Enteignung, Mauerfall, Neuanfang

Der steinige Weg ostdeutscher Familienunternehmer

31:14 Minuten
Eine Nahaufnahme von Tischlerhänden an der Hobelbank, die Holzspäne fliegen durch die Luft.
Harte Arbeit war der Neuaufbau von Familienunternehmen nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. © Getty / The Image Bank
Von Jesko zu Dohna und Marcus Pfeil · 29.09.2020
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Die Unternehmer in Ostdeutschland haben eine lange Leidensgeschichte hinter sich: Zu DDR-Zeiten enteignet, holten viele sich ihre Firmen nach der Deutschen Einheit zurück. Manchen gelang es, ihre Firmen an die Weltspitze zu führen, andere gingen Pleite.
1989, im Jahr des Mauerfalls, galt die Hälfte der Industrieanlagen in der DDR als verschlissen, und es war keineswegs klar, wie sich die Unternehmenslandschaft in den neuen Bundesländern nach 40 Jahren Planwirtschaft entwickeln würde. Viel war nicht übrig von den einst vor dem Zweiten Weltkrieg stolzen Industrie- und Gewerbezentren in Sachsen, Thüringen oder im Osten Berlins.
Mehr als 3000 ostdeutsche Betriebe waren schon unmittelbar nach Kriegsende demontiert und als Reparationszahlung in die Sowjetunion transportiert worden. Bis 1953 wanderten alleine 20.000 Betriebe in den Westen. Unzählige mehr gaben auf oder wurden liquidiert. Audi, Teekanne oder Wella Kosmetik – Familienunternehmen, die wir heute wie selbstständig im Westen verorten, kommen ursprünglich aus dem Osten.
Die wenigen Familienunternehmer, die blieben oder zu DDR-Zeiten eine Unternehmensgründung wagten, blicken zurück auf eine lange Leidensgeschichte voller Ausgrenzung und Drangsalierung. 1972 von der SED enteignet, arbeiteten sie jahrelang als einfache Angestellte im eigenen Betrieb, oft ohne Hoffnung, je wieder Eigentümer ihrer Unternehmen zu werden.
Erst im Zuge des Einigungsprozesses holten sie sich ihre Firmen zurück. Mutige Arbeiter kauften selbst ihre Kombinate von der Treuhand, und manche Ausländer gründeten im Osten neu. Viele waren erfolgreich, einige scheiterten. Dies ist ihre Geschichte.

Die Firma Gewes – ein Hidden Champion

Funken fliegen, es riecht nach gewalztem Stahl. Stolz führt Martin Röder durch seine riesige Gelenkwellenfabrik in Stadtilm im Thüringer Wald.
"Die Maschinen waren tatsächlich fast alle Schrott. Aber die Kompetenz der Leute war da. Und es war ja auch ursprünglich ein Betrieb von Rheinmetall. Da sind ja die Wurzeln. Insgesamt sind hier ungefähr 140 Millionen Euro investiert worden."

Heute, fast 30 Jahre nach dem Mauerfall, ist der kleine untersetzte Mann mit dem gelben Hemd und dem freundlichen Lächeln Herr über 350 Mitarbeiter. Derzeit macht er mit seiner Firma Gewes fast 52 Millionen Euro Umsatz, die Gewinnmargen liegen im zweistelligen Prozentbereich.
Unternehmer Martin Röder
Die Treuhand traute ihm als Ossi den Kauf damals nicht zu: Heute ist Martin Röders Gewes bei Schiffsantrieben Weltmarktführer.© Deutschlandradio / Stiftung Familienunternehmen / Florian Büttner
Die Gelenkwellen der Firma werden heute an 500 Kunden in 48 Länder geliefert. Sie stecken in Traktoren und LKWs und in den Zügen der chinesischen Staatsbahn. Bei Schiffsantrieben ist der Thüringer Mittelständler Weltmarktführer. Ein Hidden Champion, wie die Ökonomen dazu sagen.

