Endlich Frieden in Nordirland?

Von Klaus Betz |
40 Jahre liegen der Beginn der sogenannten Troubles und fast drei Jahre die Entwaffnung der IRA zurück. In Derry, bzw. Londonderry, der Stadt, die neben Belfast als Brennpunkt des Nordirland-Konflikts galt, begannen 1968 die blutigen Auseinandersetzungen. Heute wird in Derry für 16 Millionen Euro eine Friedensbrücke gebaut, die ab 2010 die Viertel der pro-britischen protestantischen Minderheit mit denen der mehrheitlich pro-irischen Katholiken verbinden soll.
"Wenn Sie während der Unruhen nach Derry gekommen wären, hätten Sie ein ganz anderes Umfeld erlebt – mit "no-go-areas"; wegen der Angst vor Autobomben durften keine Autos fahren und das Stadtzentrum war kaum zugänglich. Zum Glück hat sich das alles geändert und es wird sich noch mehr ändern."

Mo Durkan weiß, wovon sie spricht. Sie ist in Londonderry geboren und steht gerade auf der größten Baustelle der Stadt - auf dem mehr als zehn Fußballfelder großen Gelände der ehemaligen Militärbasis Ebrington. Außer den beigefarbenen Kasernengebäuden erinnert hier kaum noch etwas an die starke Präsenz, mit der die Truppen ihrer britischen Majestät jahrzehntelang über Londonderry geherrscht haben – bzw. über Derry, wie die irisch-katholische Mehrheit der zweitgrößten Stadt in Nordirland sagen würde.

Hier wird gegenwärtig nichts Geringeres eingeläutet als das Ende des Nordirland-Konflikts. Mit Baggern und Presslufthämmern. Es wird gemeißelt, vermessen, aufgegraben, abgerissen und umgebaut. Es werden zig Millionen Pfund Sterling in die Zukunft einer Stadt investiert, die lange Zeit – neben Belfast - als Brennpunkt des Nordirland-Konflikts galt. Immerhin haben 1968 hier in Derry jene "troubles" begonnen, die zu den weit über 30 Jahre schwelenden und blutigen Auseinandersetzungen geführt haben.

"Wir stehen hier auf dem ursprünglichen Paradeplatz, im Zentrum eines 1841 gebauten Forts. Der Platz ist ungefähr so groß wie der Trafalgar Square. Hier soll eine Piazza entstehen; sie wird die größte Freifläche der Stadt sein. Hier können dann Open-Air-Konzerte stattfinden und andere Großveranstaltungen.
Die Aussicht ist ziemlich spektakulär: man blickt über den Fluss hinweg, über den Foyle, und an drei Seiten sind wir von cremefarbenen Gebäuden aus den 1840er Jahren umgeben. Diese Häuser werden künftig für touristische Zwecke genutzt, für Kultur, Kunst, Freizeit und Cafés. Hier sollen einfach mal Menschen zusammenkommen können. Es ist wirklich unsere Piazza der Zukunft. Es wird der wichtigste, öffentlich städtische Platz werden - in einer Stadt, die viel zu lange geteilt war - geographisch, kulturell, sozial und emotional.
Und dann die Friedensbrücke: wir werden hier eine Brücke ausschließlich für Fußgänger und Radfahrer bauen, die zu hundert Prozent durch das EU-Friedensprogramm für Nordirland finanziert wird, eben weil sie – über die architektonische Präsenz hinaus - eine geteilte Bevölkerung zusammenbringen wird.
Von seiner sozialen Wirkung her ist dieses Vorhaben enorm wichtig. Wir werden herumtrödeln, spazieren, radfahren – und unsere freie Zeit gemeinsam genießen können. Hier wird das entstehen, was wir einen "shared place" nennen: einen Ort, den wir uns alle teilen."

