England vor dem Brexit

"Es wird eine sehr chaotische Zeit"

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Im Containerhafen von Southampton: Zwei Frauen auf einer Bank, im Hintergrund eine Wand aus Containern
Im Containerhafen von Southampton: Wie es für den Handel zwischen der EU und Großbritannien nach dem Brexit weitergeht, ist noch immer ungewiss. © imago images / Xinhua / Tim Ireland
Von Christine Heuer · 22.12.2020
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Die Zeit wird knapp für einen Brexit-Deal – und noch knapper für britische Unternehmen, um sich auf die neuen Vorgaben einzustellen: Viele fürchten deswegen den Zusammenbruch von Lieferketten, das Aus für Unternehmen und Arbeitsplätze.
In Greenford am westlichen Rand von London stellt Brompton Bike seit mehr als 50 Jahren seine berühmten Falträder her. In einer einzigen Fabrikhalle baut, lötet und lackiert die Hälfte der 500 Mitarbeiter täglich 400 der kleinen Flitzer mit ikonischem Design in vielen bunten Farben. Konzentriert bedienen drei Fahrradbauer die Schleifmaschine. Danach wird per Hand nachgearbeitet.
Will Butler-Adams leitet Brompton Bike seit zwölf Jahren. 2020 war auch für die Fahrradmanufaktur schwierig. Von Covid hat man sich nicht unterkriegen lassen. Als in der Pandemie die Bauteile knapp wurden, griffen seine Leute auf den Vorrat zurück, den sie für den Brexit angelegt hatten. Der ist jetzt aufgebraucht. Ist Butler-Adams auf den endgültigen EU-Austritt vorbereitet?

Auf das Schlimmste vorbereiten

"Nein", sagt der Firmenchef. Bei Brompton bauen sie viele Teile selbst. Zwei Drittel dessen, was in einem Faltrad steckt, importiert die Firma trotzdem aus Asien und der Europäischen Union. Die EU ist auch ein wichtiger Absatzmarkt. Trotzdem glaubt Will Butler-Adams, den No-Deal bewältigen zu können.
"Es ist so einfach. Es gibt nur eins, worauf man sich vorbereiten kann: das Schlimmste. Bereitet Euch nicht auf zehn Millionen Varianten in der Mitte vor."
Bei Brompton Bike heißt das: Man geht von viel Papierkram aus ab dem neuen Jahr – und von Zöllen auf Material und das fertige Produkt. Die englischen Falträder sind ohnehin kostspielig. Wenn sie noch teurer werden: Schreckt das die Kunden nicht ab? Butler-Adams bleibt gelassen. Es ist nicht ideal, sagt er, aber auch nicht das Ende der Welt.
"Es gibt ein paar Branchen, die der Brexit erledigen kann. Aber es ist die Minderheit. Die Mehrheit der Firmen muss das Problem erkennen, sich darauf konzentrieren und damit produktiv umgehen – und dann zum Alltag zurückkehren."

Lieferketten in Gefahr

Honda in Swindon stolpert derzeit eher durch den Alltag. Anfang Dezember musste das Werk, das den Civic für britische Käufer baut, vorübergehend schließen. Wegen Covid sind die Fertigungsteile aus dem Ausland knapp geworden. Wegen des drohenden Brexit liefert alle Welt, was immer geht, so früh wie möglich. In den Häfen stauen sich die Schiffe und können nicht gelöscht werden.
Blick auf eine Fläche im Außenbereich die über und über mit Autos der Marke Honda vollgestellt ist
Hondas warten auf die Auslieferung: Dem Autowerk in Großbritannien machte bereits die Coronakrise schwer zu schaffen.© Gettyimages / Matt Cardy
Honda setzt wie die gesamte Branche auf "just in time", kurzfristige Material-Lieferungen pünktlich zur Produktion. Das spart Lagerkosten, erweist sich gerade jedoch als fatal. Was Honda jetzt schon passiert ist, droht bei einem Brexit ohne Deal der gesamten Branche. Und zwar langfristig. Die Lieferketten sind in Gefahr. Ohne einen Handelsvertrag könnte der Warenaustausch zwischen Insel und Kontinent zu teuer werden, um sich noch zu lohnen. Der britische Automobilverband SMMT appelliert deshalb ohne Unterlass an die britische Regierung.
"Wir brauchen diesen Deal. Keine Zölle, Keine Quoten. Und wir brauchen Zeit, ihn umzusetzen. Ohne einen Deal werden wir schrumpfen."