Eine Geschichte von unbändigem Willen

1994 kauft Röder als einer von ganz wenigen DDR-Bürgern auf eigene Faust einen großen Industriebetrieb von der Treuhand. Der gehören im Sommer 1990 in den neuen Bundesländern Zehntausende Unternehmen und Ländereien und Immobilien von der 17-fachen Größe Mallorcas. Mit rund vier Millionen Angestellten.
"Es gibt einen alten Spruch von Mao: Nur wer selber brennt, kann andere entfachen. Ich habe damals nicht gebrannt, ich hab geglüht. Das war so eine richtige Aufbruchsstimmung und es hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Und man hat die Risiken in der ganzen Tragweite – Gott sei Dank – nicht gesehen."

Später in seinem kleinen Bürogebäude, von dem man einen schönen Blick auf die 1943 errichteten Fabrikhallen des ehemaligen Rüstungsbetriebes hat, erzählt der Bauernsohn, wie er es als DDR-Bürger geschafft hat, den Betrieb zu übernehmen. Dass der Betrieb zunächst 100 potenziellen Käufern angeboten wird. Dass er als nicht privatisierbar gilt. Dass die Firma Gewes zuvor schon Hunderte Facharbeiter entlassen hatte. Wie ihm die Treuhand den Kauf als Ossi damals nicht zutraut. Wie er in letzter Sekunde doch noch den Zuschlag erhält. Es ist eine Geschichte vom Glück des Tüchtigen, von Schlitzohrigkeit und von unbändigem Willen.

"Ich hab ja fast 20 Jahre zu DDR-Zeiten neben meiner Arbeit als Abteilungsleiter Materialwirtschaft eine recht große Champignonzucht gehabt. Ich hab ja das Fünffache meines Jahresgehalts nebenbei mit Champignons noch verdient. Wenn die Wende nicht gekommen wäre, hätte ich mich privat gemacht mit einer Champignonzucht." Doch als er nach der Wende sieht, dass die Pilzzucht in der Marktwirtschaft wenig lukrativ ist, sucht er sich eine neue Herausforderung. Das Gelenkwellenwerk. "Alle Welt hat gleich nach der Wende an Golfplätze gedacht."

Schritt ins Ungewisse

Für den am Ende fälligen Kaufbetrag für Gewes von einer Millionen D-Mark muss er weitere acht Millionen D-Mark an Sicherheiten hinterlegen. Nur weil zufällig ein hessischer Geschäftsmann auf seinem Land einen Golfplatz bauen will, kann er einen Überplanungsvertrag über sieben Millionen DM als Sicherheit hinterlegen. Am Ende wird der Golfplatz zwar nicht gebaut, aber Röder hat neben einer Landesbürgschaft die nötigen Sicherheiten für die Finanzierung beisammen.
Auch wenn der Industriebetrieb heute zu den profitabelsten in den neuen Bundesländern gehört, ist der Schritt des Vaters für die junge Familie damals nicht leicht zu akzeptieren. Tochter Daniela Röder-Krasser, die den Betrieb seit 2008 zusammen mit ihrem Mann führt und zur Wende erst 16 ist, erinnert sich:

"Wir saßen zusammen, und ich weiß noch, dass meine Mutter die Idee nicht so toll fand, weil das ja wirklich mit einem sehr hohen Risiko verbunden war."
"Es war die Aussage: Wenn wir da mal mit unter der Brücke landen, ins Haus meiner Mutter kommst du nicht mit. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Das hört sie heute nicht mehr so gern, aber es war schon verrückt. Ich habe alles gesetzt. Das war bis hin zur Durchgriffshaftung. Das heißt, dass selbst die Rente, alles was man sich aufgespart hat, alles geht weg."

DDR lässt anfangs noch Unternehmertum zu

Dass alles jederzeit "weggehen" kann, das mussten viele der 36.000 kleinen privaten Familienbetriebe im SED-Staat erleben, die bis 1972 verstaatlicht wurden. Dabei ist die DDR im Ostblock anfangs sogar das einzige Land, das überhaupt noch Unternehmertum zulässt.