Mo Durkan ist ihrer Zeit um Jahre voraus. Von Berufs wegen. Sie ist Sprecherin der in öffentlicher Hand befindlichen "Urban Regeneration Company". "Regeneration" steht hier für eine Weichen stellende und weit vorausschauende Form von Stadtentwicklung - ökonomisch, kulturell und sozial. Und natürlich ist die geplante und EU-finanzierte Peace-Bridge das Paradebeispiel dafür. Denn die knapp 16 Millionen Euro teure und 235 Meter lange "Friedensbrücke" über den Foyle soll ab Oktober 2010 die beiden bislang getrennten Wohngebiete verbinden: die pro-britische protestantische Minderheit lebt überwiegend diesseits des Flusses – auf der sogenannten Waterside – die mehrheitlich pro-irischen Katholiken bewohnen die jenseits liegende Westbank. Dort befindet sich zwar das eigentliche Zentrum der City - die ummauerte Altstadt, das katholische Arbeiterviertel Bogside und die neuen Shopping-Malls - aber das Freizeit-, Kunst-, und Kulturviertel liegt künftig jenseits des Flusses, auf der Waterside. Nirgendwo sonst gibt es in Derry einen Platz, einen Park oder einen geräumigen öffentlichen Ort, wo sich Leute treffen und ihrem Lebensgefühl freien Lauf lassen können - in einer Stadt, die über dreißig Jahre lang gelitten hat; von Tränengas geschwängert, von Schießereien geprägt, von Anschlägen verunsichert.

"Man wird als Gesellschaft, als Volk und als Volkswirtschaft nie weiter wachsen können, wenn man aus den Fehlern der Vergangenheit nichts lernt. Mehr und mehr Menschen erkennen dies. Eines ist natürlich auch klar: hier weht ein "wind of change". Wir sind dabei, unseren ganzen sozialen Kontext zu verändern und unser Umfeld umzukrempeln. Wenn wir das schaffen, dann glaube ich, dass wir in zehn oder 15 Jahren zurückschauen können und sagen: Ja, das haben wir gut und wir haben es richtig gemacht. Wenn man weiß, wie die Stadt früher war und welches Potenzial sie hatte und welche Schönheit, dann will man dies alles auch wieder im 21. Jahrhunderts verortet sehen. Derry hat lange genug auf Knien gelegen. Jetzt geht es darum, einer Stadt zu helfen, selbst aufzustehen und zu wachsen. Ich denke, das ist ein ziemlich spannender und erfreulicher Ausblick."






Mo Durkan zählt zu jener Generation von Derry-Bewohnern, die ihre Heimatstadt zunächst verlassen, im Ausland gelebt und dort ein konfliktfreies und modernes Miteinander erlebt haben. Frei von sektiererischem Denken. Sie zählt zu jener Generation der 40- und 50-Jährigen, die nach dem Frieden signalisierenden Karfreitagsabkommen von 1998 zurückgekommen ist und sich seither mit Leidenschaft für ihre Stadt einsetzt. Für Mo Durkan ist das in erster Linie ein ganzheitlich durchdachter, gesellschaftspolitischer Ansatz.

"Stadterneuerung kann nie gelingen, wenn nicht alle drei Felder in Verbindung zueinander gebracht werden: die Bauvorhaben, die Wirtschaft, das Soziale. Ich sage den Leuten immer, wenn wir diesen Platz hier umbauen, Ebrington, wenn alles darauf hinausläuft, Gebäude aufzubauen und Jobs zu schaffen, wenn das alles ist, dann bin ich der Meinung: Wir haben versagt. Falls wir die soziale Regeneration vergessen sollten, dann wird dies alles hier nicht nachhaltig sein. Es muss schon zukunftsfähig sein und für mehrere Generationen passen. Andernfalls wären es Maßnahmen, die ich als Hin- und Herschaufeln von Sand bezeichnen würde."






Die "Guildhall" von Londonderry ist ein neo-gotischer Backsteinbau. Das von Londoner Kaufleuten errichtete Prachtgebäude gleicht aber mehr einer Kirche denn einem Rathaus. In dem einstigen Machtzentrum der Protestanten - 1972 durch einen Bombenangriff schwer beschädigt und in den Folgejahren wieder aufgebaut – teilen sich heute die pro-irische Sinn Féin-Partei und die pro-britische Democratic Unionist Party die Macht. Vor 20 Jahren war das noch undenkbar.

