Entfesselte Illusion

Die Autorin Haley Tanner wurde 1982 in New York geboren und lebt heute in Brooklyn. Dort spielt auch ihr erster Roman "Vaclav und Lena". Eindrucksvoll beschreibt sie die reale, bisweilen beschämende Lebenssituation von Kindern im russischen Emigrantenmilieu.
Vaclav will ein großer Zauberer werden. Lena ist seine wichtige Assistentin. In jeder freien Minute studieren die beiden neue Tricks ein. Sie sind zehn und neun Jahre alt: Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion, die im russisch geprägten Brighton Beach in Brooklyn aufwachsen. Die starke gegenseitige Zuneigung und ihr kleiner "amerikanischer Traum" - irgendwann einmal öffentlich mit der Zauberei aufzutreten - werden von einer lieblosen Realität überschattet.

Lena lebt bei ihrer Tante, die offiziell in einem Club arbeitet, sich real aber als Prostituierte verdingt und das Kind vernachlässigt. Vaclav wächst behütet auf, doch seine Eltern führen eine freudlose Existenz in einem Land, das sie lange ersehnt haben und das ihnen dennoch fremd bleibt. Je enger die Freundschaft der Kinder wird, desto mehr kümmert sich Vaclavs Mutter Rasia um die kleine Freundin ihres Sohnes.

Doch als Lena eines Tages verschwindet, schweigt sich die Mutter über deren Verbleib aus. Mehrere Jahre ohne ein Lebenszeichen vergehen. An ihrem 17. Geburtstag ruft Lena plötzlich bei Vaclav an. Auf der Suche nach ihren biografischen Wurzeln kommt wieder "Zauberei" ins Spiel. Vaclav, der große Magier, schenkt Lena durch eine erfundene Geschichte die Illusion, sie habe zumindest am Anfang ihres Lebens ein wunderbares Elternhaus besessen. Seelenheil nach einer traumatischen Kindheit scheint möglich.

Die 29-jährige Haley Tanner hat ein Romandebüt über die magische Kraft der Liebe geschrieben - die ernsthaft und tief geschilderte Zuneigung zwischen Kindern als auch die besorgte Liebe Rasias zu ihrem Sohn Vaclav. Virtuos wechselt die Autorin die Perspektiven, schlüpft einfühlsam in die Gefühlswelt der Figuren. Besonders eindrucksvoll gelingt ihr das auf Augenhöhe der Kinder beziehungsweise Jugendlichen. Ihr langjähriger Job als Nachhilfelehrerin bei russischen Kindern hat Haley Tanner bei der Wahl ihrer Protagonisten inspiriert.

Im Roman werden kindliche Träume, reale Ängste und Abgründe, selbst Lenas Unbehagen in Vaclavs Elternhaus in einer imaginativen Sprache und durch fast surreale Bilder lebendig: "Der Bortsch hat die Farbe von Blut, worin nicht Fleischstücke schwimmen, sondern Leberflecken, die von Rasias Doppel-Doppelkinn abgefallen sind."

Man kann diesen Roman als "immigration novel" mit gemeinhin selten gewählten Hauptpersonen lesen. Die reale, bisweilen beschämende Lebenssituation der Kinder als "Neu-Amerikaner" ist genau und eindrücklich gezeichnet. Zudem zitiert das Buch immer wieder Figuren der Kulturgeschichte, die für den amerikanischen Traum vom Erfolg durch Fleiß und Ausdauer stehen. Genau wie Benjamin Franklin erstellt der zehnjährige Vaclav diverse Listen mit Vorsätzen, die ihn seinem Ziel näher bringen sollen.

Zauberer will er ja gerade deshalb werden, weil er für Harry Houdini schwärmt, den berühmten Entfesselungskünstler. Houdini, 1874 in Budapest geboren und lebenslang in starker Liebe zu seiner Mutter gefangen, traf in den USA - ganz wie Vaclav - seine unverzichtbare Assistentin, die Varietétänzerin Bess Rahner.

Besprochen von Olga Hochweis

Haley Tanner: Vaclav und Lena
aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen
DTV, München 2011,
340 Seiten, 14,90 Euro