Entwicklungsblockade durch Diglossie

Rezensiert von Abdul-Ahmad Rashid · 13.12.2005
Die arabische Welt gilt in politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht als unterentwickelt. Während viele Araber dafür den Westen verantwortlich machen, führt der Historiker Dan Diner in seinem Buch "Versiegelte Zeit" den Stillstand in der islamischen Welt auf das Phänomen der Diglossie, dem Nebeneinander zweier Varianten derselben Sprache, zurück.
Als im Jahre 2002 der erste "Bericht zur menschlichen Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten" veröffentlicht wurde, versteckte sich darin eine Besonderheit. Denn der von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebene und von arabischen Wissenschaftlern verfasste Bericht analysierte zum ersten Mal selbstkritisch die Lage der arabischen Welt in Bezug auf Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Und brachte dabei eklatante Schwächen in allen Bereichen zutage. Auf die Ergebnisse dieses Berichts bezieht sich der Leipziger Historiker Dan Diner in seinem Buch "Versiegelte Zeit". So möchte er von Beginn an die oft verbreitete Behauptung zurückweisen, dass vor allem der Westen an den Problemen in der arabischen Welt Schuld sei.

"So werden die Gebrechen der arabischen Gemeinwesen vornehmlich, wenn nicht ausschließlich als von außen verursacht interpretiert – verursacht von gegen die arabische Nation in Gang gesetzten Ränken, Kabalen, Verschwörungen und anderen Machenschaften des Imperialismus."

Für Diner stehen die arabischen Länder vor allem selber ihrer eigenen Entwicklung im Wege. Er versucht in seinem Buch, eine Antwort auf die Frage zu finden, was diese Entwicklung gehemmt und behindert hat. Diner macht besonders das in der arabischen Welt existierende Phänomen der Diglossie, dem Nebeneinander zweier Varianten derselben Sprache, dafür verantwortlich.

"Was macht den Unterschied zwischen diesen arabischen Sprachvarianten aus? Der Unterschied liegt vornehmlich in der Flexibilität des Gebrauchs. Während die Umgangssprache ein geschmeidiges Ausdrucksmittel für alle Belange des täglichen Lebens ist, ist die Hochsprache, die der Verschriftlichung dient und vom Volk kaum beherrscht wird, in ihrer strikten Regelhaftigkeit weniger beweglich."

Konkret heißt das, dass die Menschen in den arabischen Ländern eine je nach Land geprägte Umgangssprache sprechen. Doch wer in der arabischen Welt ein Buch lesen möchte, muss die arabische Hochsprache beherrschen. Diese muss jedoch zunächst wie eine Fremdsprache erlernt werden. Das Verhältnis eines Arabers zu dieser Hochsprache ist dabei vergleichbar mit dem eines Italieners, Spaniers oder Franzosen zur lateinischen Sprache. Die grammatischen Strukturen des Hocharabischen, die völlig abweichend von der gesprochenen Sprache sind, werden seit dem 8. Jahrhundert unverändert weitergegeben. Dabei sind es vor allem die religiösen Gelehrten, die sich als Bewahrer der arabischen Hochsprache fühlen. Denn die Regeln der arabischen Grammatik leiten sich direkt aus dem Koran ab. Und so sehen die Gelehrten einen Angriff auf die Sprache gleichzeitig auch als einen Angriff auf die Religion. Die Sprache als Träger der religiösen Offenbarung erfährt also eine dogmatische Überhöhung.

"Die Ehrfurcht vor der Hochsprache beginnt im frühen Kindesalter. Sie erfolgt parallel zum Erlernen der Umgangssprache. Und sie erfolgt über die allgegenwärtig vernehmlichen Laute des Sakralen, den eindringlichen Klang des adhan, den Aufruf zum Gebet, die vertraute Intonation der Koranrezitation – ob sie nun über das Radio, mittels des Abspielens von Tonträgern oder in der nachbarschaftlichen Wirklichkeit des heimischen Stadtviertels vernommen wird. Diese Laute wird das Kind in seinem Herzen einschließen. Sie sind der Ursprung, von dem aus sich das Sakrale in alle anderen Bereiche verlängert, vor allem in die Hochsprache."

Dieser sakrale Faktor hindere die Entwicklung, so Dan Diner in seinem Buch. Denn durch Sprache werde in erster Linie Wissen weitergegeben. Wenn sich die Sprache nicht ändere, gerate die Gesellschaft in Rückstand. Als ein Beispiel für eine positive Entwicklung führt Diner das Beispiel der Türkei an: Hier wurde 1928 das arabische Alphabet abgeschafft und die türkische Sprache fortan mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Die arabische Sprache wird seitdem nur noch als Liturgiesprache gebraucht. Durch diese bewusste Anordnung in einen sakralen und einen profanen Teil sei der Weg frei gewesen für den Prozess der Säkularisierung. Einen weiteren Grund für die Entwicklungsblockade in der arabischen Welt sieht Dan Diner in der im Vergleich zum Westen erheblich verspäteten Einführung des Buchdrucks, die in Europa zudem mit dem Rückgang des Lateinischen als Gelehrtensprache zusammenfiel.

"Und der Buchdruck ist eines der ganz revolutionären Ereignisse. Hier wird sozusagen die Schrift und damit das Wissen, das mit der Schrift einhergeht, vermasst, genau in diesen … Volkssprachen. Die Menschen können jetzt dann Deutsch und Italienisch und was immer lesen und können an der sakralen Sprache, am Lateinischen, vorbei lesen."

Im osmanischen Reich erfolgte die Einführung des Buchdrucks dagegen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Für Dan Diner einer der Gründe, warum der Orient im Vergleich zum Westen enorm ins Hintertreffen geriet. Dan Diners Buch "Versiegelte Zeit – Über den Stillstand in der islamischen Welt" bietet überzeugende und wissenschaftlich fundierte Antworten auf die aufgrund der jüngsten politischen Ereignisse oft gestellte Frage, warum es in der arabischen Welt bis heute nicht zu einer Säkularisierung im Sinne der westlichen Aufklärung gekommen ist. Für ein populärwissenschaftliches Buch, von dem man eine gewisse Allgemeinverständlichkeit erwartet, ist es allerdings recht kompliziert geschrieben und mit vielen, oftmals unnötigen Fremdwörtern gespickt. Es wäre schön gewesen, hätte der Autor sich seine These, dass eine komplizierte Sprache Wissensvermittlung erschwert, auch für sein eigenes Werk zu Eigen gemacht.


Dan Diner: Versiegelte Zeit – Über den Stillstand in der islamischen Welt
Propyläen Verlag, Berlin 2005
Gebunden, 287 Seiten, 22,00 Euro