Englands Umgang mit Irland

Das Gewaltpotenzial einer Kolonialherrschaft

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Osteraufstand in Dublin 1916: Die Befreiung Irlands von der englischen Herrschaft.
Osteraufstand in Dublin 1916: Die Befreiung Irlands von der englischen Herrschaft. © imago stock&people/UnitedArchives
Von Martin Alioth · 17.04.2019
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Einer der größten Streitpunkte beim Brexit ist der Konflikt um die irisch-nordirsche Grenze. Lange hatten die Briten das Thema während der Verhandlungen ignoriert. Dabei reicht das Grenzproblem tief in die englisch-irische Geschichte.
"The Plantation of Ulster": So wird die systematische Kolonisierung des Nordostens der Insel Irland im frühen 17. Jahrhundert genannt. Die englische Krone hatte genug von Rebellionen und rekrutierte protestantische Wehrbauern aus dem schottischen Flachland und dem englischen Norden. Die einheimischen Iren, allesamt Katholiken, weil es in Irland keine Reformation gegeben hatte, wurden umgebracht oder westwärts vertrieben. Diese Form der Kolonisierung, in deren Verlauf der Mann hinter dem Pflug durch treue Gefolgsleute ersetzt wird, ist weltweit eher selten und endete nie friedlich.
So entstand im Nordosten eine britische Garnison, getragen von diesen protestantischen Siedlern. Um zwischen den Kolonisatoren und den Unterdrückten zu unterscheiden, eignete sich die Hautfarbe nicht. So wurde im 18. Jahrhundert eine Matrix von diskriminierenden Gesetzen erlassen, die auf der ganzen Insel Irland den Katholiken den Zugang zu Landeigentum, Ausbildung und Ämtern verwehrte.

Die Fehler der Briten

Dieser repressive Apparat wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zwar großteils wieder abgebaut, aber in Wirtschaftsfragen stellte die britische Regierung sicher, dass nur der kolonisierte Nordosten an der industriellen Revolution teilnahm, während der katholische Rest billige Nahrungsmittel für britische Industriearbeiter produzierte.
Derartige Ungleichgewichte hatten fatale Folgen, als die Kartoffelernte in den 1840er-Jahren einem Schädling zum Opfer fiel. Eine Million Iren verhungerte, eine weitere Million wurde in die Emigration getrieben. Diese Katastrophe nährte unter den Überlebenden das Bewusstsein der Andersartigkeit. Irische Nationalisten fochten zuerst für Landreform, dann für Selbständigkeit und schließlich für die Unabhängigkeit.

1921 Gründung des irisches Freistaates

Die Rebellion von 1916, die Osterrebellion, scheiterte zwar, doch ihre blutige Unterdrückung führte unweigerlich zum Unabhängigkeitskrieg. 1921 wurde der irische Freistaat gegründet – die spätere Republik Irland. Doch der protestantische Nordosten drohte mit gewaltsamem Widerstand. Und so taten die Briten, was sie in solchen Fällen öfters tun: sie teilten die Insel.
Die Größe des bei Großbritannien verbleibenden Inselteils – des heutigen Nordirland – wurde allein nach dem Prinzip bestimmt, dass dieser Rumpfstaat eine protestantische Zweidrittelmehrheit aufweisen müsse. Die historische Provinz Ulster hätte eine konfessionell paritätische Bevölkerung aufgewiesen. So entstand mitten in Irland eine Grenze.

Nordirland wurde, wie einer seiner Premierminister einmal denkwürdig feststellte, ein protestantischer Staat für ein protestantisches Volk. London schaute weg.

Grenzgebiet wurde zum Hinterland der IRA

Als eine überkonfessionelle Bürgerrechtsbewegung 1968 – dem Zeitgeist folgend – die systematische Diskriminierung der nordirischen Katholiken friedlich anprangerte, reagierte der protestantische Staatsapparat mit Gewalt, befeuert vom damals noch jungen Pfarrer Ian Paisley. Aus dieser Gemengelage erst erwachte die Irisch-Republikanische Armee zu neuem Leben; zuerst zur Verteidigung katholischer Gegenden, alsbald offensiv gegen die Vertreter des nordirischen und des britischen Staates, gelegentlich auch einfach gegen nordirische Protestanten.
Das Grenzgebiet wurde zum logistischen Hinterland der IRA, die auch in der Republik durchaus auf Sympathien zählen durfte. Und so wurde die Grenze militarisiert. Brücken wurden gesprengt, Feldwege verbarrikadiert. Die noch offenen Grenzübergänge wurden mit militärischen Schikanen versehen, die Hügel mit Beobachtungstürmen gespickt.
Britische Truppen und nordirische Polizeibeamte konnten sich im Grenzgebiet nicht frei bewegen; sie wären den Bomben oder den Scharfschützen der IRA ausgeliefert gewesen. Die Beobachtungstürme konnten nur mit Helikoptern versorgt werden, weshalb das Dorf Bessbrook zum geschäftigsten Heli-Port Europas wurde.

