Entführungsgefahr

Die eingesperrten Kinder von Mexiko

Ein Spielplatz in Mexiko
Ein Spielplatz in Mexiko: Kinder sind in dem Land besonders gefährdet. © dpa / picture alliance / Diego Aguilar Caudillo
Von Anne-Katrin Mellmann · 03.11.2015
Jedes Jahr verschwinden in Mexiko tausende Kinder. Sie werden Opfer von Entführungen, Zwangsprostitution und Organhandel. Darum lassen die meisten Eltern ihre Kinder keinen Schritt allein gehen.
Ein seltener Anblick in Mexiko-Stadt: Kinder toben auf einem Spielplatz, ihre Eltern, offensichtlich aus der gehobenen Mittelschicht, sitzen auf Bänken, sehen ihren Kleinen aufmerksam zu oder spielen mit. Selten – denn Spielplätze sind Mangelware in der Millionen-Metropole. Die wenigen, die es gibt, wurden oft lieblos auf dem Mittelstreifen mehrspuriger Schnellstraßen angelegt, inmitten von Lärm und Abgasen. Diesen gepflegten Spielplatz umgibt ein üppig bepflanzter, großer, ruhiger Park. Darum ist Marcelo Ramírez mit seinem zweijährigen Sohn extra aus seinem weit entfernten Wohnviertel hierhergekommen:
"Die Stadt hat gerade erst angefangen, Spielplätze zu bauen. Es gibt viel zu wenige. Dieser hier war einer der ersten. Er hat eine tolle Auswahl an Spielgeräten."
… freut sich der junge Vater, während sein Sohn versucht, die Kletterwand für Kleinkinder zu erklimmen. Spielplatz und Park trennt ein hoher Zaun – zur Sicherheit:
"Hier können sich die Kinder fast so frei bewegen wie früher. Als ich Kind war, durfte ich allein draußen Rad fahren. Heute ist das nicht mehr möglich, wegen der Unsicherheit. Kinder werden entführt, sogar auf solchen Spielplätzen muss man gut aufpassen. Man hört viel davon auf Facebook und Twitter. Es passiert einfach viel. Darum muss man vorbeugen."
Spielplätze wie dieser waren deshalb vor einigen Jahren für besserverdienende Mexikaner noch undenkbar. Indoor war angesagt – entweder zu Hause oder in teuren, klimatisierten Spiellandschaften. Inzwischen versucht Mexiko-Stadt öffentlichen Raum für alle Kinder zurückzuerobern. Trotz der Sicherheitsprobleme, die häufig vor allem Bedenken seien, erklärt die Psychologin Norma Alday.
Das Organisierte Verbrechen macht vor Kindern nicht halt
"Es passiert, dass Kinder ihren Eltern entrissen, entführt werden. Diese Fälle lösen viel Angst und Paranoia bei den Eltern aus. Die Stadt birgt viele Risiken. Wir haben hier sogar einen Alarm, der ausgelöst wird, wenn ein Kind verschwindet. Dann werden Spots im Radio ausgestrahlt: Dieses Kind wurde entführt, mit Namen, Aussehen, Kleidung, die es trug. Dieser Alarm ist etwas sehr Reales. Und verstärkt bei Eltern das Gefühl: Kinder können verloren gehen."
Im sehr kinderfreundlichen Mexiko sind Kinder gefährdet. Im vergangen Jahr sind im ganzen Land nach offiziellen Angaben 3000 Kinder verschwunden. Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen liegen um ein vielfaches höher. Minderjährige können Opfer von Entführungen werden, von Kinderhandel, Zwangsprostitution, Organhandel sogar. Das Organisierte Verbrechen macht auch vor Kindern nicht halt. Darum lässt man sie keinen Schritt allein gehen. Marcelo, der als Programmierer arbeitet, weiß, wie fordernd das Leben mexikanischer Eltern deshalb sein kann:
"Außerhalb unseres Hauses lassen wir unseren Sohn keine Minute aus den Augen. Immer muss er an der Hand gehen. Ich versuche trotz allem, entspannt zu bleiben und nicht immer an das zu denken, was passieren kann."
Jetzt begleitet Marcelo seinen Sohn zum Spielplatz. Wenn er größer ist, wird er ihn zu Freunden bringen, zum Sport und zur Schule. Erst mit etwa 15 Jahren endet die Totalbewachung. Wenn die Jugendlichen am Wochenende anfangen auszugehen, sind die Eltern wieder gefragt: Vor den Nachtclubs bilden sich dann Fahrzeugschlangen mit wartenden Müttern und Vätern. Kindergroßziehen in Mexiko ist ein Vollzeitjob bis zur Volljährigkeit.
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