Endlos erscheinende Wortschleife

04.10.2013
Er empfindet das Gefühl der Unrast und des Getriebenseins von Skifahrern nach: Albert Ostermaiers Erzähltempo wird für den Leser zum Kraftakt. Gleichzeitig macht der Roman frösteln - wieder einmal greift er die Kälte-Metapher auf, die sich mittlerweile konstant durch sein Werk zieht.
Man muss kein versierter Skihase sein, um zu wissen, dass bei einem rasanten Abfahrtslauf die Luft knapp werden kann und der Körper schnell aus der Balance gerät. Im österreichischen Kitzbühel, wo seit 1937 alljährlich das legendäre "Hahnenkammrennen" – die "Streif" - ausgetragen wird, ist der Kampf gegen die Schwerkraft zu einem gigantischem Event geworden.

Wie solch ein Kampf in Worten aussehen kann, zeigt Albert Ostermaier mit seinem neuen Roman. Er hat sich dafür sinnbildlich auf die Bretter begeben, um das Gefühl der Unrast und des Getriebenseins der an der "Streif" Beteiligten nachzuempfinden.

Wie in einem Schmelztiegel versammelt er verschiedene Typen, die Spaß und Zerstreuung suchen und für ein erotisches Abenteuer im Designerskianzug jederzeit bereit sind, oder die im Schutz des Menschengewühls mit dem verkorksten Leben endgültig abrechnen. Sie alle sind von einem verklärten Wunschdenken beseelt, das vom kitschigen Flirt bis zur misogynen Brutalität reicht.

In einer endlos scheinenden "Streif"- Wortschleife lässt Ostermaier sie alle herumwirbeln. Aus der geballten Fliehkraft der Worte ergibt sich ein Erzähltempo, das zum schmerzhaften Lesekraftakt wird. Ostermaier schafft einen Horror-Raum, in dem die Schreie der Verletzten im Dröhnen der Pistenlautsprecher untergehen. Denn sie stören den perfekt inszenierten Ablauf.

Lediglich als Igor, der kleine Sohn von Yvonne und Christoph, plötzlich verschwindet und ein massiver Schneesturm hereinbricht, der die Menschen wie "Schlachtvieh" von der Piste treibt, kommt die Streif-Maschinerie kurzzeitig zum Erliegen.

Die Textpassagen, in denen das Kind spricht und Igor sich in ein Schneekrokodil verwandelt, um der Angst vorm Alleinsein zu entkommen, hält Ostermaier den Schreibatem ganz flach. In kurzen, behutsamen Sätzen lässt er die kindlichen Hoffnungen klirren, während die Worte immer mehr vereisen.

Lange bleibt unklar, ob Ostermaier Igor als Unschuldslamm auserkoren hat, das geopfert werden muss, um der Besinnungslosigkeit Einhalt zu gebieten. Oder, ob sein Verschwinden nur ein Spiel ist.

Kalt und schmerzhaft geht es in Ostermaiers Texten schon lange zu. Die Kälte-Metapher ist zum Meridian geworden, auf dem seine Gedichte, Romane und Theaterstücke angesiedelt sind. Doch beim Lesen dieses Romans will Frösteln nicht mehr aufhören.

Man kommt nicht umhin, an Elfriede Jelineks "Sportstück" (1998) zu denken, wo die sündhaft teuer gestylten Körper Schauplatz und Fetisch in einem sind. Wie Jelinek verweist auch Ostermaier mit dem Massensportevent als "Hieroglyphe der Gegenwart" auf die Trostlosigkeit eines als Rausch inszenierten Scheindaseins, in dem sich das Selbst verliert und zur Ware wird.
Und so rast Ostermaier in einen Zeitschlund, in dem das Motto gilt: Nach der "Streif" ist vor der "Streif" – denn die Schönheit am Wilden Kaiser ist nicht aufzuhalten.

Rezensiert von Carola Wiemers

Albert Ostermaier: Seine Zeit zu sterben
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
305 Seiten, 18,95 Euro