Entschleunigungs-Coach: "Wir gewinnen Gegenwart und eine Lernchance"

Norbert Lange im Gespräch mit Jörg Degenhardt · 23.12.2010
Entschleunigung habe nichts mit Faulheit zu tun, sondern "mit der richtigen Kombination von Langsamkeit und Schnelligkeit", sagt Norbert Lange. Zu Weihnachten könne man gut damit beginnen, indem man "nicht mehr alle Erwartungen erfüllt".
Jörg Degenhardt: Der Winter hat nicht nur eine kalte, eine unangenehme Seite, er beschert uns auch viele schöne Momente. Nicht umsonst sprechen wir von der weißen Pracht, die glitzert und sauber aussieht, ist sie an manchen Stellen in Deutschland auch gerade am tauen. Und dass es in Schneezeiten nicht immer mit der gewohnten Geschwindigkeit vorwärtsgeht, hat auch sein Gutes, und damit will ich jetzt nicht jene ärgern, die auf Flughäfen, Straßen oder Bahnhöfen festsitzen, aber vielleicht können die dem unfreiwilligen Warten wenigstens noch etwas Positives abgewinnen.

Entschleunigung heißt das Zauberwort, das auch schon ein bisschen ein Modewort geworden ist. Norbert Lange befasst sich von Berufs wegen mit diesem Thema. Er bietet ein Entschleunigungs-Coaching an. Herr Lange, was verstehen Sie eigentlich unter Entschleunigung, schlicht die Rückkehr zur Langsamkeit?

Norbert Lange: Nein! Ich entschleunige mich und das System um mich herum, wenn ich erst wahrnehme und dann handele und schließlich mit weniger Handlung mehr bewirke.

Degenhardt: Das heißt, Entschleunigung hat ganz platt gefragt nichts mit eventueller Faulheit zu tun?

Lange: Überhaupt nicht, sondern mit der richtigen Kombination von Langsamkeit und Schnelligkeit, für die ich eben dieses zuerst Wahrnehmen brauche.

Degenhardt: Aber wie passt das zu einem Berufsalltag, der vor allem geprägt ist von Effektivität und Komplexität?

Lange: Ich erkläre es Ihnen gerne an einem Beispiel von mir gestern, Mittwoch, 22. Dezember, bei mir der höchst beschleunigte Tag im Dezember. Trotzdem habe ich mir Zeit eingerichtet, um meine E-Mails ganz langsam checken zu können. Ganz langsam heißt wirklich, ich habe sogar in den Anhang einer ganz erwarteten normalen Mail mit einer Terminbestätigung geguckt, und siehe da: Da war ein katastrophaler Fehler drin.

Das Führungskräfte-Training Anfang Januar ist für um einen Tag falsch angekündigt, als es seit einem halben Jahr geplant war, eine größtmögliche Katastrophe für einen Führungskräfte-Trainer wie mich. Und dann hatte ich natürlich die Ruhe und Energie, um jetzt ganz schnell – denn 22. Dezember heißt, die Leute sind nur noch heute zu erreichen – in einer viertel Stunde wusste ich, das Seminar ließe sich zurückverlegen, es ist nicht nötig, mein Kollege kann es sich auch einrichten, und das heißt, ich lasse es laufen, um nicht noch mehr Unruhe in das System zu bringen.

Degenhardt: Das heißt, das war gestern bei Ihnen aber auch ein besonderer Tag? Sie leben nicht jeden Tag entschleunigt?

Lange: Doch. Ich sage ja, weil ich entschleunigt auch in einem so hoch beschleunigten Tag lebe, kann ich mir die langsamen Phasen einrichten und habe dann die Kraft, auch ganz schnell zu handeln, wo es nötig ist, und wo es nicht nötig ist, da lasse ich es und sage sogar noch mal, nein, wir drehen das Seminar nicht zurück, damit es sich nicht noch mehr beschleunigt.

Degenhardt: Tut es Ihnen nicht leid um die Zeit, die Sie dabei möglicherweise vergeuden? Oder Sie würden das wahrscheinlich anders definieren und nicht Vergeuden nennen?

Lange: Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Das ist ja so eine Frage von vielen: Was gewinnen wir, wenn wir Zeit verlieren, zum Beispiel, wenn man im Stau feststeckt oder die S-Bahn nicht kommt. Und ich sage, wir gewinnen Gegenwart und eine Lernchance. Ich will das mit der Gegenwart gerne erklären. Die Beschleunigung unserer Zeit führt dazu, dass wir oft mit der Seele nicht da sind, wo unser Körper ist, sondern wir sind entweder bei der nächsten Aufgabe oder an einem anderen Ort, wo eben die nächste Aufgabe auf uns wartet. Und wenn wir auf einmal so gezwungen sind, Zeit zu verlieren, fällt das auf einmal wieder zusammen. Ich bin in dem Auto, oder ich bin auf dem Bahnsteig, und ich bin ganz da, und das ist auch diese sozusagen wunderbare Erfahrung, die man da machen kann.