Wettbewerbsfähigkeit steht auf dem Spiel

Arbeitsplätze und Unternehmen stehen vor dem Aus, warnt SMMT-Chef Mike Hawes. Dass die Regierung Johnson kurz vor knapp noch immer nicht sagt, wohin die Reise geht, hält er für unverantwortlich.
"Leider gibt es keinen Impfstoff gegen den Brexit. Während die Uhr immer schneller tickt für einen Vertrag mit der EU in letzter Sekunde, steht unsere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Spiel. Die politische Hängepartie gefährdet Jobs und Lebensgrundlagen."

Am Brexit hängt ja auch jede Menge Papierkram. Was genau müssen Produzenten und Lieferanten nachweisen: für ihre Waren und an den Grenzen? Was müssen sie Zöllnern vorweisen können, was in ihre Computersysteme einspeisen?
"Bereitet Euch vor!", ruft der Premierminister der Wirtschaft immer wieder zu. Manchmal verweist Boris Johnson dann noch auf Informationen, die jeder auf der Regierungswebsite einsehen könne. Nicht nur die Autoindustrie hält das für einen schlechten Witz. Mike Hawes:
"Inzwischen ist die Zeit so knapp geworden, dass die Wirtschaft fordert, neue Regeln, wenn sie denn da sind, erst einmal auszusetzen, damit Unternehmen und Logistiker nicht ganz im Chaos versinken."

Lieferchaos wegen Corona

Am Hafen von Dover herrscht bereits Chaos. Er ist eines der wichtigsten Drehkreuze für Britanniens Handel mit der Europäischen Union. 5000 LKW passieren Tag für Tag auf Fähren den Ärmelkanal. Seit Wochen läuft das nicht mehr glatt. Zuerst gab es Staus wegen der vorgezogenen Lieferungen, jetzt gibt es noch mehr Staus, weil in England ein neues Coronavirus grassiert und Frankreich am Sonntag Dovers Schwesterhafen in Calais gesperrt hat. Das bringt die Lebensmittelbranche in akute Schwierigkeiten.
Großbritannien importiert das meiste frische Obst und Gemüse aus der EU. Umgekehrt ist Europa der wichtigste Absatzmarkt für britische Viehbauern und Fischer. Richard Burnett ist Vorsitzender beim britischen Güterverkehrsverband. Er hat den Überblick – und sieht eine düstere Zukunft voraus.
"Wir werden ein chaotisches erstes Quartal haben. Es geht los mit den Zoll-Erklärungen, wir haben zu wenige Beamte. Manche Branchen werden gar keinen Handel mehr treiben können. Der Umsatz geht zurück – und das kostet Jobs. Es wird eine sehr chaotische Zeit, besonders ohne Deal, ganz sicher."
Die Brexiteers auf der Insel nennen so etwas "Angstmacherei". Boris Johnson verspricht bei jeder Gelegenheit, das Königreich werde mächtig gedeihen – mit oder ohne Deal. Richard Burnett hält das für Augenwischerei.
"Ich bin seit 35 Jahren in der Logistikbranche. Das ist keine Angstmacherei. Das ist, was passiert, wenn Unternehmen mit finanziellen Lasten konfrontiert werden, die sie nicht tragen können. Es ist die Folge, wenn man Reibung erzeugt, die praktische Seite des Brexit."
Nicht nur am Hafen von Dover, in ganz Britannien müssen sie starke Nerven behalten.
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