Genau gegenüber liegt das Café del Mondo. Das "Eine-Welt"-Café gibt es erst seit einem halben Jahr, gegründet wurde es vom Dramatiker und Theaterautor Eddy Kerr. Für ihn ist das "Del Mondo" ein kleiner Beitrag zum Öffnungsprozess der Stadt. Der engagierte Derry-Man ist Kritiker und Liebhaber seiner Heimatstadt zugleich. Und er hofft natürlich, dass der Rest der Welt bald anfängt, sein Derry mit anderen Augen zu sehen. Gleichzeitig weiß er sehr wohl, dass das Image der Stadt nicht so einfach abzuschütteln ist.

"Aufgrund unserer jüngsten Geschichte werden wir häufig als Konfliktgegend angesehen, wegen des Niedergangs der Wirtschaft werden wir als Gegend von hohem Nachteil betrachtet. Aber während der Rest der Welt erst entdecken musste, was als Weltrezession bezeichnet wird, haben wir schon seit der Teilung unseres Landes in einer Rezession gelebt. Rezession ist also nichts Neues für uns, hohe Arbeitslosenzahlen sind nichts Neues für uns.
Doch wenn Leute zu uns kommen, erkennen sie, dass es eine wunderschöne Stadt ist, eine liebenswerte Stadt, eine großartige Stadt. Aber gleichzeitig gibt es natürlich genug andere Probleme. Eines davon ist, dass wir – verglichen mit dem Rest von Europa – weit zurück liegen. Der Rest von Europa redet von Vielfältigkeit und Interkulturalismus und Multikulturalismus, das ist alles ein ziemlich junges Thema bei uns. Wir waren so stark auf unseren Monokulturalismus konzentriert, auf die Unterschiede zwischen Orange und Grün – also Irland und England - dass wir den Rest des Planeten fast vergessen haben. Während der Rest der Welt global gedacht hat, waren wir aufs Lokale fixiert. Und während wir nun anfangen, uns global zu orientieren, sieht uns der Rest von Europa immer noch in Schwarz-Weiß-Bildern. Doch das war früher und ist eine fast schon weit entfernte Geschichte. Man muss das nur mal zur Kenntnis nehmen wollen: Dies ist eine pulsierende Stadt, eine gute und eine exzellente Stadt - um darin zu leben, zu arbeiten, um hierher zu kommen und uns zu besuchen."

Mit dieser Sichtweise ist Eddy Kerr kein Einzelfall. Der konstruktiv-kritische Enthusiasmus ist ein Kennzeichen der irisch-katholischen Intellektuellen in Derry. Auch wenn nach wie vor auf beiden Seiten einzelne "Spoilers" aktiv sind und durch Provokationen und Krawallaktionen den fortschreitenden Friedensprozess aufzuhalten versuchen. Die in beiden Lagern als "Störenfriede" bezeichneten Spoilers, bewegen sich in der Vergangenheit und die ist eben passé. Eddy Kerr ist sich da ganz sicher.

"Ich bin alt genug, um eine Geschichte und Vergangenheit zu haben, und ich kenne die Geschichte dieser Stadt. Und ich bin jung genug, um optimistisch zu sein. Die Leute hier wollen wirklich Veränderungen. Natürlich wird es immer ein paar geben, die Angst vor Veränderungen haben. Aber wir können nicht länger pessimistisch sein. Wir alle sind unter pessimistischen Bedingungen geboren worden. Doch man kann sein Leben nicht durch Pessimismus lieben lernen. Der Tag, an dem ich aufhöre, optimistisch zu sein, ist der Tag, an dem ich dieses Land verlasse. Und das möchte ich nicht. Ich möchte Dinge bewegen, vorwärts bringen. Das ist ein tief verwurzeltes Gefühl. Und die große Mehrheit wird dies alles sicher stemmen. Deshalb bin ich optimistisch, trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die wir hier hatten."
Doch der 50-jährige Eddy Kerr ist realistisch genug, sich nicht in Wunschträumen zu verfangen. Wie viele gleichaltrige Zeitgenossen seiner Generation kennt er die zahlreichen Defizite seiner Heimatstadt und fordert daher von den Lokalpolitikern – egal welcher Couleur –, dass sie ihre Hausaufgaben machen.

