Enzephalopathie

Obstwahn statt BSE

Ein Papaya-Baum der Sorte "Carica" mit reifen Früchten auf einer Plantage auf Kuba.
Vergiftung durch exotische Früchte? © picture-alliance / dpa / Scholz
Von Udo Pollmer · 21.07.2017
Vergessen sind die Zeiten, da BSE die Titelseiten beherrschten. Ähnliche Krankheitssymptome können auch durch den Verzehr von unreifem Obst auftreten. Dieser Obstwahn sei gefährlicher als Rinderwahn, meint Udo Pollmer.
Anfang des Jahres warnten die Medien vor einer "neuen BSE-Krankheitswelle". Anlass war der Fall eines 36-jährigen Briten, der an einer Enzephalopathie verstarb, die mit dem Rinderwahn in Verbindung gebracht wird. Vermutlich hatte er sich als Kleinkind infiziert. Als Ursache dürfen die damaligen Rezepturen von Babykost im Gläschen angenommen werden. Um "chemische Zusatzstoffe" zu vermeiden, nahmen die britischen Hersteller als Emulgator ein Naturprodukt: Kälberhirn. Auch Gemüse-Breichen wurden dadurch sämiger. Deshalb waren unter den BSE-Opfern auch Vegetarier von Kindesbeinen an. Wurst und Fleisch scheiden als Überträger aus, denn dann müssten vor allem ältere Menschen erkranken, die ihr Leben lang reichlich davon gegessen hatten. Aber die blieben verschont.
Beim Rinderwahn handelt es sich um eine Enzephalopathie – ein Sammelbegriff für eine Schädigung des Gehirns. Neben BSE, der Bovinen Spongiformen Enzephalopathie gibt es weitere, die durch Nahrungsmittel verursacht werden. In der indischen Provinz Bihar sterben jedes Jahr Anfang Juni vends gehen sie noch pumperlg‘sund ins Bett, mitten in der Nacht beginnen sie zu schreien, sie bekommen Krämpfe, verlieren das Bewusstsein und verscheiden oft auf dem Weg zum Arzt. Todesursache ist wie beim Rinderwahn eine Enzephalopathie.

Tod durch unreife Litschi

Auffällig ist, dass Gevatter Tod stets zu Beginn der Litschiernte unterwegs ist. Auch aus anderen Anbaugebieten in Vietnam oder Bangladesch werden Todesfälle von Kindern berichtet. Ursache ist nicht etwa ein Pestizid, es sind vielmehr Inhaltsstoffe, die sich vor allem in unreifen Früchten befinden, insbesondere das Hypoglycin und seine chemische Verwandtschaft. Sie sorgen für einen schnellen und lebensbedrohlichen Blutzuckerabfall. Wenn sich die Kinder tagsüber die Bäuche mit Litschis vollgeschlagen haben, dann lassen sie das Abendessen stehen, die lebensrettende Zufuhr von Glucose unterbleibt, in der Folge wird das Gehirn stark geschädigt.
Inzwischen werden die Eltern angewiesen, den Litschikonsum zu begrenzen, den Kindern während der Erntezeit stets ein Abendessen zu verabfolgen und im Vergiftungsfalle sofort Zucker zu geben. Die Zahl der Todesfälle ist dadurch spürbar gesunken. Dennoch fordern Litschis immer noch viele Opfer.
Diese unterzuckernden Gifte sind auch in anderen Südfrüchten vertreten wie der Rambutan und der Longane, die wie die Litschi allesamt Seifenbaumgewächse sind. Ein weiterer Vertreter dieser Pflanzenfamilie wächst in Westafrika und der Karibik: die Akeefrucht. Auf Jamaica ist sie ein Grundnahrungsmittel. Auch dort fordert ihr Gehalt an Hypoglycin Opfer, wenn auch viel weniger. Denn auf Jamaica wissen die Menschen, dass Akee niemals unreif gegessen werden darf; erst wenn sie vollreif ist, wird sie konsumiert, - oft gekocht, das Kochwasser mit dem restlichen Gift wird weggeschüttet. Mit Früchten ist nun mal nicht zu spaßen.

Zucker gegen die Vergiftung hilft

In Westafrika hingegen sind Todesfälle bei Kindern häufiger, insbesondere bei Missernten. Wenn es an Breikost mangelt, die dort gern gezuckert wird, dann gibt‘s eben Akeefrüchte. Doch ohne Beikost können diese für Kinder tödlich sein. Zudem summiert sich bei mehrfachem Konsum die Giftwirkung.
Bitte keine Ausreden: Natürlich könnten dort wo Mangel herrscht, seltsame Dinge passieren, aber in unserer Welt der Überernährung sei das keine Gefahr". Irrtum: Bei uns gibt es Ernährungsmarotten ohne Zahl. Für eine bedrohliche Hypoglykämie nach einer Litschidiät – ja so etwas gibt es wirklich - genügt es, das Abendessen ausfallen zu lassen – in der Narrenzunft der Bewusstesser Menü-Skipping genannt. Andere versuchen, Kinder durch kalorische Verknappung zu entfetten – doch es ist biologisch egal, ob durch Missernte Not herrscht, oder ein Kind auf kalorienarme Kost gesetzt wird – Hunger bleibt Hunger.
Ob eine Enzephalopathie dem Rinderwahn zu verdanken ist, oder einer Vergiftung durch exotische Früchte, macht letztlich keinen Unterschied. Nur ist der Tod durch eine Frucht-Enzephalopathie auf dieser Welt weit häufiger. Mahlzeit!
Literatur
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