Engin: "Diese Kampagnen verfangen nicht mehr"
Nach Ansicht der Erziehungswissenschaftlerin Havva Engin hat der Ausgang der Hessen-Wahl gezeigt, dass populistische Kampagnen beim Wähler nicht mehr ankommen. Der Wähler möchte nicht für dumm gehalten werden, sagte Engin. Die Diskussion um Migration und Jugendgewalt müsse versachlicht und Ursachenforschung betrieben werden.
Katrin Heise: Roland Kochs Wahlkampfthema Gewalt junger Migranten und vor allem seine Problemlösungen, nämlich Strafverschärfung und Abschiebung, erregten bundesweit die Gemüter. Der Vorwurf, dass er nicht die ehrliche Debatte suche, sondern rassistische Vorurteile aufwärme, dieser Vorwurf, der hat Koch eigentlich nicht angefochten. Nun haben die Wähler entschieden. Die hessische CDU brach ein. Die hessische SPD ging nach oben. Man hat ein Patt ausgelöst. Dr. Havva Engin ist Juniorprofessorin an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, Spezialgebiet interkulturelle Pädagogik und Sprachförderung. Sie hat in der "Zeit" einen offenen Brief von 21 prominenten Deutsch-Türken mit unterschrieben. Schönen guten Tag, Frau Engin!
Havva Engin: Ja, guten Morgen, Frau Heise!
Heise: Wie bewerten Sie denn nun den Wahlausgang gestern in Hessen?
Engin: Ja, ich bin froh, dass der Wahlkampf des Herrn Koch, mit Parolen und Polarisierung Stimmung zu machen und Wählerstimmen gewinnen zu wollen, nicht aufgegangen ist.
Heise: Sagt denn das Wahlergebnis tatsächlich was über den Umgang der Deutschen oder der Wähler mit dem Themen Migration oder Integration aus?
Engin: Ich würde sagen Ja. Zumindest das, was sich aus der Presse entnommen habe, sind ihm ja gerade die jungen Wähler davon gelaufen. Gerade, er ist eingebrochen bei den Wählern unter 30 und bei den Wählern der Altersgruppe 35, 49, die diesen Parolen der Polarisierung, glaube ich, nicht aufgesessen sind und sehr wohl eine sehr differenzierte Diskussion auch dieser Thematik verlangen.
Heise: Das heißt, populistische Kampagnen würden nicht mehr so verfangen? Sehen Sie das jetzt mal so generell, oder hat das was speziell mit Roland Koch zu tun?
Engin: Ich glaube, diese Kampagnen verfangen nicht mehr. Die Gesellschaft hat sich verändert. Und ich sage es jetzt mal sehr zugespitzt, der Wähler möchte nicht für dumm gehalten werden. Herr Koch ist selber dran Schuld oder zumindest sein Team, zuzuspitzen auf eine bestimmte Klientel, die, sagen wir es mal ganz konkret, die jungen Ausländer dafür verantwortlich zu machen, aber dann gleichzeitig zu verheimlichen, dass er eben seit Jahren an der Macht ist und nichts zur Verhinderung beigetragen hat. Auch wenn die Diskussion eine unsachliche ist. Er hat ja noch weitere Baustellen aufgemacht durch diese Zuspitzung, nämlich die Bildungsdiskussion, die Diskussion in der Justiz, die Diskussion in der Polizei, dass da massiv Stellen abgebaut worden sind. Das heißt, er hat letztendlich versucht, mit dem Stimmung zu machen, was er mit verschuldet hat. Und das ist nicht aufgegangen. Und das finde ich, ist in Ordnung.
Heise: Wenn Sie sagen, so populistische Kampagnen würden nicht mehr verfangen, ist das ja ein sehr positives Urteil über die Wähler. Nun scheint gerade Herr Koch bisher ja immer gern mal wieder die Ausländerkarte gezückt zu haben. Gestern wurde auch in Niedersachsen gewählt. Da hat die CDU ohne solchen Kampagnen einen Wahlsieg errungen. Wie nehmen Sie die Strömung in der Union auf diesem Feld Integration, Migration wahr?
Engin: Zumindest nicht auf der Linie von Herrn Koch. Ich war ja auch zweimal auf den Integrationsgipfel eingeladen und habe Frau Merkel und Frau Böhmer, die Beauftragte für Integration und Migration, eigentlich immer ganz anders wahrgenommen und viel sachlicher in der Diskussion. Und wir haben ja diesen Integrationsgipfel und diesen Maßnahmenkatalog gegossen in den Integrationsplan ja auch. Und da sind ganz andere Töne. Da ist eine viel sachlichere Diskussion. Und das, denke ich, ist die Linie der CDU.