"Werbung war auch schon zu tiefsten DDR-Zeiten möglich. Meine Eltern hatten an verschiedenen Autobahnbrücken diese Werbung: Mit Kathi-Mehl, da geht es schnell, fix und fertig auf der Stell‘. Jeder sollte mal versuchen, sonntags einen Kathi-Kuchen."

In seinem winzigen Firmen-Museum hat der "Dr. Oetker des Ostens", wie Rainer Thiele, der Eigentümer des Lebensmittelherstellers Kathi, genannt wird, die Vergangenheit seines Unternehmens konserviert. Im Kathineum hängen Urkunden, alte Verpackungen und Fotos aus jetzt fast 70 Jahren Firmengeschichte.

"Das waren die allerersten beiden Produkte: ein sogenannter Sandsteifenkuchen und ein Rührkuchen."
Unternehmer Rainer Thiele
Rainer Thieles Lebensmittelfirma Kathi ist im Osten Deutschlands Marktführer.© Deutschlandradio / Stiftung Familienunternehmen /Florian Büttner

Erstes Kloßmehl aus der Tüte

Die Höhen und Tiefen der Firmengeschichte haben sich eingebrannt ins Gehirn des adrett gekleideten 76-Jährigen. Seine Eltern, Konditoren und Bäcker, haben 1951, zur Zeit des Hochstalinismus den Mut, Leberwurstaufstrich, Kuchen, Backmischungen und kochfertige Suppen aus ihrer Garage in Halle an der Saale zu verkaufen.

"Stichwort latenter Mangel. Ich werde nie vergessen. Es war früh in der Nacht um halb drei. Reißt meine Mutter die Tür auf, macht Licht an: Ich hab es, ich hab es, ich hab es. Mein Vater hat gesagt: Ist sie jetzt irre oder was? Die Küche sah aus wie ein Atomschlag. Und da war es meiner Mutter gelungen, das Kloßmehl in der Tüte zu entwickeln. Und hatte uns das erste fertige schmackhafte Ergebnis vorgestellt. Das war die Geburtsstunde des Kloßmehls und weiterer Kartoffelveredlungsprodukte. Und dann, wie gesagt, ging es weiter mit anderen Produkten."

Der kleinen Firma Kathi gelingt in der Frühzeit der DDR zunächst ein bemerkenswerter Aufstieg. Gerade der Mangel ist Treiber des Geschäftsmodells. Denn irgendeine Zutat fehlt immer in den Regalen der Geschäfte. Für die Fertigprodukte von Kathi aber braucht man meist nur noch Wasser als Zutat.

"Hat mein Vater im Jahre, jetzt hören sie bitte richtig, 1953, eben die Produkte beziehungsweise das Warenzeichen schützen lassen, parallel mit dem Aufbau einer Marke. Zusammengesetzt, Sie haben es vorne gelesen, aus dem Vor- und Zunamen meiner Mutter. Aus Käthe Thiele, Kathi. Es gab eine Handvoll derer in der DDR, die nie an den ewigen Bestand der DDR glaubten. Dazu zählte mein Vater."
Leuchschrift mit Logo von Kathi
Schon in der DDR eine bekannte Marke für Lebensmittel: Kathi.© Deutschlandradio / Stiftung Familienunternehmen / Florian Büttner

