Entführungsthriller "Kidnapping Stella"

Der erste deutsche Netflix-Film

09:25 Minuten
Max von der Groeben, Jella Haase und Clemens Schick beim Fotocall der Weltpremiere des Netflix-Films Kidnapping Stella auf dem 37. Filmfest München 2019 im Arri Kino.
Max von der Groeben, Jella Haase und Clemens Schick bei der Weltpremiere des Netflix-Films "Kidnapping Stella". © imago images / Future Image / N. Kolinz
Thomas Sieben im Gespräch mit Susanne Burg · 13.07.2019
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Eigentlich sollte "Kidnapping Stella" in die Kinos. Doch dann meldete sich der Streaming-Dienst Netflix. Für Regisseur Thomas Sieben eine "tolle Chance". Denn der Streifen ist mehr als nur ein Thriller.
Susanne Burg: Wenn es um Netflix geht, gab es in den vergangenen Monaten immer mal wieder den Zusatz: das erste Mal. Zur ersten deutschen Netflix-Serienproduktion gesellt sich jetzt der erste deutsche Netflix-Film. Der heißt "Kidnapping Stella" und ist bei dem Streaming-Portal zu sehen.
"Kidnapping Stella" ist ein Entführungsthriller. Regie geführt hat Thomas Sieben. Ihn habe ich getroffen und zur Zusammenarbeit mit Netflix gefragt, denn immer wieder hört man von Filmemachern, die in letzter Zeit mit Netflix zu tun hatten, dass die Antwort war, "don’t call us, we call you", also wenn was ist, wir melden uns. Deswegen wollte ich von Thomas Sieben wissen, wer hat im Fall von "Kidnapping Stella" denn wen angerufen?
Thomas Sieben: Da muss ich tatsächlich sagen, dass ich da gar nicht so involviert war. Der Film war fertig und eigentlich für einen Kinostart vorgesehen, und ich war nicht so nah dran. Irgendwann habe ich mitbekommen, dass die Option aufging, dass der Film vielleicht komplett zu Netflix ging. Da habe ich sofort gesagt, das ist perfekt für den Film, genau da gehört er hin, weltweit und in einem Genreumfeld, was Netflix bietet. Das war für mich eine ganz tolle Chance, habe ich gesehen. Da habe ich sofort meine Stimme für abgegeben, und so ist es dann auch gekommen.

Ein Genrefilm, der auch ein normaler Film ist

Burg: Sie sagten, im Genreumfeld passt es. Es geht um die beiden Kriminellen Vic und Tom, die Stella entführen, eine Industriellentochter, und Lösegeld vom Vater erpressen wollen. Es klingt erst mal nach Genrefilm. Ist es denn ein reiner Genrefilm aus Ihrer Sicht?
Sieben: Na ja, das ist ein breites Wort, und zum Genre gehören auch Trash-Geschichten, aber auch ganz tolle anspruchsvolle Filme wie "A Quiet Place" oder so in den letzten Jahren, die sowohl eine Spannung erzählen und B-Movie-artig mit Gangstersachen. "Kidnapping Stella" arbeitet mit B-Movie-Gangster-Motiven, Lösegeld, Entführung, Vertrauen, Schuld, Rache – das sind erst mal ganz menschliche Motive –, aber gleichzeitig habe ich natürlich versucht, einen Film zu machen, der auch ein Figurenfilm ist und wo man die Figuren ernst nimmt, auch wenn es alles in einer Welt passiert, die nicht unserer Realität entspricht. Wir sind alle keine Gangster, aber es ging mir schon darum, einen Genrefilm zu machen, der auch als normaler Film standhält, wenn man sich das Genre wegdenkt.
Burg: Die Figurenkonstellation ist interessant. Stella weiß nicht, wie ihr geschieht, sie wird überwältigt, gefesselt, geknebelt, in einen Raum gezerrt, aber ganz so untergeben und hilflos, wie es erst mal scheint, ist sie dann doch nicht. Was hat Sie an dieser Dreiecksbeziehung interessiert?
Sieben: Das ist natürlich eine ganz spannende Aufstellung, wie sie da ist, und an der Figur der Stella, finde ich, das war mir und uns auch immer wichtig, dass sie eben nicht nur eine Opferrolle ist und nicht nur irgendwie das angekettete Mädchen, was gerettet werden muss, sondern dass sie durchaus relativ schnell in dem Film eine eigene Energie und einen eigenen Plan auch entwickelt, der auch nicht immer ganz durchschaubar ist für den Zuschauer und für die Entführer. Ich finde, das ist eine ganz moderne starke Frauenfigur, die super gespielt wurde von Jella Haase, die sehr körperliche Figur, jemand, der auch in die Aktion geht und versucht, den Plan zu sabotieren.
Ansonsten ist die Figurenkonstellation natürlich sehr getragen von diesem klaustrophobischen Setting. Man hat eigentlich eine Wohnung, drei Leute, alle haben eine andere Agenda, keiner weiß so richtig, was der andere wann weiß oder was er ahnt oder was er als nächstes macht. Ich fand das immer so ein bisschen wie so ein Western, wie so ein "12 Uhr mittags" in einer Wohnung, und keiner weiß, wann der andere schießt oder ob er schießt oder ob er zieht und was er dem anderen jetzt vorwirft. Das mit dreidimensionalen Figuren zu unterfüttern hat mich total gereizt und war eine tolle Herausforderung als Regisseur, das zu inszenieren.

