antiken Tragödie neu.
Einer nach der anderen tritt ans Mikrophon: "In meinem Land …", beginnen sie. "In meinem Land laufen die Mörder einer jungen Frau frei herum, erzählt Güncü eine junge Schauspielschülerin aus der Türkei. "In meinem Land", erzählt Pascal aus Athen, "bist du als Besucher willkommen, aber nicht, wenn du da bleiben willst."
Was bedeuten Ihnen die antiken Dramen?
"Es ist der Beginn von Theater, bis heute real, weil die Tragödien nie aufhören." / "Meine Wahrheit , jeder hat seine eigene Wahrheit, jeder will seine eigene Wahrheit sagen." / "Für mich bedeutet antikes Theater, dass die eigene Stimme laut wird, trotz der Zikaden."

Antikes Theater und demokratische Regierungsformen

Die Theaterwissenschaftlerin Giorgina Kakoudaki hat vor drei Jahren das "Lyceum" ins Leben gerufen. Für sie sind antikes Theater und die Entwicklung demokratischer Regierungsformen untrennbar miteinander verbunden, weil Chor und Schauspieler ihre jeweils eigenen Überzeugung vertreten.
Mit Hilfe der antiken Theatertechniken, den eigenen Ausdruck zu finden, darum geht es in den Workshops des "Lyceums" am Nachmittag in der Gemeindeschule im Nachbardorf. In einem Klassenzimmer geht es um die Rolle des "Boten" , des "Zeugen" im antiken Drama.
Die Teilnehmer wandern durch den Raum, suchen sich ihre Zuhörer. Eine junge Frau erzählt von ihrer Flucht über das Mittelmeer. Eine andere verzichtet ganz auf Sprache. Das, was sie erlebt hat, erzählt nur ihr verzweifelter Blick.
Theater als kollektive Erfahrung. Dass die antiken Dramen eine zentrale Rolle bei der Erfindung des großen Kollektivs namens griechische Nation im 19. Jahrhundert spielten, daran erinnern die Vorträge am Abend.
"Wenn Sie von Griechenland als 'erfundene Nation' sprechen, werden Ihnen eine Menge Griechen widersprechen. Aber ich bin Ihrer Meinung. Auch das antike Drama wurde im 19. Jahrhundert 'wieder erfunden' von den deutschen Romantikern – von Hölderin, Goethe , Hoffmannsthal."

Über den Mythos der griechischen Nation

Die von den deutschen und britischen "Philhellenen", Griechenfreunden wiederentdeckten antiken Dramen wurden Teil des Mythos der griechischen Nation als direkte Erbin des klassischen Griechenlands im heroischen Freiheitskampf gegen die Osmanen. Bis heute wirkt diese Lesart nach; etwa wenn Zuschauer vor ein paar Wochen im antiken Theater von Epidaurus lautstark protestieren, weil in der Ödipus-Inszenierung von Bob Wilson Angela Winkler an einer Stelle ihren Text auf Deutsch spricht, ohne dass griechisch übertitelt wird.
Wem gehören die griechischen Dramen? Im "Lyceum" geben die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst die Antwort - im antiken Stadion mit ihrem "Kommos"-Klagelied. Zum Finale tanzen dann alle wild durcheinander, zu zweit in Gruppen. Pascal, der Schauspielschüler aus Athen stolziert in Stöckelschuhen über den sandigen Boden.
"Das ist ein Beispiel von uns, der jungen Generation, dass wir Träume haben und unsere eigene Geschichte erzählen. Wir brauchen einen Platz für uns und der Platz ist nicht mehr hier."
Mit einer Ausnahme: Epidaurus an diesem Morgen - wo junge Theatermacher und Theatermacherinnen gerade das antike Theater für sich als utopischen Ort wiedererfunden haben.
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