Verstaatlichung fast aller DDR-Unternehmen

Doch der anfängliche Optimismus der kleinen Firma wird bald zerstört, denn das sozialistische Ulbricht-Regime nimmt die wenigen Unternehmer systematisch an die Kandare, wie Historiker Rainer Karlsch vom Institut für Zeitgeschichte rückblickend bilanziert:
"Das war ja nicht nur Teil der Ideologie, sondern auch Teil der täglichen Praxis, dass man versucht hat, Unternehmer heraus zu drängen aus dem Wirtschaftsleben durch Steuergesetzgebung, durch Strafgesetzgebung, auch durch Schauprozesse. Ihr Kapitalisten seid hier nicht mehr gewollt. Ihr müsst eure Firmen verkaufen oder ganz Ausscheiden aus dem Wirtschaftsleben. Denn diese neu entstehende Gesellschaft braucht euch nicht. Das ist ja die Botschaft gewesen, die vermittelt wurde über diese Schauprozesse, die ja mit Todesurteilen endeten."
"Die kapitalistischen Betriebe, die sich halbstaatlich nennen, müssen wir liquidieren", sagt Erich Honecker, 1971. Und so holt die Geschichte dann auch den jungen Rainer Thiele und seine Eltern erbarmungslos ein. Am 8. Februar 1972 verfügt das Politbüro unter Honecker die Verstaatlichung fast aller verbliebenen Unternehmen.
An den Tag, als die Vertreter der SED das kleine Büro des Vaters stürmen, um Kathi in ein Kombinat einzugliedern, erinnert sich Rainer Thiele heute noch mit fotografischer Genauigkeit:
"Ohne Anmeldung rissen die die Tür auf. Wir waren beide erschrocken, mein Vater und ich. Und da sagt mein Vater: Wer sind sie denn? Ja, wir kommen jetzt von der sozialistischen Umwandlungskommission. Wir haben jetzt den Auftrag euch zu enteignen. Habe ich meinen Vater angeschaut: Der war geschockt, weinte bitterlich. Und sagte nur zu mir: Junge, das ist unser Ende. Er war nachher nicht mehr fähig, die Verhandlung zu führen. Das habe ich dann gemacht."

Eine Woche später muss der Vater beim Bezirksrat die eigene Aufgabe des Unternehmens "freiwillig" unterschreiben. Danach arbeitet der Sohn die noch verbleibenden fast 17 Jahre bis zur Wende als einfacher Angestellter in der Produktentwicklung des kleinen Betriebes weiter. Zunächst ohne Hoffnung, den elterlichen Betrieb je wieder zurückzugewinnen.

Instrumente für Komponisten wie Mahler und Bruckner

Dass man als Unternehmer in der DDR trotz Enteignung auch durchaus bemerkenswerte Freiheiten genießen kann, zeigt das Beispiel des Leipziger Flügel- und Klavierherstellers Blüthner. Die Pianoforte-Fabrik wird 1853 in Leipzig von Julius Blüthner gegründet und entwickelt sich in der Gründerzeit zur größten Klavierfabrik Europas.
Generationen von Blüthnersöhnen reisen für den Vertrieb um die Welt und beliefern die namhaftesten Komponisten: Bruckner, Mahler, Grieg, Debussy, Tschaikowsky, Prokofjew, Schostakowitsch, Wagner, Rachmaninow und Franz Liszt. Nach einem verheerenden Bombenangriff auf die Produktionsanlagen 1943 macht die Familie mit dem Klavierbau in der DDR weiter, eine Flucht in den Westen kommt nie in Frage.

Weltruf der Blüthner-Flügel bleibt bestehen

Wer mit dem jungen Firmenchef Christian Blüthner heute durch die neuen Fertigungsanlangen in Großpösna bei Leipzig läuft, der spürt die Weltgewandtheit des Unternehmens.

