Enrique Vila-Matas: Kassel. Eine Fiktion
Aus dem Spanischen von Petra Strien
Die Andere Bibliothek. Berlin 2017
348 Seiten, 42 Euro
Mit multiplen Identitäten auf der documenta
Enrique Vila-Matas verarbeitet in "Kassel. Eine Fiktion" seine eigenen Erfahrungen auf der documenta. Der bekennende Postmodernist spielt dabei großzügig mit den Identitäten seiner Figuren. Vollkommen überzeugt ist unser Rezensent von dem Roman aber nicht.
Vier hölzerne, nummerierte Luftballons, die gen Himmel schweben. Martin Kippenbergers Arbeit "Das Ende der Avantgarde" von 1988 formuliert noch heute verbreitete Vorurteile moderner Kunst gegenüber. Ist die abgehobene Gegenwartskunst am Ende? Gibt es noch eine Avantgarde?
Von den Zweifeln, "dass die Gegenwartskunst verschlafen und überhaupt eine einzige Katastrophe ist", ist auch der Protagonist von Enrique Vila-Matas‘ neuem Roman "Kassel: Eine Fiktion" angefressen. Umso erfreuter ist er, als er unter mysteriösen Umständen zur Documenta 13 eingeladen wird. Das Angebot, drei Wochen in einem chinesischen Restaurant vor den Augen des Publikums zu arbeiten, kommt ihm zwar absurd vor. Ihn lockt aber die Aussicht, dort auf das "Geheimnis der Gegenwartskunst zu stoßen" und in die "Poesie einer unbekannten Algebra eingeweiht" zu werden.
Vila-Matas' Figuren betreiben munteren Identitätswechsel
Die Konstellation des in Spanien 2014 erschienenen Romans ist charakteristisch für Vila-Matas. Schließlich ist der 1948 geborene Autor von fast 30, vielfach prämierten Romanen selbst eine Art Avantgardist. Vila-Matas war 2012 selbst in genau dieser Funktion auf der Documenta. Eins zu eins "verarbeitet" hat der bekennende Postmodernist diese Erfahrung natürlich trotzdem nicht. Dass zeigt sich schon an seinem Spiel mit der Fiktionalisierung und Vervielfachung des Selbst. Mal lässt der Mitbegründer des Dubliner "Finnegan-Ordens" seinen Protagonisten, unverkennbar ein Alter Ego seines Erschaffers, einen Doppelgänger erfinden, der an seiner Stelle den Writer-in-Residence mimt. Mal lässt er beide ihren Namen wechseln. Auch andere Figuren schlüpfen gern in eine andere Identität.
Wer auch immer in dieser Geschichte also erzählen mag: Er macht gute Erfahrungen mit der allerzeitgenössischsten Gegenwartskunst. Katalysator der "optimistischen Energie", mit der sich der latent depressive Autor peu à peu aufgeladen fühlt, ist der unsichtbare Luftzug, den der britische Künstlers Ryan Gander durch das Fridericianum wehen lässt. Dies und die anderen Arbeiten regen ihn zu überraschenden Reflexionen und Assoziationen an. "Die Wirkung mancher Kunstwerke der documenta auf mich hatte meine ganze Art zu sein verändert" stellt er irgendwann verblüfft fest.
Erzählerisch ist "Kassel. Eine Fiktion" nicht immer top
Für einen Autor, der uns durch seinen Protagonisten die Erkenntnis nahe bringen will, das Kunst etwas ist, "das uns widerfährt", bleibt die "gesteigerte Euphorie", die sich dieses skurrilen Kunstentdeckers bemächtigt, leider die bloße Behauptung des multiplen Ich-Erzählers. Und er verstrickt sich etwas oft in sein Netzwerk literarischer Verweise von Kafka bis Mallarmé. Immerhin kommt er dem Geheimnis der Gegenwartskunst näher: "Europa war tot", stammelt enthusiasmierte Autor, "aber die Kunst der Welt war quicklebendig und das einzige offene Fenster für all jene, die immer noch nach geistiger Rettung suchen". Und wenn ihm schließlich dämmert, dass Kunst das "Gefühl intensiviert, am Leben zu sein", landet dieses fintenreiche Exempel einer Literatur-Literatur doch tatsächlich bei der alten Avantgarde-Hoffnung, Kunst und Leben in eins zu setzen.