Besuch der Queen 2011 - Ein Fluch schien gebannt

Die Geschäfte der EU brachten irische und britische Minister regelmäßig zusammen, oftmals vertraten sie ähnliche Ansichten. Das Ringen um Frieden in Nordirland knüpfte enge Bande zwischen London und Dublin. Auf dieser Grundlage normalisierten sich die Beziehungen, die zuvor durch die leidvolle Geschichte, durch Ressentiments und Vorurteilen vergiftet waren. 2011 geschah etwas zuvor Undenkbares: der erste Besuch einer britischen Monarchin in Irland seit hundert Jahren. – Der Fluch der anglo-irischen Geschichte schien gebannt.


Allein, der britische Volksentscheid, die EU zu verlassen, belebt alte Gespenster. Die größte Protestantenpartei Nordirlands, die Democratic Unionist Party, wurde rätselhafterweise zur Verfechterin des Brexit, obwohl Nordirland mehrheitlich dagegen gestimmt hatte. Ihr Pakt mit den britischen Konservativen verleiht ihr seit Juni 2017 ungebührlichen Einfluss.
Im Mai 2011 besuchte Queen Elizabeth Irland. Zu sehen sind die britische Königin, wie sie von Schülerinnen und Schülern begrüßt wird. 
Historisches Ereignis: Im Mai 2011 besuchte Queen Elizabeth Irland.© picture alliance/dpa/Irish Government Pool

Katholiken und Protestanten sind bei Wahlen fast gleich stark

Nordirische Wahlergebnisse zeigen in den letzten Jahren, dass Katholiken und Protestanten, Nationalisten und Unionisten, inzwischen ungefähr gleich stark sind. Doch ihre gemeinsam gebildete Regierung ist vor über zwei Jahren im Streit zerbrochen, die Provinz wird von Beamten unter der Aufsicht einer gänzlich ahnungslosen britischen Ministerin verwaltet.
Der Umstand, dass die irische Regierung die EU zu überzeugen vermochte, dass der Status der irischen Grenze zur Kernfrage der Brexitverhandlungen werden müsse, hat die Unionisten erbost und die Engländer verwirrt. Denn wenn der Brexit eines enthüllt hat, dann ist es die grenzenlose Ignoranz der Engländer über ihrem Nachbarland. Die irische Grenze kam während des Brexit-Referendums nicht zur Sprache, in der irrigen Annahme vielleicht, dass die Republik ebenfalls aus der EU austreten würde. Doch das war nie eine Option.

Die Identitäten haben noch Sprengkraft

So hat der Brexit Nordirland erneut polarisiert und die Beziehungen zwischen London und Dublin vergiftet. Die irische Wiedervereinigung, vor der die protestantischen Nordiren früher panische Angst hatten, war durch das Karfreitagsabkommen 1998 eigentlich von der Tagesordnung verschwunden.
Nun taucht der Gedanke wieder auf und ist sogar zu einem denkbaren Szenario geworden, das unter gewissen Umständen sogar in Nordirland mehrheitsfähig sein könnte. Der Preis aber wäre hoch, denn der britische Fiskus subventioniert Nordirland derzeit mit rund zehn Milliarden Pfund pro Jahr.
Sprengkraft steckt vor allem im Konflikt der Identitäten: Eine knappe Million Nordiren versteht sich als Briten, sie sind sich ihrer Minderheitsposition auf der Insel Irland bewusst, was ihre Wagenburg-Mentalität begründet. Wie können ihre Werte und Sehnsüchte geschützt werden in einem progressiven, säkularen Irland?
Die Sorge, dass durch den Brexit nicht nur mental, sondern auch real die alten Schützengräben wieder ausgehoben werden, ist nicht unbegründet.
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