"Jetzt sind wir hier in dem Bereich, wo wir die Furniere zusammensetzen. Hier sieht man ganz viele unterschiedliche Furnierarten: Wurzelholz, Bawona, noch einmal Wurzelholz, Ziricote, Redbird, Bubinga, Mokasso, Eibe und natürlich gibt es noch viele, viele andere."
Die Qualität der Flügel aus Leipzig ist auch in der DDR-Planwirtschaft so herausragend, dass die Beatles 1969 – drei Jahre, bevor die SED auch Christians Vater Ingbert die Enteignungsurkunde zustellt – ihren Song Let it be auf einem neu gelieferten Blüthner-Flügel aufnehmen. John Lennon soll nur mit dem weichen Blüthner-Klang zufrieden gewesen sein. Er bestellt ein Exemplar aus Sachsen. Es steht noch heute in der Abbey Road in Liverpool.
Unternehmer Christian Blüthner
Firmenchef Christian Blüthner leitet die Pianoforte-Fabrik seiner Familie - einst die größte Klavierfabrik Europas.© Deutschlandradio / Stiftung Familienunternehmen / Florian Büttner
Der Weltruf von Blüthner schallt auch noch nach dem Mauerbau in die glitzernde Musikwelt der Weltmetropolen: nach London, Paris und Hollywood. Die Blüthners dürfen ins nicht-sozialistische Ausland reisen und bestücken die Schlösser des britischen Komponisten Andrew Lloyd Webber mit kunstvoll geschnitzten Klang-Unikaten.
"Wenn man groß wird und die Geschichten der Großeltern kennt, ich selbst als Kind bei den namhaften Dirigenten, die oft zu Gast in Leipzig waren, auf dem Schoß saß, ich für die der kleine Christian war, der immer mit zu den Proben genommen worden ist, dann schafft das eine Identität, wo man merkt, das, was die Familie herstellte, ist nicht irgendein Klavier, sondern ist ein Grundstein deutscher Musikhistorie."

Der Devisenbeschaffer für die DDR

Aber es ist nicht nur die Geschichte, die Unternehmenschef Ingbert Blüthner im SED-Regime eine gewisse Narrenfreiheit gewährt. Vorher noch als parasitärer Kapitalist gescholten, führt er ab 1972 als Direktor der sozialistischen Arbeit die Geschicke der verstaatlichten Firma, die sich jetzt VEB Blüthner Pianos nennt.
"Am Ende zählt der Dollar mehr wie jede Ideologie. Es spielte die Devisenrentabilität in der Volkswirtschaft eine extrem große Rolle. Blüthner hatte die beste Devisenrentabilität in der DDR. Das man nicht alles durfte, war völlig klar, aber es wurde immer auch ein Auge zugedrückt."
Und Ingbert Blüthner und seine Klavierbauer spülen im Verhältnis so viele Devisen in die maroden SED-Kassen wie kein anderer Betrieb. Während man mit Holzspielzeug aus dem Erzgebirge mit einer DDR-Mark gerade mal 25 Westpfennige einspielen konnte, verdient die SED mit Blüthner bei einer eingesetzten Ostmark stolze eine Mark 60 West. Rekord.

Wilde Zeiten nach der Wiedervereinigung

Bei Blüthner herrscht zu allen Zeiten stets ungebrochene Gefühl, dass man allen Widrigkeiten trotzen kann und hilft nach dem Mauerfall, das verstaatlichte Unternehmen für die Familie zurückzugewinnen. Denn auch die internationale Konkurrenz aus dem Ausland hatte ein Auge auf die Perle im Osten geworfen und sofort versucht, Blüthner billig zu schlucken.
"Am Anfang der Maueröffnung gab es so etwas wie einen Wiedervereinigungsvertrag überhaupt nicht. Und auch keine verlässliche juristische Plattform, auf der man hätte ein Unternehmen reprivatisieren können. So blieb die einzige Möglichkeit, dass Unternehmen zunächst zu kaufen. Und dazu hat man natürlich auch entsprechende Kredite aufgenommen."
Heute hat Blüthner die wilden Zeiten der Wiedervereinigung überstanden. Die 250 Angestellten bauen wieder rund 600 Flügel im Jahr. Neben New York, Wien oder Shanghai hat Blüthner Dutzende Vertriebsbüros in der ganzen Welt und macht stolze 60 Millionen Euro Umsatz. Bei einer Exportquote von mehr als 90 Prozent.