Frau Merkel hat Herrn Koch unterstützt. Ich glaube, einerseits, weil sie es musste. Sie ist Parteivorsitzende. Und zweitens, um einfach zu sehen, kann man mit solchen Kampagnen noch überhaupt Stimmen bekommen. Und jetzt haben sie gesehen, nein, das geht nicht. Und das sollte auch ein Warnsignal jetzt an die gesamte CDU sein, von so etwas künftig die Finger zu lassen.
Heise: Sie meinen, das war auch so eine Art Probelauf?
Engin: Ich würde sagen Ja, auf jeden Fall. Das hat eben gesamtdeutsche Bedeutung. Und das zeigt, dass solche Themen einfach nicht mehr angemessen sind und auch eben nicht dem Zeitgeist entsprechen. Ich würde nur sagen, es gibt Zahlen, die sind eben ganz sachlich. Die sagen, jeder fünfte in dieser Gesellschaft hat einen Migrationshintergrund. Da kann ich nicht mehr kommen und mit solchen Parolen und Stigmatisierung der Migranten auf Stimmenfang gehen.
Heise: Was erwarten Sie jetzt speziell von den konservativen Parteien in Sachen Integration?
Engin: Ich erwarte eine sachliche Diskussion. Ich meine, es sind ja alles intelligente Menschen und in den Arbeitsgruppen haben wir ja gesehen, wo es tatsächlich eben hakt, was wir versäumt haben in den letzten Jahrzehnten der Zuwanderung, dass wir die Augen verschlossen haben und dass sich die Probleme angehäuft haben und auch eine Tatsache, die von eigentlich allen akzeptiert wird: Einige der Miseren sind hausgemacht. Ich kann Menschen, die in der dritten Generation in diesem Land leben, wo die Eltern schon hier geboren sind und als junge Menschen, kleine Kinder eingewandert sind, nicht als Ausländer deformieren und stigmatisieren und sagen, die schieb ich ab. Das ist deren Heimat. Ich kann niemanden aus seiner Heimat vertreiben. Deutschland ist die Heimat der meisten Migranten geworden. Und insofern hat das auch Unverständnis ausgelöst bei den Migranten, was da Herr Koch von sich gegeben hat. Das ist ein Stück weit auch wirklich Verletzung auch der eigenen Gefühle.
Heise: Im Radiofeuilleton spreche ich mit Havva Engin, die einen offenen Brief an die Unionsparteien gegen Wahlkampfpopulismus mit verfasst hat. Ich spreche mit ihr über den Ausgang der Hessenwahl. Frau Engin, in Ihrem Brief schreiben Sie, wir müssen an die kulturellen Hintergründe ran. Stichwort Machokultur. Eltern müssen begreifen, dass ihre Söhne nicht alles tun und lassen dürfen, was sie wollen. Aber jetzt gefragt: Wie soll das geschehen? Das ist ja nun weniger die Verantwortung die Parteien.
Engin: Sicher. Da ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Und der müssen wir uns auch stellen. Das ist eine vielschichtige Thematik. Und das geht eben tatsächlich damit los, dass wir lange Zeit auch in der Forschung gar nicht hineingeguckt haben, was sind die Sozialisationsbedingungen. Was ist die Situation in Migrantenfamilien? Was passiert in den einzelnen Generationen? Und da passiert ja eine ganze Menge. Es ist ein Unterschied, ob jemand eben damals vor 40 Jahren eingewandert ist, jetzt in der dritten Generation diese Familie hier lebt. Es gibt da Konfliktfälle. Und das muss eben viel differenzierter tatsächlich aufgearbeitet werden. wissenschaftlich, empirisch. Und wir müssen auch gesamtgesellschaftliche Lösungen anbieten.
Ich will nur ein Beispiel nennen, diese Gewaltgeschichte. Man muss mal wirklich fragen, wird in Migrantenfamilien mehr Gewalt ausgeübt? Tatsächlich, empirisch fundiert, wenn ja, warum. Was sind die Ursachen? Und ist es wirklich noch so, dass gerade in den sehr, sehr schwierigen Kontexten die Väter die Söhne prügeln oder überhaupt die Familie? Ich sage es mal sehr drastisch. Oder hat da zum Beispiel nicht ein Wechsel stattgefunden? In manchen Familien wissen wir zum Beispiel, wird die Gewalt jetzt von den Jungs ausgeübt, weil die Väter auch die Rolle des Familienoberhaupts verloren haben, weil sie keine Arbeit haben, kein Einkommen haben, keinen Status mehr haben. Da sind sehr, sehr viele Umbrüche. Die sind sehr schmerzhaft. Das erleben Migrantenfamilien wirklich im Schnelldurchlauf. Und dazu kommen mit sehr zugespitzten Feststellungen, Parolen, hilft nicht weiter.
