Endlose Abfolge von Ziffern
Auf den unendlichen Kreislauf des Lebens will der japanische Künstler Tatsuo Miyajima mit seinen "Zahl-Werken" hinweisen. Sie sind Teil der Ausstellung "Zeit, Zahl und Kosmos - Time Train", die die Kunsthalle Recklinghausen anlässlich der Ruhrfestspiele zeigt.
Ein langer Zug rattert mit bläulich zuckenden Lichtern durch die abgedunkelte Kunsthalle in Recklinghausen. Modell-Lok und Miniatur-Waggons brauchen ihre Zeit, um das weite Schienenoval zu umrunden - dann fährt die Spielzeugkolonne ungebremst durch die weiße Wand, verschwindet durch eine Art Mauseloch. Drüben, im zweiten Raum, flutet von der Straße her Tageslicht herein.
Mehr als diese schlichte Lichtmetapher von Hell und Dunkel ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen: kein Spielzeugwunderland, weder Modellstädte noch typische Landschaften geben weitere Hinweise. Die Eisenbahn ist unübersehbar reduziert auf ihre nackte Funktion: den Transport von Menschen und Material. Langweilig wird es dennoch nicht. Ferdinand Ullrich, Direktor der Kunsthalle:
"Der interessanteste Moment ist natürlich, wenn der Zug, der in einer großen, mehrfach gewundenen Schleife durch die untere Etage fährt, von dem hellen Teil in den dunklen übergeführt wird. Das ist schon geradezu ein dramatischer Moment. Und das ist auch das Schöne an dieser Installation, die ja mit sehr einfachen Elementen, mit Spielzeugeisenbahnen, mit Modelleisenbahnen arbeitet."
Und mit Zahlen von eins bis neun: Digitale Zählwerke, wie sie im Innern der Waggons aufgehäuft liegen, sind das Markenzeichen des japanischen Künstlers Tatsuo Miyajima. Im Gegensatz zum kreisenden Analog-Zeiger auf dem Ziffernblatt markieren die im bläulichen Licht wie zufällig aufzuckenden Zahlen eine Art Zeitstrahl, eine endlose Gerade.
Aber gerade deshalb schiebt sich bei näherer, oder besser: intensiv-meditativer Betrachtung von Miyajimas Zugverkehr die Geschichte, die Vergangenheit immer stärker in den Vordergrund. In einem Gedankenraum, am Rande der Endlosschleife im Kleinstmaßstab zeichnen sich große historische Linien ab, stellen sich begriffsgeschichtliche Assoziationsketten ein. Mit Blick auf den gegenüberliegenden Bahnhof etwa, für den der massive Bunkerbau der Kunsthalle bis 1945 bei Bombenangriffen als Schutzraum diente, stellt sich die Frage, wer oder was denn in Deutschland so penibel beziffert, bürokratisch "auf Transport" geschickt wurde:
Tatsuo Miyajima: "Es liegen sehr viele Zählwerke im Zug - und der bringt sie sehr weit weg: so, wie Menschen im Zug nach Auschwitz gebracht wurden. Das ist das Bild. Doch im selben Moment sieht man: Das ist nur ein Zug, das sind nur Zahlen. Es bleiben also für jeden unterschiedliche Wege, das zu verstehen. Ich zeige meine Arbeit als Statement zum Holocaust, aber das Kunstwerk bleibt dennoch neutral."
So ganz neutral ist das blaue Licht als Symbol der Romantik natürlich nicht. Und auch die in ganz unterschiedlichen Rhythmen ablaufenden Zählwerke signalisieren, wie jedes scheinbar rational vorhersehbares Kalkül durch ein unbestimmbares Schicksal gebrochen wird. Doch nicht nur in symbolischen Andeutungen, sondern auch in kleinen, aber handfesten Details sieht Kunsthallenchef Ferdinand Ulrich eine politische Botschaft:
"Wenn man sich dann mit der ästhetischen Erscheinung näher beschäftigt, merkt man: Die Eisenbahnmodelle sind eben Modelle aus den dreißiger Jahren. Züge, mit denen in der Tat die Transporte nach Auschwitz und in die Konzentrationslager vonstatten gegangen sind."
"Counter train" - "Zählzug" - hat Tatsuo Miyajima seine Arbeit genannt. Kein spektakulärer Titel also, aber eine um so gewichtigere Aufgabe, die dem japanischen Konzeptkünstler angetragen wurde:
Ferdinand Ullrich: "Der Humanismus ist ja nicht eine Modeerscheinung, sondern eine permanente Aufgabe, eine permanente Erinnerung. Und wir haben jetzt die Möglichkeit im Rahmen der Kunstausstellung der Ruhrfestspiele, eine solche Botschaft zu zeigen. Und Tatsuo Miyajima tut das auf eine sehr eindrückliche Weise, auf eine sehr ästhetische Weise. Hier kommen eben die Dinge zusammen, die man sich von der Bildenden Kunst ja auch wünscht: das Schöne und das Gute."