Wechselspiel zwischen Szenenbild und Drehbuch

Burg: Das würde mich noch ein bisschen mehr interessieren, weil sie sind eine Stunde in dem Raum oder zumindest in der Wohnung. Diese klaustrophobische Atmosphäre, die vermittelt sich wirklich. Welche dramaturgischen Herausforderungen hat das an Sie gestellt?
Sieben: Zum einen versucht man natürlich im Szenenbild – wir haben die Wohnung, die ist im Studio gebaut worden, da auch mit dem Szenenbildner und dem Kameramann zusammen – eine Wohnung zu finden, die aus jedem Winkel ein bisschen anders aussieht, so dass es nicht immer nur Menschen vor grünen Wänden sind, dass man versteckte Winkel hat, Sachen, die man nicht sieht, sodass man immer wieder spannende und neue Bilder finden kann und überraschen kann, jemand kann um eine Ecke kommen, kann in einem Badezimmer verschwinden.
Man merkt relativ schnell, dass es am spannendsten ist, wenn die Leute sich nicht sehen oder mit dem Rücken zueinander stehen, so wie die ganze Architektur der Wohnung funktioniert, und das zieht sich dann in der Kamera weiter. Also mit welchen Optiken arbeitet man, mit welchen Brennweiten, wann geht man nah, wann geht man weit, wann bewegt sich die Kamera, und wann bewegt sie sich nicht. Im Endeffekt war die Herausforderung, 60 Minuten in Gesichter zu gucken. Das muss aber immer spannend bleiben. Da ist natürlich die Kamera und das Szenenbild sehr wichtig, aber es hilft einfach auch ein Buch, was immer wieder mit neuen Wendungen kommt. Bei einem Theaterstück ändert sich das Bühnenbild vielleicht auch nicht, und es bleibt trotzdem spannend, weil das Stück im besten Fall gut ist. So haben wir das auch gehofft: Dass wir einen Film haben, der von den Figurwendungen und von den Überraschungen, mit denen er spielt, auch in diesem begrenzten Setting immer noch den Ball in der Luft hält und die Spannung erhält.

Langes Proben mit den Schauspielern

Burg: Jella Haase ist dabei den größten Teil ans Bett gefesselt, also immobil. Aber doch irgendwie ganz mobil. Wie haben Sie mit Jella Haase gearbeitet, wenn es um dieses inaktiv und gleichzeitig aktiv in gewissen Situationen geht?
Sieben: Die Arbeit mit den Schauspielern hatte zwei Ebenen: Das eine war, wir haben lange geprobt, zwei Wochen lang sind wir das Buch komplett durchgegangen, haben über jede Szene geredet, sehr verständnismäßig, was sind die Richtungen, was sind die Motivationen, was sind die Momente, auch die man treffen muss, die emotionalen Momente. Es war klar, wenn man dann ans Set geht und in dieses gefesselt sein, geknebelt sein, Sack über dem Kopf, kommen so andere körperliche Dinge noch ins Spiel hinzu.
Darum musste vorher klar sein, wie die Haltungen und die Sichtweisen der Figuren sind und was so die Momente sind. Da haben wir versucht, das abzutrennen und einfach ganz normal am Tisch in einer gemütlichen Atmosphäre einfach diese Figuren zu besprechen, um dann sozusagen in das Unangenehme, Körperliche zu gehen.
Ansonsten war das aber, weiß ich, dass das für Jella sehr intensiv war. Diese körperliche Einschränkung. Die Figur wird dann aktiv und hat verschiedene Dinge, die sie versucht zu benutzen, um sich zu befreien. Ich glaube, dass es im besten Falle sehr spannend ist zu sehen, wie jemand, der eigentlich total in der Opferrolle ist, die nicht akzeptiert und sich versucht, dagegen zu wehren und diese beiden Entführer gegeneinander auszuspielen.

