Entspannter Umgang mit deutscher Kultur

Von Kathrin Hondl |
Er soll den Franzosen erklären, wie die Germanen funktionieren: der "Dictionnaire du monde germanique", übersetzt "Lexikon der germanischen Welt". Von A wie Abitur bis Z wie Stefan Zweig listet der Wissenswälzer alles Wichtige über Deutschland und seine Bewohner auf.
Über 1300 Seiten lang und geschätzte viereinhalb Kilo schwer ist dieses "Lexikon der germanischen Welt" - ein Buchtitel, der auf deutsch nur in Anführungszeichen zu ertragen ist, so unvermeidlich drängen sich da bizarre Bilder auf von - bestenfalls - Barbaren, Runen oder Haufendörfern. Und insofern ist "le monde germanique" genau genommen erst einmal eine französische Welt. Michel Espagne, Germanist an der Ecole Normale supérieure in Paris und einer der Herausgeber des Lexikons:

"Wenn ich ’Dictionnaire du monde germaniqu’ ins Deutsche übersetzen sollte, dann würde ich eher sagen: ’Lexikon der deutschsprachigen Welt’. ’Monde germanique’ kann es nur im Französischen geben. Das bezeichnet auf Französisch ganz einfach den deutschen Sprachraum, und kein Mensch denkt dabei an Arminius."

Arminius - der eingedeutschte Hermann - taucht laut Namensregister tatsächlich auch nur insgesamt drei Mal auf in diesem Lexikon also nicht der germanischen, sondern der deutschsprachigen Welt. Eine Kultur-Welt, die weit über die Staatsgrenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz hinausreicht: Genauso oft wie der antike Hermann findet zum Beispiel das amerikanische Hollywood Erwähnung:

"Es ist klar, dass Amerika auch ein Stück Deutschland ist. Und um dies dem Leser nahezubringen, haben wir uns ein Moment der amerikanischen Geschichte, der Kulturgeschichte ausgesucht, das das zeigen, beweisen kann, und das beste Beispiel in unseren Augen aus der Kulturindustrie war gerade Hollywood, denn der amerikanische Film hätte nicht dieselbe Bedeutung, wenn nicht Leute aus Nazi-Deutschland nach Amerika gegangen wären und dort die Tradition des expressionistischen Films fortgesetzt hätten. Also, für uns war Hollywood sozusagen eine Fortsetzung der deutschen Kulturwelt, wenn Sie wollen, der germanischen Welt, warum nicht."

Dieser unvoreingenommene, manchmal überraschende aber immer sehr entspannte Umgang mit deutscher Kultur und Geschichte ist ein Novum, gerade in Frankreich. Noch vor zwanzig Jahren, sagen die Herausgeber des Lexikons, wäre ein solches Projekt unvorstellbar gewesen. Erst eine jüngere Generation von Wissenschaftlern, ausgebildet in den siebziger und achtziger Jahren, habe sich von "Pathos" der unmittelbaren Nachkriegszeit befreit. Und vom sogenannten "Pickelhaube"-Syndrom: dem ausschließlichen Fokus auf die Weltkriege und besonders den Nationalsozialismus:

"Die Verbindung von deutschem Sprachraum und Pickelhaube ist natürlich sehr lange lebendig geblieben in Frankreich, und ich befürchte übrigens, dass es noch eine gewisse Arbeit zu leisten gibt in dieser Hinsicht. Wenn man sieht beispielsweise, dass die meisten Publikationen, die sich auf Deutschland beziehen, irgendwie mit dem Dritten Reich zu tun haben, dass es sehr schwierig ist, etwa ein Buch über die deutsche Aufklärung in Frankreich zu publizieren. Weil es kein Interesse gibt oder der Erwartungshorizont der Franzosen immer noch mit den dreißiger, vierziger Jahren verknüpft ist."

Michel Espagne ärgert sich darüber, dass die französischen Zeitungen ihre Rezensionen des "Dictionnaire du monde germanique" ausnahmslos mit Besprechungen von Büchern über die Zeit des Nationalsozialismus kombinierten.
Selbstverständlich behandelt auch das Lexikon das Dritte Reich und die Vernichtung der europäischen Juden ausführlich, aber eben nicht allein. Den Umschlag zieren Fotos von Kafka, Marlene Dietrich oder Einstein, nicht etwa Hitler.

"Man darf natürlich in keinem Fall vergessen, dass es Auschwitz oder Dachau gegeben hat, aber dass es Mendelsohn oder Heinrich Heine, Ludwig Börne gegeben hat, darf auch nicht unterschätzt werden, und das ist eher der Fall, muss ich sagen, in der Rezeption Deutschlands in Europa zurzeit."

Michel Espagne geht es nicht darum, so etwas wie eine kulturelle Identität Deutschlands oder des deutschsprachigen Raums zu konstruieren. Im Gegenteil: Der "Dictionnaire du monde germanique" versucht vielmehr eine Dekonstruktion der kulturellen Identität. Immer wieder wird auf Querverbindungen, auf kulturelle Im- und Exporte aufmerksam gemacht. So ist zum Beispiel ein ausführlicher Artikel dem in Deutschland kaum bekannten Philosophen Karl Christian Friedrich Krause gewidmet.

"Wenn ein Philosoph der schellingschen Schule wie Krause sich in Spanien etabliert und dort als Gründer der spanischen Geisteswissenschaften gilt, es gibt in Spanien eine Schule, die heißt ’Krausismo’ und wird als der Inbegriff der spanischen Philosophie betrachtet, da sieht man wie die spanische Identität so ein Stück Deutschland übernommen hat, um sich selbst zu definieren."

Rund 900 Namen und Begriffe erläutert das Lexikon - darunter auch weniger exportfähige deutsche Kulturgüter. "Heimat" zum Beispiel oder - für Franzosen besonders schwer begreiflich: der, den Deutschen so wichtige, Bildungsbegriff.
Michel Espagne:

"Bildung ist eben ein Versuch, sich gegen die französische Ausbildung zu profilieren und eine Form der menschlichen Entwicklung vorzuschlagen, die eine Entwicklung von sich heraus voraussetzte, im Vergleich zu der rein äußerlichen Kulturentwicklung der Franzosen. Aber das ist natürlich ein ideologisches Konstrukt vom Anfang bis zum Ende."

Deutsche "Bildung" und "Heimat" werden im "Dictionnaire du monde germanique" sorgfältig unter die Lupe genommen, und zwar ohne dem Mythos von einem wie auch immer gearteten deutschen Wesen zu erliegen. Nur so ist es auch zu erklären, dass ein weiteres, wie man meinen könnte, urdeutsches Stichwort im Lexikon fehlt: die "Gemütlichkeit". Aber was das ist, sagt Michel Espagne, müsse man den Franzosen nicht erklären.

"Wissen Sie, ich habe sehr oft den Eindruck gehabt, dass es in der tiefen französischen Provinz Erlebnisse gibt, die mehr oder weniger der deutschen Gemütlichkeit entsprechen. Und ich glaube, es wäre etwas gefährlich, zu oft mit diesen Termini zu spielen, von denen man sagt, sie seien so typisch für die deutsche Seele. Also, Gemütlichkeit kennt man in Frankreich auch."