England unter der Oberfläche

11.06.2008
Der britische Autor John Harvey vermischt in seinen Krimis geschickt das Privatleben seiner Helden mit der eigentlichen "crime story" und mit Einblicken in das heutige England. Sein Held, der ehemalige Nottinghamer Detective Inspector Frank Elder, wird aus seinem Exil in Cornwall zurückgeholt nach Nottingham, um einen mysteriösen Fall aufzuklären, der ihn an seinen ersten Fall bei der Polizei erinnert.
Leute haben bisweilen ihre Gründe zu verschwinden. Dass andere die nicht kennen, ist vielleicht beunruhigend für sie, aber für die Polizei kein Grund, sich einzumischen. Erwachsene haben nun mal das ganz normale Bürgerrecht, sich unauffindbar zu machen. Auch Claire Meecham. Trotzdem ist kaum etwas normal an diesem Fall, an diesem Roman. Obwohl, nein: weil sie bald aufgefunden wird.

Zum dritten (und letzten) Mal holt John Harvey seinen Frank Elder aus dem selbstverordneten Exil im stillen Cornwall zurück nach Nottingham und mitten hinein ins Gestrüpp aus Privatkatastrophen und Polizeiarbeit. Elder war bis vor vier Jahren Detective Inspector in Nottingham gewesen und nach 30 Dienstjahren aus der gewohnten Zivilisation verschwunden.

Seine Frau Joanne ist noch immer verbandelt mit dem Kerl, mit dem sie ihn jahrelang unbemerkt betrogen hatte - Elders Trauma. Das Verhalten seiner Tochter Katherine ist noch immer nicht störungsfrei, sie hatte eine psychopathische Gewaltattacke überlebt - ihr Trauma. Und das des Vaters: Er hatte sie nicht davor bewahrt und übersetzt seitdem sein Schuldgefühl in ständige Angst um sie.

Und schließlich das der Mutter. Joanne wirft ihm vor: "Das wäre ihr nie passiert, wenn du dich nicht eingemischt hättest!" Die Heisenbergsche Unschärferelation aus dem Bauch. Mit doppeltem Gewinn für sie: Sie hält seine Schuldgefühle am Köcheln und lässt dahinter ihre eigenen verschwinden.

Schon ihr Verrat hatte ihm einen doppelten Verlust zugefügt: den seiner Ehe und seiner Arbeit. Das emotionale Chaos hatte ihm den Schutzschild gegen das Grauen von Mordermittlungen weggerissen. "Auch er war lange Zeit in der Lage gewesen, das alles nicht an sich herankommen zu lassen, aber dann war es ihm irgendwie nicht mehr gelungen", überlegt er, als ihm jetzt seine Ex-Kollegin Maureen Prior vom Arbeitsalltag erzählt.

Eigentlich ist er nur kurz da. Auf Wunsch von Joanne. Claire Meecham ist die Schwester ihrer Freundin Jennie, und er mit seinen Polizeidrähten müsse der helfen, Claire zu finden. Er findet schnell das Doppelleben der biederen Claire heraus, in Chatrooms zur Anbahnung von - ja was? Sex? Claire selbst wird später auch gefunden: im eigenen Bett, bekleidet, mit einem Teddy im Arm, tot. Ein Fall für Maureen Prior also. Und sie will Elder dabei haben, denn diese Tote erinnert beide an Irene Fowler, ihre erste gemeinsame Ermittlung. Der Mörder wurde nie gefunden. Noch ein Trauma.

Das immerhin ist am Ende gelöst, beide Fälle ebenso aufgeklärt wie die rätselhaften Einschübe, datiert Mitte der 60er Jahre, in denen eine Kindertherapeutin sich um einen verbockten Jungen bemüht.

Bis dahin haben wir Leser einen unaufgeregten, aber umso tieferen Blick in ein Stück England heute geworfen anhand von Figuren mit Bodenhaftung, die mit jedem Detail dichter werden, anhand des mit großer Kunst geknüpften Plots und anhand des Bodens, in dem alles wurzelt: Die Stadt, die jemand, wie Elder sich erinnert, "als dreckiges Loch, trübe und trist geschildert hatte. Aber trotzdem hatte sie etwas an sich. Etwas, das einen nie ganz losließ, wenn man einmal dort gelebt hatte."

Auch John Harvey nicht, den geborenen Londoner, der lange Jahre als Lehrer in der Stadt gelebt hat, aus der "Das heißt Lawrence" und "Alan Sillitoe" kommen, und jetzt wieder in London lebt. In Nottingham, sagt er, "schlägt mein schreibendes Herz noch immer am stärksten." Er schreibt diese Stadt und hat sie damit zum universalen Schauplatz der Kriminalliteratur gemacht.

Rezensiert von Pieke Biermann

John Harvey: Schlaf nicht zu lange
Deutsch von Sophie Kreutzfeldt
Roman, dtv, München 2008
430 Seiten, 8,95 Euro