Kathi – Marktführer im Osten Deutschlands

Auch Rainer Thiele hat sich nach der Wende mit Kathi wieder etabliert. Nachdem der Umsatz zunächst um 80 Prozent eingebrochen war und das Unternehmen anfangs für Westkonzerne mitproduzierte, ist man heute zumindest in Ostdeutschland wieder vor Dr. Oetker Marktführer.
Doch für Thiele bringt der Prozess der Reprivatisierung erneut bittere Überraschungen. Denn nachdem er seine Mutter an deren Sterbebett 1989 versprochen hatte, das Unternehmen zurückzugewinnen, werden seine Reprivatisierungsunterlagen von denselben Leuten bearbeitet, die zuvor seinen Vater enteignet hatten.

"Läuft mir da einer entgegen. Mensch, den kenn ich doch. Das ist doch noch so ein richtig alter großer Parteisekretär. Sag ich: Ach, Herr Sowieso, Sie hier bei der Treuhand? Dreht der sich um: Ja, ja, Herr Thiele. Ich hab aber jetzt gar keine Zeit für Sie. Das hab ich nur hinterhergerufen: Bei ihrer Vergangenheit kein Wunder für mich."

Zwischenzeitlich gehen wichtige Unterlagen auf mysteriöse Weise in der Behörde verloren. Es dauert bis Ende August 1991, bis ihm seine Reprivatisierungsunterlagen endlich übergeben werden.

"Bin nach Hause gekommen, sage zu meiner später verstorbenen Frau damals: Schatz, Du wirst nicht glauben, aber ich habe das Unternehmen der Eltern zurück. Jetzt trinken wir darauf ein Gläschen Sekt. Und mache Flasche auf. Und während des Öffnens rutsche ich zusammen – Herzinfarkt!"

VEB Tricotex wird zu Bruno Banani

Ein ganz anderes Stück deutscher Wiedervereinigungsgeschichte sind die vielen Firmenkäufe und Neugründungen von Unternehmern aus dem Westen und dem Ausland. Da gibt es den schwäbischen Textilmanager Wolfgang Jassner, der sich 1993 privat verschuldet und in Chemnitz ein marodes Trikotagen-Kombinat übernimmt.
Aus VEB Tricotex wird durch kluges Marketing der exotisch nach Italo-Pop und Mailänder Laufsteg klingende Unterhosen-Mittelständler Bruno Banani. Einem anderen Familienunternehmer gelingt in Hartmannsdorf nur ein paar Kilometer weiter der wohl größte Coup nach der Wende. In wenigen Jahren wird hier im Pferdestall einer alten LPG-Zentrale das heute mit 1,2 Milliarden Euro Jahresumsatz und fast 2000 Angestellten größte Familienunternehmen in den neuen Bundesländern entstehen.

"Im November 1989 war ich bei Folksam, der größten Versicherungsgesellschaft in Schweden. Da saß ich in der 25. Etage in einem Skyscraper in Stockholm und habe aus dem Fenster geschaut und hab gehört, hier passieren Sachen in Leipzig und Karl-Marx-Stadt. Da habe ich beschlossen, hier runter zu fahren."

Gunnar Grosse ist heute 81 Jahre und sitzt in der Kantine seines Milliardenunternehmens Komsa. Wenn er rückblickend von den turbulenten Wendejahren erzählt, hört es sich so an, als ob sein Weg schon immer vorbestimmt gewesen war. Sein Vater stammte ursprünglich aus dem kleinen Ort in Sachsen, wo jetzt auch Komsas große Lagerhallen stehen. Während des Zweiten Weltkriegs verlässt der Vater als überzeugter Pazifist Deutschland. Sohn Gunnar wächst als Schwede auf. Der Kontakt in die Heimat reißt nie ab.

Mobiltelefone für Ostdeutschland

Gunnar Grosse wird mit fast 50 Jahren in Schweden vom Mauerfall überrascht. Zuvor hatte er als Manager gearbeitet und mal ein paar Jahre Blumenerde mit Rindenmulch aus finnischen Fichten ans saudische Königshaus verkauft. Als er im November 1989 nach Sachsen kommt, weiß er der umtriebige Grosse schnell, was er machen will:

"Als ich hierher kam, habe ich gemerkt, niemand hat Telefon. Da habe ich gesagt, es gibt einen riesigen Markt, der jetzt kommt in Ostdeutschland, und da können wir Mobiltelefone verkaufen. Diese Tausenden Läden, die heute Fernseher verkaufen, das sind unsere Verkäufer."

