Endstation Transkarpatien

Von Ernst-Ludwig von Aster |
Wenn ansässige Bauern von einem Schneeglöckchen sprechen, dann haben sie wieder eine Leiche gefunden. Das geschieht in den Bergen von Transkarpatien besonders oft im Frühjahr, nach der Schneeschmelze. Die unwegsame Region in der Ukraine gehört zu den fünf Hauptrouten für Flüchtlinge auf dem Weg in die EU. Rund 5.000 Menschen wurden dort allein im letzten Jahr abgefangen. Viermal soviel wie vor drei Jahren – und die Zahl steigt.
Ein grauer Wohnblock am Rande von Ushgorod. Fünf Stockwerke, zehn Aufgänge. Davor spielen Kinder Fußball, eine Schaukel rostet unter Kastanienbäumen. An einer Bude an der Ecke stehen Frauen und Männer mit rot geäderten, verhärmten Gesichtern, trinken Bier aus der Flasche.

Es ist kalt und zugig im Treppenhaus. Nackte Steinstufen führen nach oben. Im fünften Stock eine dunkelbraune Tür, mit Klingel, aber ohne Namensschild.

Yasir blickt erst durch den Spion, öffnet dann die Wohnungstür, entschuldigt sich, dass die Besucher zwei Minuten warten mussten. "Wir haben gerade gebetet", sagt er. Sein Freund Mohammed schiebt schnell ein paar Schuhe zur Seite. Zehn Paar stehen in dem kleinen Flur.

Yasir bittet ins Wohnzimmer. Die alten Holzdielen knarren. Zwei Betten stehen an der Wand, daneben liegen zusammengerollte Matratzen. Unter dem Fenster breitet sich ein großer Schimmelfleck aus. In der Ecke steht ein kleiner Ölradiator. Yasir deutet auf eine Matratze:

"Das ist meine Matratze. Die lege ich hin, wo gerade Platz ist. Wir sind hier, eins, zwei, drei vier. Vier Männer und drei Frauen. Sieben Leute schlafen hier, die drei Frauen nebenan, wir vier hier."

Alle sieben kommen aus Somalia. Alle wollen in die EU. Und alle wurden schon einmal an der Grenze festgenommen. Die beiden Freunde setzen sich aufs Bett, schieben ein Mobiltelefon beiseite: Yasir fährt sich mit der rechten Hand durchs kurze Haar, spricht schnell, gestikuliert, entschuldigt sich immer wieder für seine Aufgeregtheit...

"Erst seit vier Tagen sind wir aus dem Gefängnis raus. Vier Tage, richtig. Das sind wieder vier Tage normales Leben. Von morgens bis nachts in einer Wohnung."

Mohammed nickt. Sie haben Glück gehabt, dass ihre Landsleute in der kleinen Wohnung noch einmal zusammengerückt sind. "Die zehn Tage im Gefängnis waren hart", sagt Mohammed. Wo sie genau hinter Gitter saßen, wissen sie nicht:

"Wir nannten das Gefängnis nur 'Somali kuschat'. Das war das Einzige, was wir dort zu hören kriegten. 'Somali kuschat'. Das heißt: 'Somalis, essen!'"

Die beiden Freunde lachen. Um die 20 Jahre sind sie alt, sagen sie. Der eine kam über Kenia mit einem Touristenvisum nach Moskau, der andere über Dubai. In Kiew haben sich die beiden das erste Mal getroffen. In Somalia sollten wir für die Armee kämpfen, erzählen sie, beide haben sich geweigert. "Wir mussten das Land verlassen", sagt Yasir. Und: Alle unsere Freunde wollen weg.

"Niemand aus Somalia weiß, wie man über die Grenze nach Europa kommt. Aber jeder will weg. Auf der Suche nach einem sicheren und guten Leben. Darum versuchen alle, nach Europa zu kommen. Die somalisch-russische Mafia hat uns bis Moskau gebracht. Niemand kann sich vorstellen, wie anstrengend so eine Reise ist. Wie viele Probleme es gibt. Das ist wirklich hart."

Umgerechnet zweieinhalbtausend Euro hat jeder von ihnen für Pässe und Visa gezahlt. Hier an der Grenze waren noch einmal 400 Euro fällig. Für die Passage nach Ungarn. Die beiden Schleuser trugen Armeekleidung. Und waren maskiert, sagen sie. Eine Stunde waren sie in einem Auto unterwegs. Eigentlich sollten sie nachts die Grenze überqueren. Es wurde aber morgens. Und im Morgengrauen liefen sie acht Grenzern mit Hunden in die Arme. Die Schleuser aber entkamen...

"Vielleicht arbeiten sie mit den Schleusern zusammen. Ich weiß es nicht. Vielleicht lassen sie manchmal sieben Flüchtlingsgruppen durch. Und dann schnappen sie wieder zwei oder drei. Wir gehörten eben zu den zwei oder drei, die geschnappt wurden. Das war Pech ..."