Heise: Vor allem erst mal genauer hingucken?
Engin: Ja.
Heise: Wichtig beim Hessischen Wähler war ja von Anfang an ein ganz anderes Thema, nämlich Schule und Bildung. Und das hat ja nun auch direkt mit Aussichten und Perspektiven von Migranten zu tun. Was erwarten Sie da?
Engin: Ja, unbedingt. Das Schlagwort war ja immer Bildungschancen, Bildungsgerechtigkeit. Wir müssen uns tatsächlich als eben Gesellschaft die Frage stellen, was sind uns unsere Kinder wert, was ist uns unsere Zukunft wert, und zwar alle unsere Kinder. Und da nicht immer sagen, Migranten, Ausländer usw., in Untergruppen, sondern das ist die Zukunft Deutschlands. Und es kann nicht angehen, dass wir uns noch ein Schulsystem leisten, was Sitzenbleiber produziert und darüber hinaus auch einen bestimmten Teil der Jugendlichen ohne Schulabschluss entlässt. Das ist für eine Industrienation ein Skandal, dass wir Menschen haben, Kinder haben, zukünftige Bürger, der jetzige Bürger schon, denen wir keine Perspektive geben. Das muss man sich vorstellen. Wir entlassen 15-,16-Jährige mit nichts in der Hand und sagen, macht das Beste draus, werdet ein loyaler Staatsbürger. Die Rechnung kann nicht aufgehen.
Heise: Also Bildung viel wichtiger nehmen. Gestern haben die Linken gewonnen. In zwei Landtagen im Westen sitzen sie jetzt drin. Was haben Sie da für Hoffnungen in Fragen Migration, Integration?
Engin: Eigentlich bestätigt sich ja immer, dann wenn man in der Verantwortung ist, inwieweit die Programmatik, die man aufs Papier gebracht hat, tatsächlich Bestand hat. Ich habe jetzt die Linken zumindest nur in Berlin für mich gesehen, wenn sie in der Verantwortung sind, was sie von dieser Programmatik eben versuchen umzusetzen. Und da kommt natürlich ein Stück weit dann Realpolitik hinzu. Aber zumindest von den Ansätzen her - Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit für alle, Bildungsabschlüsse usw., Berufsausbildung - da denke ich, ist es auf jeden Fall lohnenswert, dass sie drin sind, dass sie die Diskussion, die politische Diskussionskultur mit begleiten, mit befruchten werden. Und es kann nur fruchtbar sein für alle.
Havva Engin: Ja, guten Morgen, Frau Heise!
Heise: Wie bewerten Sie denn nun den Wahlausgang gestern in Hessen?
Engin: Ja, ich bin froh, dass der Wahlkampf des Herrn Koch, mit Parolen und Polarisierung Stimmung zu machen und Wählerstimmen gewinnen zu wollen, nicht aufgegangen ist.
Heise: Sagt denn das Wahlergebnis tatsächlich was über den Umgang der Deutschen oder der Wähler mit dem Themen Migration oder Integration aus?
Engin: Ich würde sagen Ja. Zumindest das, was sich aus der Presse entnommen habe, sind ihm ja gerade die jungen Wähler davon gelaufen. Gerade, er ist eingebrochen bei den Wählern unter 30 und bei den Wählern der Altersgruppe 35, 49, die diesen Parolen der Polarisierung, glaube ich, nicht aufgesessen sind und sehr wohl eine sehr differenzierte Diskussion auch dieser Thematik verlangen.
Heise: Das heißt, populistische Kampagnen würden nicht mehr so verfangen? Sehen Sie das jetzt mal so generell, oder hat das was speziell mit Roland Koch zu tun?