Doch die Banken vertrauen ihm zunächst nicht, und der schwedische Telekommunikationsgigant Ericsson glaubt noch nicht an den jungen Markt Ostdeutschland. Und schnell ist Grosse mit einem ganz anderen Problem konfrontiert:

"Ein Schwede hier unten ist verdächtig. Weil, wenn ein Schwede aus so einem Land hier runterkommt, dann hat er was ausgefressen in Schweden. Die waren vorsichtig mit mir. Ich habe alles erlebt."

Nach und nach baut sich Gunnar Grosse ein Netzwerk auf und überzeugt Ericsson, dass er für die Schweden Telefone vertreiben darf. Mit sieben Mann und einigen Vertriebsstellen fängt er an. Jedes Jahr verdoppelt Grosse seinen Umsatz, bei Margen im Promillebereich und immer höherem Risiko. Mehrmals ist er fast pleite. Aber er gibt nicht auf. Sein Vorbild in all den Jahren ist der legendäre IKEA-Gründer Ingvar Kamprad, dessen Vater auch aus Sachsen stammt und dessen Verwandte in Altenburg und Mühlau leben.
Unternehmer Gunnar Grosse
Aus Schweden kam Gunnar Grosse nach Ostdeutschland und gründete das Milliardenunternehmen Komsa.© Deutschlandradio / Stiftung Familienunternehmen / Florian Büttner

"Und hier habe ich wirklich gelernt zu treiben. Mit allen Hindernissen und allen Problemen und besonders mit Menschen, die sozialistisch geprägt worden sind. Anfangs in den 1990er-Jahren haben alle die Ärmel hochgekrempelt. Da gab es nur ein Muss, nicht, ob man das schafft, sondern wir müssen. Es gab nur vorwärts."

Heute ist Kommunikation Sachsen (Komsa) der größte Händler von Kommunikationstechnik in Deutschland. Otto Versand und Quelle verschicken ihre Smartphones aus Grosses Lagern nach ganz Deutschland.
Mobiltelefone in einer Reihe liegend
Mobiltelefone für Ostdeutschland: Komsa ist mittlerweile der größte Händler von Kommunikationstechnik in Deutschland.© Deutschlandradio / Stiftung Familienunternehmen / Florian Büttner

Ein DDR-Sportwagen mit Legendenstatus

Eine kleine Werkstatt in Weißig östlich von Dresden. Rechts in der großen Halle werden schwere SUVs gewaschen. Hier in der kleinen Halle wird am verblassten Stolz der DDR-Automobilgeschichte geschraubt.

Den Melkus RS 1000 kennt wohl jeder DDR-Bürger, der noch vor der Wende aufgewachsen ist. Und auch Rennsportfans aus dem Westen haben zumindest schon mal von der Zweitakt-Flunder aus Dresden gehört. Die Familie Melkus hat Legendenstatus in der DDR. Großvater Melkus konstruiert 1969 den einzigen echten DDR-Sportwagen. Nur 101 werden davon bis 1979 gebaut. Grundlage ist ein Wartburg-Chassis. Die anderen Teile – wie die Heckscheibe – müssen mit viel Kreativität von polnischen Trambahnen und im ganzen Ostblock zusammengesammelt werden. Der Traum vom eigenen Sportwagen ist in der DDR für viele unerreichbar.

Und so bauen sie bei Melkus die alten Sportwagen für all jene, die sich den Kindheitstraum heute noch erfüllen wollen. Für 100.000 Euro bekommt man DDR-Zweitakt-Nostalgie ohne jeden Komfort.
"Das Auto ist ja nicht nur optisch unverkennbar, sondern auch vom Sound und vom Geruch her. Von da her sind wir schon auch bekannt hier in der Gegend, wenn wir unsere Test- und Probefahrten machen. Wenn man das Auto so sieht, sieht es ja im Prinzip aus wie ein kleiner Ferrari. Das hat eigentlich auf die DDR-Straßen gepasst wirklich, das Auto."

