Entdeckung der Langsamkeit

Von Claus Fischer |
2001 begann in Halberstadt die Aufführung des längsten Musikstückes der Geschichte. Der amerikanische Komponist John Cage hinterließ ein Werk, das "as slow as possible", also "so langsam wie möglich" gespielt werden soll. Die Initiatoren des Projekts haben das Stück auf 639 Jahre ausgedehnt. Nun stand ein Klangwechsel an.
Etwa 100 Zuhörer, darunter zahlreiche Journalisten warteten kurz vor 17.00 Uhr gespannt auf den Klangwechsel. Hans Schäfer war extra aus Hessen ins sachsen-anhaltische Halberstadt gereist, um zu erleben, wie zum gis und h noch die Töne a, c und fis dazukommen, für ihn ein fast mystisches Erlebnis…

"Bei dieser riesigen Zeitspanne von 639 Jahren kommt es im Augenblick auf einen ganz kurzen Moment an, während die drei Töne hinzukommen."

Und dann war es soweit, auf die Halterungen über dem elektrischen Windgenerator im Chorraum der Burchardikirche wurden drei neue Orgelpfeifen installiert. Dieser veränderte Klang wird nun bis zum 5. Mai dauerhaft zu hören sein, dann findet der nächste Wechsel statt. Hans Schröder, evangelischer Pfarrer aus München, der ebenfalls extra angereist war, verfolgt das John-Cage-Projekt von Anfang an. "as slow as possible", "so langsam wie möglich", das fasziniert ihn…

"Es war eben sehr schön zu beobachten die Journalisten, die Techniker, die sind da umeinander gerast wie die Wilden, um die Lichtinstallation und die Aufnahmeinstallation hinzukriegen – und dagegen gesetzt etwas, das man auch anders leben kann, als unser hektisches Leben jetzt ist."

Die Entdeckung der Langsamkeit, in Halberstadt wird sie also zum Programm und auch zum Lehrstoff im Gymnasium, betont Lehrerin Renate Bleicher:

"Ich habe auch Schüler, die ich in der 12. und 13. Klasse unterrichte, und wir waren auch hier, haben das wahrgenommen. Einige Schüler haben sogar mit Handy den Ton nach Hause zu ihren Eltern transportiert, weil diese nicht dabei sein konnten."

Die enorme Wirkung des längsten Musikstücks aller Zeiten erstreckt sich längst nicht mehr nur auf die hektischen Passagen, wie man heute eine erleben konnte, die Burchardikirche habe sich trotz ihres teilsanierten Zustandes zu einem Besuchermagneten entwickelt, sagt Projektleiter Georg Bandarau von der John-Cage-Stiftung Halberstadt:

"Es ist natürlich für die Stadt sehr sehr gut, die Stadt ist präsent in den Medien, ist auch bekannter dadurch und wir hatten im letzten Jahr 12 000 Touristen, die nur wegen dieses Projektes nach Halberstadt gekommen sind."

Die Reaktionen der Besucher sind teilweise geradezu euphorisch. So wollte zum Beispiel ein Musikstudent aus Harvard, der eine wissenschaftliche Arbeit über John Cage erstellte, unbedingt neben der Orgel übernachten, was ihm schließlich auch erlaubt wurde. Der wichtigste Mann im Hintergrund des heutigen Ereignisses war zweifellos Orgelbauer Andreas Saage, der im Zuge der Aufführung Stück für Stück am besonderen Instrument baut. Im Jahr 2009, dann, wenn alle Töne der Komposition zum ersten Mal erklungen sind, wird die Orgel fertig sein. Danach dauert die Komposition immerhin noch 631 Jahre, ein Gedanke, der Andreas Saage fasziniert. Was hat er für ein Verhältnis zu John Cage?

"Da ich selber Musik studiert habe und seit frühester Kindheit eigentlich mit zeitgenössischer Orgelmusik in Berührung kam, ist Cage für mich, kann man sagen, seit 30 Jahren zumindest kein Fremdwort und insofern bin ich ganz vertraut damit und hab versucht, die Kollegen auch auf diese Zeitreise mitzunehmen."

Doch nicht nur Experten für die Musik des 20. Jahrhunderts finden den Weg zu John Cage. Viele Besucher hätten sich zum Beispiel bereiter klärt, die Patenschaft über einen Tag im längsten Musikstück aller Zeiten zu übernehmen, sagt Projektleiter Georg Bandarau:

"Die meisten Leute, die herkommen, die beschäftigen sich eng mit dem Thema Zeit und die Wollen das weitergeben an ihre Kinder, an ihre Enkelkinder. Da denken die Leute jetzt über 500 Jahre, da hat sich zum Beispiel jemand gestern seinen Geburtstag reserviert in 500 Jahren, das sind Zeitspannen, die ein normaler Mensch nicht denken kann."

Bleibt noch die Frage, was der Meister selbst zum Projekt sagen würde?

"Also wir haben einige Leute, die John Cage gekannt haben, und die stehen dem Ganzen sehr positiv gegenüber, die sagen alle, John Cage hätte sich mit Sicherheit gefreut, so etwas zu erleben. Die positive Erinnerung an ihn wird weitergegeben."

Zumindest indirekt hat sich John Cage heute zum Projekt geäußert, denn beim Klangwechsel wurde ein Zitat von ihm verlesen, in dem es sinngemäß heißt: Die Menschen denken alle, sie könnten hören, aber eigentlich müssen sie das Hören erst wieder lernen.