Engin: Ich glaube, diese Kampagnen verfangen nicht mehr. Die Gesellschaft hat sich verändert. Und ich sage es jetzt mal sehr zugespitzt, der Wähler möchte nicht für dumm gehalten werden. Herr Koch ist selber dran Schuld oder zumindest sein Team, zuzuspitzen auf eine bestimmte Klientel, die, sagen wir es mal ganz konkret, die jungen Ausländer dafür verantwortlich zu machen, aber dann gleichzeitig zu verheimlichen, dass er eben seit Jahren an der Macht ist und nichts zur Verhinderung beigetragen hat. Auch wenn die Diskussion eine unsachliche ist. Er hat ja noch weitere Baustellen aufgemacht durch diese Zuspitzung, nämlich die Bildungsdiskussion, die Diskussion in der Justiz, die Diskussion in der Polizei, dass da massiv Stellen abgebaut worden sind. Das heißt, er hat letztendlich versucht, mit dem Stimmung zu machen, was er mit verschuldet hat. Und das ist nicht aufgegangen. Und das finde ich, ist in Ordnung.
Heise: Wenn Sie sagen, so populistische Kampagnen würden nicht mehr verfangen, ist das ja ein sehr positives Urteil über die Wähler. Nun scheint gerade Herr Koch bisher ja immer gern mal wieder die Ausländerkarte gezückt zu haben. Gestern wurde auch in Niedersachsen gewählt. Da hat die CDU ohne solchen Kampagnen einen Wahlsieg errungen. Wie nehmen Sie die Strömung in der Union auf diesem Feld Integration, Migration wahr?
Engin: Zumindest nicht auf der Linie von Herrn Koch. Ich war ja auch zweimal auf den Integrationsgipfel eingeladen und habe Frau Merkel und Frau Böhmer, die Beauftragte für Integration und Migration, eigentlich immer ganz anders wahrgenommen und viel sachlicher in der Diskussion. Und wir haben ja diesen Integrationsgipfel und diesen Maßnahmenkatalog gegossen in den Integrationsplan ja auch. Und da sind ganz andere Töne. Da ist eine viel sachlichere Diskussion. Und das, denke ich, ist die Linie der CDU.
Frau Merkel hat Herrn Koch unterstützt. Ich glaube, einerseits, weil sie es musste. Sie ist Parteivorsitzende. Und zweitens, um einfach zu sehen, kann man mit solchen Kampagnen noch überhaupt Stimmen bekommen. Und jetzt haben sie gesehen, nein, das geht nicht. Und das sollte auch ein Warnsignal jetzt an die gesamte CDU sein, von so etwas künftig die Finger zu lassen.
Heise: Sie meinen, das war auch so eine Art Probelauf?
Engin: Ich würde sagen Ja, auf jeden Fall. Das hat eben gesamtdeutsche Bedeutung. Und das zeigt, dass solche Themen einfach nicht mehr angemessen sind und auch eben nicht dem Zeitgeist entsprechen. Ich würde nur sagen, es gibt Zahlen, die sind eben ganz sachlich. Die sagen, jeder fünfte in dieser Gesellschaft hat einen Migrationshintergrund. Da kann ich nicht mehr kommen und mit solchen Parolen und Stigmatisierung der Migranten auf Stimmenfang gehen.
Heise: Was erwarten Sie jetzt speziell von den konservativen Parteien in Sachen Integration?
Engin: Ich erwarte eine sachliche Diskussion. Ich meine, es sind ja alles intelligente Menschen und in den Arbeitsgruppen haben wir ja gesehen, wo es tatsächlich eben hakt, was wir versäumt haben in den letzten Jahrzehnten der Zuwanderung, dass wir die Augen verschlossen haben und dass sich die Probleme angehäuft haben und auch eine Tatsache, die von eigentlich allen akzeptiert wird: Einige der Miseren sind hausgemacht. Ich kann Menschen, die in der dritten Generation in diesem Land leben, wo die Eltern schon hier geboren sind und als junge Menschen, kleine Kinder eingewandert sind, nicht als Ausländer deformieren und stigmatisieren und sagen, die schieb ich ab. Das ist deren Heimat. Ich kann niemanden aus seiner Heimat vertreiben. Deutschland ist die Heimat der meisten Migranten geworden. Und insofern hat das auch Unverständnis ausgelöst bei den Migranten, was da Herr Koch von sich gegeben hat. Das ist ein Stück weit auch wirklich Verletzung auch der eigenen Gefühle.
Heise: Im Radiofeuilleton spreche ich mit Havva Engin, die einen offenen Brief an die Unionsparteien gegen Wahlkampfpopulismus mit verfasst hat. Ich spreche mit ihr über den Ausgang der Hessenwahl. Frau Engin, in Ihrem Brief schreiben Sie, wir müssen an die kulturellen Hintergründe ran. Stichwort Machokultur. Eltern müssen begreifen, dass ihre Söhne nicht alles tun und lassen dürfen, was sie wollen. Aber jetzt gefragt: Wie soll das geschehen? Das ist ja nun weniger die Verantwortung die Parteien.