Des Guten aber kann man auch zuviel tun. Keiner weiß das besser als der 1957 in Tokio geborene Miyajima. Die junge Generation in seiner Heimat etwa lehnt sich auf gegen die ritualisierte Erinnerung an den Atombombenabwurf von 1945.
Tatsuo Miyajima: "In Hiroshima hasst es die junge Generation geradezu, immer wieder daran erinnert zu werden. Sie empfinden es als Obsession, wollen nichts mehr von 'Hiroshima' hören. Deshalb bietet diese Arbeit keine Erklärung, sondern nur starke Bilder: Die sollen Interesse und Bewußtsein wecken - und so zurück zur Geschichte führen."
"Counter Skin", Digitalzahlen auf nackter Haut, hat Miyajima in Hiroshima fotografiert: Wie gewaltsam aufgebrachte Tätowierungen kleben die Schablonenziffern in grellen Farben auf Oberarm, Stirn oder Brust junger Menschen. Eine verstörende Melange aus Graffiti, Pop und Gothic-Elementen, ganz das Gegenteil zur kargen Inszenierung der Modelleisenbahn. Aber um die Erinnerung aufrechtzuerhalten, so sagt der Buddhist Miyajima, muss man ihre Form beständig ändern.
Dass diese Weisheit nichts mit Beliebigkeit zu tun hat, beweist der Raum- und Zeitkünstler in der nächsten Etage der Kunsthalle mit "Counter Coal", einem dem Ort Recklinghausen angemessenen Berg aus 30 Kubikmetern bester Anthrazitkohle. In dieser tiefschwarzen Skulptur ticken 100 rotglühende Zählwerke, von "eins" bis "neun", immer wieder.
Eisenbahnen und Kohle, dazu immer wieder Leuchtziffern - manch einer mag da an Iannis Kounellis denken und an Mario Merz mit seinen Zahlenreihen aus zarten Neonröhren. Aber Wiederholungen gestattet Miyajima sich nur bei den Zahlen, von Künstlerkollegen nimmt er allenfalls Anregungen auf, ohne sie jemals zu kopieren. Das wäre denn doch zu einfach - und das Ende seiner Zahlenspielerei:
Tatsuo Miyajima: "Kunst funktioniert heute leider wie Wirtschaft: berühmt werden, Geld kassieren - nur das eine wollen die Leute. Ein ermüdender Betrieb, das mag ich nicht mehr. Zahlen aber sind zugleich das Leben und auch Ökonomie, Materialismus. Da steckt eine doppelte Bedeutung drin."
Service: "Zeit, Zahl und Kosmos - Time Train" von Tatsuo Miyajima als Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen ist noch bis zum 20. Juli in der Kunsthalle Recklinghausenzu sehen.
Mehr als diese schlichte Lichtmetapher von Hell und Dunkel ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen: kein Spielzeugwunderland, weder Modellstädte noch typische Landschaften geben weitere Hinweise. Die Eisenbahn ist unübersehbar reduziert auf ihre nackte Funktion: den Transport von Menschen und Material. Langweilig wird es dennoch nicht. Ferdinand Ullrich, Direktor der Kunsthalle:
"Der interessanteste Moment ist natürlich, wenn der Zug, der in einer großen, mehrfach gewundenen Schleife durch die untere Etage fährt, von dem hellen Teil in den dunklen übergeführt wird. Das ist schon geradezu ein dramatischer Moment. Und das ist auch das Schöne an dieser Installation, die ja mit sehr einfachen Elementen, mit Spielzeugeisenbahnen, mit Modelleisenbahnen arbeitet."
Und mit Zahlen von eins bis neun: Digitale Zählwerke, wie sie im Innern der Waggons aufgehäuft liegen, sind das Markenzeichen des japanischen Künstlers Tatsuo Miyajima. Im Gegensatz zum kreisenden Analog-Zeiger auf dem Ziffernblatt markieren die im bläulichen Licht wie zufällig aufzuckenden Zahlen eine Art Zeitstrahl, eine endlose Gerade.
Aber gerade deshalb schiebt sich bei näherer, oder besser: intensiv-meditativer Betrachtung von Miyajimas Zugverkehr die Geschichte, die Vergangenheit immer stärker in den Vordergrund. In einem Gedankenraum, am Rande der Endlosschleife im Kleinstmaßstab zeichnen sich große historische Linien ab, stellen sich begriffsgeschichtliche Assoziationsketten ein. Mit Blick auf den gegenüberliegenden Bahnhof etwa, für den der massive Bunkerbau der Kunsthalle bis 1945 bei Bombenangriffen als Schutzraum diente, stellt sich die Frage, wer oder was denn in Deutschland so penibel beziffert, bürokratisch "auf Transport" geschickt wurde:
Tatsuo Miyajima: "Es liegen sehr viele Zählwerke im Zug - und der bringt sie sehr weit weg: so, wie Menschen im Zug nach Auschwitz gebracht wurden. Das ist das Bild. Doch im selben Moment sieht man: Das ist nur ein Zug, das sind nur Zahlen. Es bleiben also für jeden unterschiedliche Wege, das zu verstehen. Ich zeige meine Arbeit als Statement zum Holocaust, aber das Kunstwerk bleibt dennoch neutral."