Degenhardt: Könnte man mit dem Entschleunigen, wenn man es denn ernst meint und das ausprobieren will, könnte man da nicht gerade zu Weihnachten beginnen, oder würden Sie sagen, Weihnachten ist doch eher von Hektik geprägt, obwohl man sich meistens etwas anderes vornimmt?

Lange: Man kann gut zu Weihnachten damit beginnen, indem man zum Beispiel nicht mehr alle Erwartungen erfüllt.

Degenhardt: Das heißt, es gibt eben keinen Gänsebraten und es wird nicht am Abend ein Ritual gepflegt wie der Gang in die Kirche?

Lange: Ja, und jetzt heißt Entschleunigung ja achtsame Bewegung, also nicht einfach aus einer Laune heraus den Gänsebraten streichen, was vielleicht zu einer Katastrophe führt, sondern erst mal wahrnehmen, wie ist denn mein Weihnachtsstress geprägt und was kann ich lassen, um mit mehr Ruhe sogar vielleicht meine Geschenkequalität an anderer Stelle zu erhöhen?

Degenhardt: Das klingt ja alles durchaus nett und angenehm und durchaus auch nachvollziehbar. Man kann sich das vorstellen, Entschleunigung zur Weihnachtszeit. Da hat man Muße, da hat man etwas Ruhe, zumindest sollte man sich das vornehmen. Aber wie kann man dieses Zeitgefühl, diese nach Ihrem Verständnis ja auch Lebensqualität in den Alltag hinüberretten?

Lange: Ja, da habe ich einen schönen Tipp, gerade für Sie in Berlin, wo ja die S-Bahnen im Moment so unregelmäßig fahren. Wenn sie denn wieder regelmäßig fahren, vielleicht im Januar, vielleicht auch wieder im März, lassen Sie mal eine S-Bahn fahren, wenn sie pünktlich gekommen ist, und bleiben Sie 10 Minuten auf dem Bahnsteig stehen und nehmen Sie wahr, was da passiert, was in Ihnen los ist, und dann kommt die nächste S-Bahn und Sie lassen die auch noch mal fahren und bereiten sich dann innerlich vor auf die Hektik, die an Ihrem Beruf oder in Ihrer Familie auf Sie wartet. Und die übernächste S-Bahn nehmen Sie dann, und ich denke, Sie werden ganz anders durch den Tag gehen, als wenn Sie die erste genommen hätten.

Degenhardt: Was sage ich meinem Arbeitgeber, was sage ich möglicherweise den Hörern, die hier am Radio warten und den Sprecher möglicherweise vermissen?

Lange: Genau das ist dann Entschleunigungs-Coaching. Das ist für jeden woanders sinnvoll, diese Löcher in den Zeitstrom, wie ich das nenne, zu machen. Gehen Sie 20 Minuten früher los an so einem Tag. Gehen Sie aber ganz bewusst zur S-Bahn 20 Minuten früher und dann stellen Sie sich hin und lassen Sie sie fahren und eben die zweite auch noch. Dann haben Sie sich sozusagen vorbereitet auf die Entschleunigung.

Degenhardt: Löcher in den Zeitstrom – sagen Sie bitte noch einen Satz dazu, was Sie darunter verstehen.

Jäger: Dieses Innehalten, um wahrzunehmen, was um mich herum und in mir passiert, und in dem Moment nicht handeln, also ich tue nichts außer Wahrnehmen, und das kann ich, wenn ich einen Überblick über meine Zeit habe, an ganz vielen Stellen tun. Natürlich muss ich diesen Überblick über meine Zeit haben, dass nicht Sie Ihren Sendestart um 5 Uhr verpassen. Also vielleicht sollten Sie die Entschleunigung lieber auf dem Rückweg machen und natürlich müssten Sie auch im Blick haben, wie sehr Ihre Familie schon auf Sie wartet, oder ob Sie 20 Minuten haben, wo Sie mal einfach S-Bahnen fahren lassen.

Degenhardt: Der Entschleunigungs-Experte Norbert Lange mit seiner – und das ist gar nicht böse gemeint – Weihnachtsbotschaft. Vielen Dank für ein erhellendes Gespräch im hoffentlich angemessenen Tempo. Vielen Dank, Herr Lange.

Lange: Bitte! Gerne.