Entfesselte Kreativität eines Spätpubertierenden

Von Gregor Ziolkowski |
Mit 22 Jahren hatte der flämische Barockmaler Anthonis van Dyck schon fast 200 Gemälde geschaffen. Das Museo del Prado in Madrid hat etliche davon zusammen getragen. Ein verblüffend reifer, lerneifriger, dabei selbstbewusster junger Künstler wird hier präsentiert.
Einen ursächlichen Zusammenhang gibt es mit Sicherheit nicht. Aber wer im krisengeplagten Spanien verständlicherweise in trübe Stimmung verfällt, der könnte derzeit einen Ort aufsuchen, wo sich die Trübnis ganz gewiss aufhellt: Im Museo del Prado wird das Frühwerk von Anthonis van Dyck gezeigt.

Schon beim Betreten der Säle werden einem die Augen groß. Eine wahrlich entfesselte Kreativität ist da zu bestaunen. Vom eher sanft getönten kleinformatigen Porträt bis zur großformatigen, in geradezu grellen unvermischten Farben leuchtenden Bibelszene reicht das Spektrum, etliche Zeichnungen ergänzen dieses anregende, gleichsam Bewegung ausstrahlende Ensemble aus knapp 100 Arbeiten.

Und das alles soll ein Künstler geschaffen haben, als er fast noch ein Spätpubertierender war, zwischen 15 und 22 Jahren? Alejandro Vergara, einer der Kuratoren.

"Das ist in der Tat überraschend, und so haben es viele im Verlauf der Kunstgeschichte empfunden. Dieser Künstler hatte, als er 22 war, fast 200 Gemälde geschaffen, davon viele in großem, manchmal sehr großem Format. Das größte aus dieser Zeit mit dem Titel "Die Ergreifung" können wir hier zeigen. Es sind wirklich sehr viele Bilder in sehr kurzer Zeit. Andere Künstler haben im Verlauf ihres ganzen Lebens nicht so viel gemalt: Bei Vermeer und Patinir, die wir hier auch gezeigt haben, waren es um die 30 Bilder. Velázquez malt etwa 125 Gemälde im Verlauf seiner gesamten Schaffenszeit."

Soviel Arbeitswut könnte man beinahe Besessenheit nennen. Co-Kurator Fris Lammertse vom Boijmans van Beuningen Museum in Rotterdam, sieht in dieser Jugend, in dieser Ungestümheit des Malers, die sich hier dokumentiert, den großen Reiz der Ausstellung:

"Sein Suchen, seine Begierde nach einem eigenen Stil macht sein Frühwerk zu etwas sehr, sehr Persönlichem. Längst nicht alles ist perfekt in dieser Zeit, aber vielleicht hat es gerade deshalb diese eigene Note. Ich würde sogar so weit gehen, dass es womöglich leichter ist, sich mit dem jüngeren van Dyck zu identifizieren als mit dem älteren, der manchmal vielleicht sogar etwas zu perfekt erscheint."

Damit ist freilich nur die eine Seite des jungen van Dyck beschrieben, dieses Suchen nach einem eigenen persönlichen Stil – ein Kriterium im Übrigen, das noch gar nicht so lang in der Welt war in jener Zeit. Nicht allzu viel ist dokumentarisch belegt und gesichert aus diesen frühen Jahren, ein paar Eckdaten, kaum mehr. Die zweite Seite dieses Künstlers als noch sehr junger Mann führt hin zu einem konkreten Namen.

Alles läuft darauf hinaus, dass er ein Schüler des Königs der Malerei in Antwerpen wurde – Peter Paul Rubens. Mit Dokumenten belegt ist diese Zusammenarbeit zwischen Rubens und van Dyck ab dem Jahr 1617, aber sehr wahrscheinlich begann diese Zusammenarbeit früher, bereits 1614 oder 1615. Van Dycks früher Stil ist wohl nur zu verstehen, wenn man dabei Rubens im Blick hat.

In der Tat sind die Bezüge zu Rubens im Werk van Dycks in großer Zahl nachgewiesen. Mal übernahm er ganze Bildkompositionen, mal Elemente aus Gemälden seines Meisters, auch die voluminöse Kraft seiner nackten Figuren lässt auf den Einfluss Rubens' schließen. Der schätzte seinen Schüler ganz offenkundig, mehrfach hob er ihn heraus aus dem Kreis seiner vielen Lehrlinge.

Ein Porträt van Dycks von Rubens' erster Frau lässt dabei auch auf persönliche Nähe schließen. Aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis wurde mehr und mehr eine Kollegenschaft, wenn nicht Freundschaft. Eine Stelle in der Ausstellung führt das ausdrücklich vor: Da sind – neben dem Gemälde "Dornenkrönung Christi" selbst – mehrere Entwurfszeichnungen van Dycks ausgestellt. Ganz offensichtlich verwendete van Dyck für eine der Figuren aus der dargestellten Gruppe aber nicht den eigenen Entwurf, sondern einen – hier ebenfalls als einziges Nicht-van-Dyck-Werk gezeigten – Entwurf von Rubens, der fast zwanzig Jahre zuvor das gleiche Motiv bearbeitet hatte. Aber -

"Während er sich Rubens annähert, will er aber auch seine Persönlichkeit darstellen. Und er macht ganz andere Sachen. Viele Stücke in dieser Ausstellung sind sehr anders als die Arbeiten von Rubens, beinahe Gegenentwürfe zu Rubens, könnte man sagen."

Und so entdeckt man in der Ausstellung allenthalben – bei der farblichen Gestaltung, den Kontrasten oder der höheren Bilddramatik – ebenjene Suche van Dycks nach dem Eigenen, nach der individuellen Gestaltung. Ein verblüffend reifer, lerneifriger, dabei selbstbewusster junger Künstler wird hier präsentiert. Und es ist, als würde durch die ehrwürdigen Säle des Museo del Prado ein frischer Wind aus dem 17. Jahrhundert wehen.