Yasir zuckt mit den Schultern, lacht. Pech gehabt. So etwas Ähnliches ist allen, die hier wohnen, schon einmal passiert.

"Einige haben es dreimal probiert, manche viermal. Einige waren eineinhalb Jahre im Gefängnis, manche zwei Jahre. Aber am Ende haben sie es geschafft."

Nach Somalia geht niemand zurück. Sie wollen nicht. Die somalische Regierung will sie nicht. Und der Ukraine fehlt für eine Abschiebung das Geld.

Wenige Kilometer weiter eilt Mikolai Tovt gewichtig über den Behördenflur, öffnet einen schweren Aktenschrank. Tovt leitet den staatlichen Migrationsdienst in Transkarpatien.

"Sehen sie, wir haben hier mehr als 4000 Personenakten! Bald wird's knapp mit dem Platz. Alle Akten sind nach Herkunftsland sortiert. Wie gesagt, alles nur Papier, weil wir kein elektronisches Datensystem haben."

Durch Transkarpatien führt heute eine der Hauptflüchtlingsrouten Richtung EU. Vor allem Flüchtlinge aus Pakistan, Afghanistan, dem Irak und Somalia versuchen von hier aus, gen Westen zu gelangen, nach Ungarn, in die Slowakei oder nach Polen. Mehr als 10.000 illegale Grenzgänger wurden in den letzten drei Jahren allein in dieser Region festgenommen.

"Die Mehrheit der Migranten kommt über die russische oder weißrussische Grenze. Das sind 2000 Kilometer Grenze, die nicht gesperrt werden können. Ich stelle mir das Ganze wie einen riesigen Trichter vor, der an der Öffnung 2000 Kilometer breit ist und hier unten, in Transkarpatien, am Ausgang, sind es nur 120 Kilometer. Stellen Sie sich nur diese Menschenflut vor! Die kann keine Grenze aufhalten."

Am Ende des Trichters befindet sich – gewissermaßen - Tovts Migrationsdienst. Seit 2004 sind hier jährlich rund 1.000 Anträge auf Asyl eingegangen. Das ist etwa die Hälfte aller in der Ukraine überhaupt gestellten Anträge, rechnet Tovt vor.

Seine sieben Mitarbeiter nehmen die Asylanträge jedoch nur entgegen, um sie dann weiter nach Kiew zu leiten, an das Staatliche Komitee für Nationalitäten und Religionen. Dort wird entschieden. Wie die Verfahren ausgehen: Tovt zuckt mit den Schultern. Davon erfährt er nichts. Er kennt nur die Statistik, der zur Folge 97 Prozent aller Anträge abgelehnt werden. Tovt geht zurück in sein Büro, öffnet einen schmalen Stahlschrank, holt einen Stapel hellgrüner, gelber und rosafarbener Formulare hervor.

"Wir haben für die Antragsteller auf Anerkennung als Asylberechtigter und für die als Flüchtling anerkannten Personen sechs Typen von Dokumenten: zwei davon sind Passersatzpapiere und vier sind Aufenthaltsgenehmigungen."

Ausführlich erklärt Tovt Sinn und Zweck eines jeden Formulars. Er ist kaum zu bremsen. Seit 15 Jahren arbeitet er hier. Er weiß: Wechselnde Zuständigkeiten und eine permanente Unterfinanzierung kennzeichnen nicht nur seine Behörde, sondern die Flüchtlingspolitik des ganzen Landes.

500.000 Menschen befinden sich derzeit ohne Aufenthaltsstatus in der Ukraine, schätzt die International Organization for Migration, kurz IOM. Am 1. Januar trat auch noch das sogenannte Readmission-Abkommen mit der EU in Kraft. Dieses Abkommen erlaubt den EU-Staaten, abgelehnte Asylbewerber oder Flüchtlinge, die über die Ukraine eingereist sind, dorthin zurückzuschicken. Tovt schaut nachdenklich über den Rand seiner Brille:

"Nach Einschätzung von Experten kann die Ukraine dann aus der EU 150.000 bis 300.000 Migranten bekommen. Das ist eine beängstigende Zahl. Aber ich glaube nicht daran."

Tovt ist vorsichtig. Schließlich finanziert die EU den Neubau von Lagern für Flüchtlinge in der Ukraine. Schon jetzt nutzen einige EU-Staaten die nahe Grenze, um Migranten wieder loszuwerden. Eigentlich ist der erste EU-Staat, über den ein Flüchtling einreist, für die Prüfung eines Asylantrages zuständig, doch die Praxis sieht oft anders aus.

"Sehr oft bekommen die Flüchtlinge in diesem 1. EU-Mitgliedstaat nicht mal die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen. Innerhalb von einem oder zwei Tagen werden sie in die Ukraine abgeschoben. Das ist meiner Meinung nach eine negative Seite der Flüchtlingspolitik seitens der EU und einzelner Staaten. Außerdem fehlt die Kontrolle, wir wissen oft nicht, wer die Flüchtlinge sind, in welchem Stadium das Prüfverfahren ist. Also, es gibt viele offene Fragen."