"Es reicht einfach nicht mehr, mit sektiererischen Inhalten auf Stimmenfang zu gehen. Hier geht’s längst um reale Politik; um das Einkommen, um Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, um Armut und Wohlstand und damit um die ganze Bandbreite dessen, was man reale Polititk nennt. Das haben wir bis vor kurzem nie gehabt. Alles war auf dieses sektiererische Lagerdenken ausgerichtet. Aber jetzt haben wir endlich angefangen unsere Parteien zu fordern. Wir sagen: handelt endlich auf politische Art und Weise und vor allem: zeigt endlich auch eure demokratischen Fähigkeiten. Ich habe das Gefühl, dass wir auf eine völlig neue Phase zusteuern, es ist fast eine Evolution, die wir hier durchlaufen. Zum ersten Mal können wir die Richtung mitbestimmen, die Ziele. Das haben wir so nie gehabt. Das nennt man wohl Demokratie –oder?
Trotzdem, alles braucht noch seine Zeit. Wir müssen noch manche Mitglieder aus dem Kreis der Ewiggestrigen abschütteln und ihnen klar machen, dass durch Gewalt nichts erreicht werden kann, wohl aber auf friedliche Weise."

Der Magee-Campus der Universität von Ulster liegt etwas außerhalb des Stadtzentrums, am Übergang zu den wohlhabenderen Stadtvierteln von Derry. Trotz der Ferienzeit ist Professor Paul Arthur immer noch an seinem Arbeitsplatz anzutreffen. Er leitet das Friedens- und Ausbildungsprogramm der hier angesiedelten "School of History and International Affairs." Der parteilose Hochschullehrer mit katholisch-irischem Hintergrund war und ist angesehener Autor zahlreicher Bücher zum Nordirland-Konflikt, einflussreicher Kolumnist und Vermittler in schwierigen, inoffiziellen Polit-Gesprächen. Ohne dass er Aufhebens davon macht, gilt Paul Arthur als profunder Kenner der Lage, mit tiefen Einblicken hinter die Kulissen der politischen Lager. Für ihn steht außer Frage, dass der Nordirland-Konflikt so gut wie beendet ist.

"This generation has decided: enough is enough. We are not going back to that."

Aber natürlich ist dies noch keine Begründung. Und es erklärt auch nicht, warum Londonderry der Taktgeber ist für das Ende der "Troubles" oder besser: für den Anfang einer konfliktfreien Zeit. Um dies zu verstehen, holt der Professor dann doch etwas weiter aus:

"Der Nordirland-Konflikt ist 1968 in dieser Stadt ausgebrochen. Sie war ein deutliches Beispiel für die Diskriminierung einer Bevölkerungsmehrheit durch die damals regierenden pro-britischen Unionisten in der Minderheit. Man kann sagen: An Derry hat sich der Rest von Nordirland orientiert.
Interessant ist die Rolle der pro-irischen Bewegung in Derry, speziell in der Zeit zwischen 1990 und 1994.
Damals hatte die IRA zum ersten Mal einen Waffenstillstand angeboten. Und Derry war ab diesem Zeitpunkt so was Ähnliches wie das Versuchslabor. Man wollte herausfinden, wie ein Frieden aussehen könnte. Die IRA war deshalb in Derry besonders zurückhaltend. Das Maß der Gewalt ließ nach und Bombenanschläge blieben ebenfalls aus. Andererseits wurden die IRA und Sinn Féin von amerikanischen Iren gehörig unter Druck gesetzt und aufgefordert, auf Gewalt zu verzichten. Im Endeffekt konnte die IRA so beweisen – zumindest in Derry – dass sie in der Lage war, Gewalt zu stoppen. Gleichzeitig gab es zu dieser Zeit Gespräche mit der britischen Regierung, um herauszufinden, wie weit man sich gegenseitig trauen kann."

