Entschuldigungen und Rechtfertigungen

Von Wolfgang Sofsky |
Seit ein, zwei Jahrzehnten hat sich in der Politik ein seltsamer Brauch entwickelt. Nach einer törichten Rede, einem unkorrekten Vergleich oder einer historischen Lüge wird der Missetäter aufgefordert, sich in aller Form zu entschuldigen. Meist reagiert der Angeklagte mürrisch, weiß von nichts, redet sich heraus, bis die Aufmerksamkeit schwindet oder ein Machtwort ihn zu tätiger Reue zwingt. So eingespielt ist dieses politische Menuett mittlerweile, dass niemandem mehr auffällt, wie deplaziert moralische Tänze auf dem Parkett der Macht sind.
Es gibt zwei Hauptverfahren der Selbstkorrektur: die Rechtfertigung und die Entschuldigung. Beide dienen sie dazu, Verantwortung rasch los zu werden. Rechtfertigungen entlasten den Übeltäter vollständig. Entweder leugnet er den Schaden oder er streitet einfach ab, dass der fragliche Vorfall jemals stattgefunden hat. Der eine gibt die monierte Tat zwar zu, behauptet jedoch, damals sei alles in ganz anderem Lichte zu sehen gewesen als heute. Der andere beruft sich auf mildernde Umstände oder Schicksalsschläge. Der Dritte nimmt kein einziges Wort zurück, beklagt aber dafür das Missverständnis, das bei empfindlichen Zeitgenossen entstanden sei. Nicht der Urheber, so die Logik, die anderen hätten den Eklat zu verantworten.

Wendige Ausreden sind weithin verbreitet. Kleinkinder benutzen sie gegenüber ihren Eltern oder Lehrern, Verkehrssünder gegenüber der Polizei, Attentäter vor Gericht, Ministerpräsidenten vor der Öffentlichkeit und Staatschefs auf internationalen Konferenzen. Nicht nur die lässlichen Sünden des Alltags werden so aus der Welt geschafft. Auch bei großen Verbrechen wie Massenvertreibungen, Diktaturen, Kriegen oder Völkermorden versucht man es zuerst mit Rechtfertigungen. Das Ereignis wird schlichtweg abgestritten, nachträglich zum bedauerlichen Unglücksfall erklärt oder als unvermeidliche nationale Schutzmaßnahme deklariert. Gerne schiebt man die Verantwortung einem Sündenbock oder fiktiven Feind in die Schuhe, beruft sich auf höhere Weisung oder tauft die Täter kurzerhand zu Opfern um. Die nachträgliche Umschreibung der Geschichte gehört zu den beliebtesten Beschäftigungen der Nationen. Um das Vetorecht der Tatsachen kümmert sich die Legende nie.

Entschuldigungen sind nicht ganz so leichtfertig zu handhaben. Bei einer Entschuldigung spaltet sich ein Individuum in zwei Teile. Der eine Teil hat sich des Vergehens schuldig gemacht, während sich der andere von dem Delikt distanziert. Der Reumütige zeigt sich verwirrt, gibt sich bekümmert, hadert mit sich selbst. Er ergreift Partei gegen sich, tut Buße und hofft auf den Freispruch der anderen. Die Spaltung des Selbst hat keinen anderen Zweck, als die Verantwortung abzuspalten und den bösen Anteil aus der moralischen Gemeinschaft zu verbannen. Wer sich rechtfertigt, beharrt auf seinem Standpunkt. Er bleibt ganz er selbst. Wer sich entschuldigt, behandelt den Vorfall hingegen als persönliche Schuldsache. Er stellt sich auf die Seite der Anklage und spekuliert darauf, alsbald wieder in den Kreis der Gerechten aufgenommen zu werden.

Selbstkritik durch Entschuldigung ist ein ebenso elegantes wie wohlfeiles Verfahren. Nur Starrköpfe und Menschen von Ehre verwechseln Entschuldigungen mit Bußgängen oder Reueschwüren. In Wahrheit kosten Entschuldigungen nicht mehr, als über den eigenen Schatten zu springen. In der Ökonomie der Verantwortung bieten sie das weitaus beste Preis-Leistungs-Verhältnis. Sie verschieben die Aufmerksamkeit von den Tatsachen auf die Rhetorik der Zeichen und Symbole. Teure Entschädigungen, empfindliche Strafen, fortgesetzte Haft bleiben dem Täter erspart. Frühzeitige Entschuldigungen machen die Anklage sogar arbeitslos. Und manchmal gerät eine Selbstkritik so übertrieben, dass sich die Gegenseite genötigt sieht, der peinlichen Selbstherabsetzung ein Ende zu machen und dem Zerknirschten wieder aufzuhelfen.

Selbstkritik bedarf der Anerkennung, um sozial und politisch wirksam zu werden. Das Urteil über eine Entschuldigung steht allein der Partei zu, die den Schaden erlitten hat: den Opfern. Sind diese zufrieden gestellt, ist die Schuld getilgt. Es liegt allein in der Macht des Opfers, die Absolution zu erteilen. Und nur dem Opfer kommt es zu, eine Entschuldigung anzunehmen oder als halbherzig zurückzuweisen. Weder Verwandte noch Bekannte, weder Verbände noch selbsternannte Alarmrufer und Tugendwächter haben das Recht, eine Entschuldigung zu akzeptieren. Sie sind nur Zuschauer. Alles andere ist pure Anmaßung.

Nicht nur vor Gericht, auch in der Politik sind Entschuldigungen meist unangebracht. Sie behandeln kollektive Tatbestände von nationaler Bedeutung wie eine persönliche Angelegenheit. Regelmäßig verharmlosen sie die Tatsachen, indem sie sie in einen moralischen Fall umdeuten, um ihn unter dem fadenscheinigen Mantel der Versöhnung verschwinden zu lassen. Für Mord, Totschlag, Vertreibung, Massaker, Sklaverei oder Krieg gibt es keine Entschuldigung. Sie ist vollkommen unangemessen. Denn sie steht in keinem Verhältnis zum wirklichen Schaden. Die Toten können die Entschuldigung ohnehin nicht mehr annehmen, und den Überlebenden steht es nicht zu, an deren Stelle zu urteilen. Für das Unheil der Geschichte gibt es keine Versöhnung. Man wird sich damit abfinden müssen, dass vieles, was Menschen einander antun, weder zu entschuldigen, geschweige denn zu rechtfertigen ist.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".