Engin: Sicher. Da ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Und der müssen wir uns auch stellen. Das ist eine vielschichtige Thematik. Und das geht eben tatsächlich damit los, dass wir lange Zeit auch in der Forschung gar nicht hineingeguckt haben, was sind die Sozialisationsbedingungen. Was ist die Situation in Migrantenfamilien? Was passiert in den einzelnen Generationen? Und da passiert ja eine ganze Menge. Es ist ein Unterschied, ob jemand eben damals vor 40 Jahren eingewandert ist, jetzt in der dritten Generation diese Familie hier lebt. Es gibt da Konfliktfälle. Und das muss eben viel differenzierter tatsächlich aufgearbeitet werden. wissenschaftlich, empirisch. Und wir müssen auch gesamtgesellschaftliche Lösungen anbieten.
Ich will nur ein Beispiel nennen, diese Gewaltgeschichte. Man muss mal wirklich fragen, wird in Migrantenfamilien mehr Gewalt ausgeübt? Tatsächlich, empirisch fundiert, wenn ja, warum. Was sind die Ursachen? Und ist es wirklich noch so, dass gerade in den sehr, sehr schwierigen Kontexten die Väter die Söhne prügeln oder überhaupt die Familie? Ich sage es mal sehr drastisch. Oder hat da zum Beispiel nicht ein Wechsel stattgefunden? In manchen Familien wissen wir zum Beispiel, wird die Gewalt jetzt von den Jungs ausgeübt, weil die Väter auch die Rolle des Familienoberhaupts verloren haben, weil sie keine Arbeit haben, kein Einkommen haben, keinen Status mehr haben. Da sind sehr, sehr viele Umbrüche. Die sind sehr schmerzhaft. Das erleben Migrantenfamilien wirklich im Schnelldurchlauf. Und dazu kommen mit sehr zugespitzten Feststellungen, Parolen, hilft nicht weiter.
Heise: Vor allem erst mal genauer hingucken?
Engin: Ja.
Heise: Wichtig beim Hessischen Wähler war ja von Anfang an ein ganz anderes Thema, nämlich Schule und Bildung. Und das hat ja nun auch direkt mit Aussichten und Perspektiven von Migranten zu tun. Was erwarten Sie da?
Engin: Ja, unbedingt. Das Schlagwort war ja immer Bildungschancen, Bildungsgerechtigkeit. Wir müssen uns tatsächlich als eben Gesellschaft die Frage stellen, was sind uns unsere Kinder wert, was ist uns unsere Zukunft wert, und zwar alle unsere Kinder. Und da nicht immer sagen, Migranten, Ausländer usw., in Untergruppen, sondern das ist die Zukunft Deutschlands. Und es kann nicht angehen, dass wir uns noch ein Schulsystem leisten, was Sitzenbleiber produziert und darüber hinaus auch einen bestimmten Teil der Jugendlichen ohne Schulabschluss entlässt. Das ist für eine Industrienation ein Skandal, dass wir Menschen haben, Kinder haben, zukünftige Bürger, der jetzige Bürger schon, denen wir keine Perspektive geben. Das muss man sich vorstellen. Wir entlassen 15-,16-Jährige mit nichts in der Hand und sagen, macht das Beste draus, werdet ein loyaler Staatsbürger. Die Rechnung kann nicht aufgehen.
Heise: Also Bildung viel wichtiger nehmen. Gestern haben die Linken gewonnen. In zwei Landtagen im Westen sitzen sie jetzt drin. Was haben Sie da für Hoffnungen in Fragen Migration, Integration?
Engin: Eigentlich bestätigt sich ja immer, dann wenn man in der Verantwortung ist, inwieweit die Programmatik, die man aufs Papier gebracht hat, tatsächlich Bestand hat. Ich habe jetzt die Linken zumindest nur in Berlin für mich gesehen, wenn sie in der Verantwortung sind, was sie von dieser Programmatik eben versuchen umzusetzen. Und da kommt natürlich ein Stück weit dann Realpolitik hinzu. Aber zumindest von den Ansätzen her - Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit für alle, Bildungsabschlüsse usw., Berufsausbildung - da denke ich, ist es auf jeden Fall lohnenswert, dass sie drin sind, dass sie die Diskussion, die politische Diskussionskultur mit begleiten, mit befruchten werden. Und es kann nur fruchtbar sein für alle.