Die tiefsten Ängste im Film durchspielen

Burg: In Ihrem Langfilmdebüt "Distanz" ging es um einen Serienkiller, gespielt von Ken Duken. Was ist es, das Sie an diesen Abgründen oder der latenten Gewalt interessiert?
Sieben: Ich glaube, es ist einfach eine Faszination bei mir mit dem Genre generell und dem Horror und dem Thriller. Das Tolle, was ich daran finde, ist, zum einen ist Genre immer eine Möglichkeit, seine tiefsten Ängste mal zu bearbeiten, verarbeiten, auszuleben und in einem Film sich damit zu befassen, weil wir in einer Gesellschaft leben, wo man eigentlich keine Angst haben darf, nicht im Beruf, nicht als Eltern oder im Alltag. Die Angst ist immer ganz schlecht. Der Genrefilm erlaubt uns das. Zum anderen, und das ist vielleicht die Motivation als Filmemacher, Geschichten zu erzählen – kann man seine schlimmsten oder bösesten Fantasien auch mal spazieren führen und sagen, was wäre das für ein Gefühl, wenn ich – wie bei "Distanz" – einfach ein Gewehr nehme, einfach jemanden abknalle, was würde das mit mir machen.
Das sind, glaube ich, tiefe evolutionspsychologische Dinge, die sehr tief in uns schlummern, aber die Aggressionen sind definitiv da. Das in einen künstlerischen Kontext zu bearbeiten und mich mit den Figuren zu beschäftigen, immer wieder auch in die Recherche zu gehen, wie bei "Distanz", wo ich viel mit Psychiatern gesprochen habe. Bei "Kidnapping Stella" habe ich mich sehr viel mit Opfer von Entführungen und deren Traumatisierung beschäftigt, das in Figuren zu bauen, das ist Forschung am tiefsten Abgrund des Menschseins und damit total spannend.

Ein bisschen wie ein B-Movie

Burg: Sie haben auch in Boston Film und Fotografie studiert. Inwieweit sind Sie in der Hinsicht auch von US-amerikanischen Vorbildern geprägt oder haben dann auch an der Uni noch diesbezüglich besondere Fähigkeiten gelernt?
Sieben: Ich glaube, meine Generation ist da sehr mit dem 80er-Jahre-, 90er-Jahre-Kino aufgewachsen, das ist sehr amerikanisch geprägt gewesen , und auch zu meiner Sozialisierung filmisch, das Genrekino, sind auf jeden Fall die Filme der 70er- und 80er. Also Tobe Hoopers "Texas Chainsaw Massacre", absolutes Meisterwerk, "Das Omen" von '76, "Halloween", diese ganzen Slasher-, Horror-, Thriller-Filme, das ist schon was, das mich total sozialisiert hat.
Boston, Neuengland, das ist auch die Heimat von Stephen King. Das ist jemand, der mich immer wieder in seinen Büchern und auch in seinen Kurzgeschichten sehr beeinflusst hat. Ich hatte immer so ein bisschen das Gefühl bei "Kidnapping Stella", das könnte auch so eine Stephen-King-Kurgeschichte sein, so ein Plan, der schiefgeht, und Leute reiten sich immer tiefer in die Scheiße und kommen nicht raus und haben eine schlechte Idee, die scheitert. Dann haben sie eine noch schlechtere Idee, wie sie damit umgehen. Das ist vielleicht schon so, was mich überhaupt mit diesem Neuengland verbindet und dieser gewissen Stimmung, die eine Stephen-King-Geschichte hätte. Wenn man das irgendwie bei "Kidnapping Stella" sieht, so ein bisschen dieses leichte B-Movie, aber mit guten Figuren, was Stephen King auch immer hat, dass er sehr menschliche Figuren hat, dann freut mich das total.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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