Im kleinen Büro von Camz setzt Oksana Pavlovska den Wasserkocher auf. Dort liegt das Komitee der Medizinischen Hilfe Transkarpatien, eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen, die sich um Flüchtlinge in der Region kümmern.

Die Einwohner Transkarpatiens wissen wenig über die Flüchtlinge in ihrer Region, erzählt Oksana, während sie Tee und Kaffee macht. Auch sie selbst hat erst durch ihre Arbeit von ihnen erfahren.

"Ein, zwei Mal im Jahr habe ich dunkelhäutige Männer gesehen, sie sahen aus wie Touristen. Das hat mich nicht interessiert. Auch in der Zeitung liest man wenig über die Migranten. Aber im Internet gibt es einige Seiten, zum Beispiel Berichte der Grenztruppen. Diese Seiten checke ich jetzt jeden Tag."

Oksana stellt die Tassen auf einen Besprechungstisch aus Rattan. Die Büroeinrichtung ist ein Sammelsurium gebrauchter Möbel. Dann greift die 29-Jährige nach einem Stapel Papier, beginnt zu blättern.

Das seien Befragungen von Flüchtlingen aus Somalia, Afghanistan, Irak, Pakistan, Bangladesch, Äthiopien, Sri Lanka, Kongo, Simbabwe. Der Versuch, die alltäglichen Schicksale an der Schengengrenze zu dokumentieren. Besonders im Gedächtnis geblieben ist Oksana ein junger Mann, den sie vor ein paar Wochen beim regionalen Flüchtlingsdienst traf:

"Er konnte den Fragebogen nicht ausfüllen. Ich sah, dass es für ihn schwierig war zu schreiben. Er hatte Angst vor etwas. Dann begann er, uns von seiner Familie zu erzählen. Sie war ermordet worden. Sein Vater, seine Mutter, seine Geschwister. Er weinte. Denn zu dem Zeitpunkt hatte er bereits fünf Tage auf der Straße gelebt. Er wusste nicht, wohin, wie überleben. Auch ich konnte nicht weitermachen. Als Nadja und ich die Behörde verließen, haben auch wir angefangen zu weinen. Es ist manchmal sehr schwer, das alles zu verarbeiten. Diese Geschichten, die Informationen."

"Manchmal fühle ich mich unwohl, weil ich den Flüchtlingen kein Dach, kein Geld, keine Essen geben kann. Na ja, ich kann ihnen zu essen geben, aber nicht mehr. Sie können hierher kommen und von morgens bis abends hierbleiben, aber wirklich helfen können wir ihnen nicht."

Camz würde gerne einen Treffpunkt für die Flüchtlinge einrichten. Vielleicht eine Art Cafe mit rechtlicher und sozialer Beratung. Aber die kleine Hilfsorganisation hat zu wenig Geld. 250 Euro erhalten sie von einer europäischen Flüchtlingsorganisation. Das deckt gerade die Büromiete.

Oksana sucht in ihrem Computer nach einer Mail, die sie vor ein paar Tagen erhalten hat. Von einem jungen Afrikaner, mit dem sie öfter im Krankenhaus war. Wochenlang hatte sie nichts von ihm gehört, jetzt schreibt er:
"Liebe Oksana. Ich bin so froh, von Dir zu hören. Es tut mir leid, Dir mitteilen zu müssen, dass ich die Ukraine plötzlich verlassen habe. Ich bin jetzt in Deutschland und bekomme hier Asyl. Du warst sehr wichtig für mich. Ich bin sicher, ich werde Dich nicht vergessen. Auch wenn ich die Ukraine verlassen habe."

In dem grauen Wohnblock am Stadtrand sitzen Yasir und Mohammed auf dem Bett. Yasir fingert ein Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Keine Kopeke ist darin, kein einziger Geldschein. Nur ein kleiner Zettel. Seine Aufenthaltsgenehmigung – für 20 Tage.

In gut zwei Wochen wird die Aufenthaltsgenehmigung ablaufen. Bis dahin wird er einen Asylantrag stellen. "Der wird garantiert abgelehnt", haben ihm seine Landsleute erzählt. Und auch gleich gesagt, wie es weiterläuft: Yasir wird Beschwerde bei Gericht einlegen. Und automatisch eine Aufenthaltsgenehmigung für zwei Monate bekommen. Dann wieder eine für zwei Monate. Dann wieder eine für zwei Monate. So läuft das in der Ukraine, haben seine Mitbewohner erzählt. So war es bei ihnen. So wird es auch bei Yasir und Mohammed sein ...

"Aber ich habe keinen Flüchtlingsstatus. Es heißt nur: Du kannst hier eine Zeit bleiben. Aber Du hast keine Rechte. Wenn Du krank bist, kannst Du nicht zum Arzt gehen. Du darfst hier bleiben, das ist alles."

Yasir und Mohammed werden erst einmal hier bleiben. Zusammen mit ihren Mitbewohnern. Und auf die nächste Gelegenheit warten, illegal über die Grenze zu kommen.