So ganz neutral ist das blaue Licht als Symbol der Romantik natürlich nicht. Und auch die in ganz unterschiedlichen Rhythmen ablaufenden Zählwerke signalisieren, wie jedes scheinbar rational vorhersehbares Kalkül durch ein unbestimmbares Schicksal gebrochen wird. Doch nicht nur in symbolischen Andeutungen, sondern auch in kleinen, aber handfesten Details sieht Kunsthallenchef Ferdinand Ulrich eine politische Botschaft:
"Wenn man sich dann mit der ästhetischen Erscheinung näher beschäftigt, merkt man: Die Eisenbahnmodelle sind eben Modelle aus den dreißiger Jahren. Züge, mit denen in der Tat die Transporte nach Auschwitz und in die Konzentrationslager vonstatten gegangen sind."
"Counter train" - "Zählzug" - hat Tatsuo Miyajima seine Arbeit genannt. Kein spektakulärer Titel also, aber eine um so gewichtigere Aufgabe, die dem japanischen Konzeptkünstler angetragen wurde:
Ferdinand Ullrich: "Der Humanismus ist ja nicht eine Modeerscheinung, sondern eine permanente Aufgabe, eine permanente Erinnerung. Und wir haben jetzt die Möglichkeit im Rahmen der Kunstausstellung der Ruhrfestspiele, eine solche Botschaft zu zeigen. Und Tatsuo Miyajima tut das auf eine sehr eindrückliche Weise, auf eine sehr ästhetische Weise. Hier kommen eben die Dinge zusammen, die man sich von der Bildenden Kunst ja auch wünscht: das Schöne und das Gute."
Des Guten aber kann man auch zuviel tun. Keiner weiß das besser als der 1957 in Tokio geborene Miyajima. Die junge Generation in seiner Heimat etwa lehnt sich auf gegen die ritualisierte Erinnerung an den Atombombenabwurf von 1945.
Tatsuo Miyajima: "In Hiroshima hasst es die junge Generation geradezu, immer wieder daran erinnert zu werden. Sie empfinden es als Obsession, wollen nichts mehr von 'Hiroshima' hören. Deshalb bietet diese Arbeit keine Erklärung, sondern nur starke Bilder: Die sollen Interesse und Bewußtsein wecken - und so zurück zur Geschichte führen."
"Counter Skin", Digitalzahlen auf nackter Haut, hat Miyajima in Hiroshima fotografiert: Wie gewaltsam aufgebrachte Tätowierungen kleben die Schablonenziffern in grellen Farben auf Oberarm, Stirn oder Brust junger Menschen. Eine verstörende Melange aus Graffiti, Pop und Gothic-Elementen, ganz das Gegenteil zur kargen Inszenierung der Modelleisenbahn. Aber um die Erinnerung aufrechtzuerhalten, so sagt der Buddhist Miyajima, muss man ihre Form beständig ändern.
Dass diese Weisheit nichts mit Beliebigkeit zu tun hat, beweist der Raum- und Zeitkünstler in der nächsten Etage der Kunsthalle mit "Counter Coal", einem dem Ort Recklinghausen angemessenen Berg aus 30 Kubikmetern bester Anthrazitkohle. In dieser tiefschwarzen Skulptur ticken 100 rotglühende Zählwerke, von "eins" bis "neun", immer wieder.
Eisenbahnen und Kohle, dazu immer wieder Leuchtziffern - manch einer mag da an Iannis Kounellis denken und an Mario Merz mit seinen Zahlenreihen aus zarten Neonröhren. Aber Wiederholungen gestattet Miyajima sich nur bei den Zahlen, von Künstlerkollegen nimmt er allenfalls Anregungen auf, ohne sie jemals zu kopieren. Das wäre denn doch zu einfach - und das Ende seiner Zahlenspielerei:
Tatsuo Miyajima: "Kunst funktioniert heute leider wie Wirtschaft: berühmt werden, Geld kassieren - nur das eine wollen die Leute. Ein ermüdender Betrieb, das mag ich nicht mehr. Zahlen aber sind zugleich das Leben und auch Ökonomie, Materialismus. Da steckt eine doppelte Bedeutung drin."
Service: "Zeit, Zahl und Kosmos - Time Train" von Tatsuo Miyajima als Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen ist noch bis zum 20. Juli in der Kunsthalle Recklinghausenzu sehen.