Enzyklopädie zum Möbeldesign

Möbel als Spiegel der Gesellschaft

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Ein assymetrische und mehrfarbige Regalkonstruktion von Charlotte Perriand (ohne Titel / Bibliothèque Tunisie) aus dem Jahr 1952.
Charlotte Perriand, ohne Titel / Bibliothèque Tunisie (1952). © © Vitra Design Museum, Foto: Jürgen Hans, © VG Bild-Kunst Bonn 2019
Mateo Kries im Gespräch mit Andrea Gerk · 28.10.2019
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Nach 20 Jahren Forschungsarbeit erscheint ein Grundlagenwerk zum modernen Möbeldesign. Es umfasst die bedeutendsten Werke und dokumentiert die Designgeschichte. Mateo Kries, Direktor des Vitra Design Museums, erläutert die Idee dahinter.
Der tausendseitige "Atlas des Möbeldesigns", der am 1. November erscheint, dokumentiert Werke von über 540 Designern der letzten 230 Jahre und enthält ausführliche Essays zum soziokulturellen und geschichtlichen Kontext des modernen Möbeldesigns.
Dessen Ausgangspunkt falle zusammen mit der Industrialisierung Europas im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, sagt Mateo Kries, Direktor des Vitra Design Museums in Weil am Rhein, und Mitherausgeber:
"Auch im Möbeldesign war es so, dass Objekte zuvor vor allem von Handwerkern hergestellt wurden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts begann man dann, Möbel im industriellen Maßstab herzustellen. Das ist eigentlich der Anfangspunkt des modernen Möbeldesigns und auch der Anfangspunkt unserer eigenen Museumssammlung."

Die vier Epochen der Möbeldesigngeschichte

Das Buch habe man in vier Epochen unterteilt. Vier historische Zäsuren hätten dabei geholfen, das Buch zu strukturieren: Die erste Epoche sei, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1914, als frühe Phase des modernen Designs zu begreifen, die zweite Epoche ginge von 1914 bis 1939 (Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit mit der klassischen Avantgarde und dem Bauhaus), die dritte Epoche umfasse den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit bis 1973 (Pop-Art und Kunststoffe).
Der Atlas des Möbeldesigns steht aufrecht auf einer weißen Fläche. Das Buch ist geschlossen.
Der Atlas des Möbeldesigns erscheint am 1. November 2019.© © Vitra Design Museum, Grafik: Kobi Benezri Studio
Diese Zäsur könne erstmal seltsam klingen, so Kries. "Aber es ist das Jahr der Erdölkrise in dem man ganz abrupt sehen kann, wie die Begeisterung für die bunten, poppigen Kunststoffmöbel abnimmt."
Die vierte Epoche von 1973 bis heute decke dann die Ära der Postmoderne und des Designs der Gegenwart ab.

Möbelgeschichte ist Gesellschaftsgeschichte

Ein Ziel des Buches sei, dass der Leser mit anderen Augen auf die heutige Umwelt schaue. "Dass wir merken: Jedes Objekt, und eben auch das Möbel, hat seine eigene kulturelle Geschichte. In Möbeln sind ganz viele Entwicklungen der letzten Jahrhunderte abgelagert. Und das Möbel hat eine Bedeutung als Indikator von gesellschaftlichen Zuständen. So wie die Gesellschaften verfasst sind, so spiegeln das auch die Möbel, mit denen wir uns einrichten, und schlussendlich zeigen Möbel auch den technologischen und industriellen Fortschritt einer Zeit."
Damit sage der Atlas auch etwas über die letzten 200 Jahre Sozial- und Gesellschaftsgeschichte aus. Die Bezüge zu den gesellschaftlichen Situationen in den jeweiligen Epochen seien im Atlas immer hergestellt, betont Kries.
Ein Sideboard von Fritz Haller und Paul Schärer, vom USM Möbelbausystem Haller, aus dem Jahr 1964.
Auch dieses Sideboard von Fritz Haller und Paul Schärer, USM Möbelbausystem Haller (1964) ist im Atlas des Möbeldesigns verzeichnet.© © Vitra Design Museum, Foto: Jürgen Hans
Die Auseinandersetzung mit Design geschehe immer noch zu häufig auf oberflächliche Weise. "Wir haben bei unseren Recherchearbeiten im Museum immer wieder gemerkt, dass eine fundierte Literatur über ganz viele Stücke fehlt."
Es gebe zwar viele Bücher über Designer und Möbeldesign, aber kaum Bücher, die neue Erkenntnisse und Forschungsergebnisse lieferten. "Das wollten wir mit dem 'Atlas' ändern. Wir wollten eine neue Forschungsgrundlage schaffen, um zu zeigen: Auch das Gebiet des Möbeldesigns ist eines – wie die Bildende Kunst, wie die Architekturgeschichte – bei dem man sich seriös mit den Fakten beschäftigen muss. Wir haben viele Jahre gebraucht, um das alles zusammenzutragen, und ich denke, es hat sich gelohnt."
(rja)
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