Diese Popularität im Osten will die Familie nach 2000 nutzen, um mit dem RS 2000 einen modernen Sportwagen mit über 300 PS auf den Markt zu bringen. Vater Heinz Melkus erinnert sich.

"Der absolute Höhepunkt war wirklich auf der IAA. Als wir dort, das war schon für uns wirklich unheimlich… Gegenüber stand Aston Martin, schräg gegenüber stand Porsche, und Jaguar standen auch nicht weit weg. Dann war noch der Lotus da, und wir standen mit unseren zwei RS 2000 da mittendrin. Und haben uns da wirklich sehr gut dargestellt und unheimliches Feedback von allen, von Presse und von Kunden."

Doch Heinz und Sepp überschätzen die Bekanntheit ihres neuen Boliden und ihre eigenen kaufmännischen Fähigkeiten. Ein Auto wird zwar nach Belgien, zwei nach Saudi-Arabien und weitere zwei nach Peking verkauft, aber das Preis-Leistungs-Verhältnis für den Wagen überzeugt nicht.

"Man hätte einen bisschen längeren Atem haben können, aber das konnten wir nicht. Die Vermarktung hat nicht funktioniert, sicherlich haben wir auch viele Fehler gemacht. Vom Namen her kannten die uns, dass es damals in der DDR einen Sportwagenbauer gab, das war schon bekannt. Also abgerundet: Name ja, war bekannt, aber was so direkt dahinter stand, war relativ unbekannt."

Keine blühenden Landschaften für alle

Nicht für alle Familienunternehmer im Osten hat sich also die Euphorie der Wende ausgezahlt und nicht für alle sind am Ende blühende Landschaften entstanden. Denn, das sagt auch Historiker Rainer Karlsch, der Unterschied zwischen Ost und West ist vor allem durch die Zäsur des Zweiten Weltkriegs zu begründen. Und er gibt zu bedenken, welcher wichtige Faktor bis zum Mauerfall in der Bundesrepublik eine Rolle gespielt haben könnte:

"Bis heute ist das eigentlich nicht genau aufgearbeitet und erfasst, welchen Beitrag Unternehmer geleistet haben, die von Ost nach West gewandert sind in den 1940er-, 1950er-Jahren und das Wirtschaftswunder mit befeuert haben, mit ihrem Know-how, mit ihren Marktkenntnissen, mit ihren Mitarbeitern. Das ist gar nicht zu unterschätzen."
Und vieles sei im Zuge der Wiedervereinigung eben im rasenden Tempo und ohne Sentimentalität abgelaufen, sagt Historiker Karlsch rückblickend:

"Es war auch nur ein kleines Zeitfenster da für diese Reprivatisierungen und für das Wiederanschieben eines familiengeführten Unternehmertums. Das musste sehr rasch passieren, ansonsten waren die Märkte zu."

Martin Röder, der mit Gewes nach der Wende sein eigenes Unternehmen gründete, ist sich seiner Sonderrolle bewusst ist. Doch auch wenn sich die Wirtschaft in Ostdeutschland aus seiner Sicht gut entwickelt hat, die von Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" sieht er noch nicht.

"Da hat Lothar Späth eher recht gehabt, der gesagt hat, wir brauchen wenigstens 25 Jahre, beziehungsweise eine Generation."

Regie: Clarisse Cossais
Technik: Inge Görgner
Sprecher: Joachim Schönfeld
Redaktion: Carsten Burtke

Vom 9. September bis 23. Oktober 2020 zeigt die Stiftung Familienunternehmen in Berlin die Ausstellung "Verdrängung, Enteignung, Neuanfang. Familienunternehmen in Ostdeutschland von 1945 bis heute", in der auch die Biografien der im Feature auftretenden Protagonisten näher beleuchtet werden.

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