Soweit die eine Seite der Medaille. Ohne die andere Seite wäre die Theorie vom "Versuchslabor Derry" indes zum Scheitern verurteilt gewesen.

"Die protestantische Gemeinde in Derry, speziell die Apprentice Boys, haben erst in den letzten Jahren begonnen, den Dialog zu suchen. Das gab es nirgendwo in Nordirland. Zur Erinnerung: wegen der Apprentice-Märsche brachen im August 69 die eigentlichen Unruhen aus. Und inzwischen haben sie ihre früheren Triumphmärsche umgewandelt. Jetzt wird das mehr als eine Art kultureller Event gefeiert und nach Absprachen mit dem politischen Gegner auch toleriert. So dass sie ihr Fest in Ruhe zelebrieren und ihre Auffassung von Tradition und Kultur darstellen können. Davon hat sich der Oranier Orden leiten lassen, der immer am 12. Juli seine Paraden abhält. Doch nun wird auch im Rest von Nordirland, statt die Konfrontation zu suchen, ein großes Orange-Fest gefeiert – eine Art Karneval. Schwer vorzustellen, ich weiß, aber das ist die Idee dahinter. Was ich eigentlich sagen will, ist: Was in dieser Stadt zwischen den beiden Lagern vereinbart und vorgelebt wird, wird meist an anderen Orten übernommen."

Es ist heute nur schwer vorstellbar, dass noch 1968 überall in Nordirland ein seltsames Kommunalwahlrecht Geltung hatte. An Kommunalwahlen durften damals nur Hausbesitzer oder -eigentümer teilnehmen. Mietern oder Untermietern war das Wahlrecht versagt. Damit wurde die katholische Bevölkerungsmehrheit in Londonderry fast vollständig von der kommunalen Mitbestimmung ausgeschlossen. Die Katholiken waren einfach zu arm und konnten sich keine Häuser kaufen, erinnert Paul Arthur:

"Die katholische Arbeiterklasse hat immer gewusst, dass sie nur durch Bildung weiterkommen kann. Ich bin hier in der Stadt aufgewachsen. Die Armut war schrecklich, die Arbeitslosigkeit unter den Männern enorm. Nur Frauen konnten Geld verdienen, in einer Hemdenfabrik. Doch all das hat sich gewandelt. In Derry gibt es viel mehr Optimismus als in den meisten Teilen von Belfast."

Tatsächlich glaubten die wohlhabenden Protestanten noch lange Zeit, ihre Macht zementieren zu können. "Not an inch" war der Slogan des pro-britischen Lagers – "nicht einen Zoll" wollte man weichen oder durch eine Änderung des Wahlrechts von der Macht abgeben. Kaum ahnend, dass sie mit ihrer panischen Angst vor einer Stimmenmehrheit der pro-irischen Katholiken eine Politik der sich selbst erfüllenden Prophezeihung betreiben sollten.

Die Auseinandersetzungen eskalierten und gipfelten, am 30. Januar 1972, im so genannten "Bloody Sunday". An diesem Tag wurden in Derry 13 unbewaffnete Menschen von britischen Fallschirmjägern erschossen und von da an war ganz Nordirland in einen mörderischen Konflikt verwickelt. Bis 1994, bis die IRA zum ersten Mal einen Waffenstillstand angeboten hat. Doch die Wunden aus diesem jahrzehntelangen Kampf reichen tief.

"Ein großes Problem gilt es noch zu lösen – auf dem Weg zur Versöhnung: Wie gehen wir mit unserer Vergangenheit um? Wir müssen den schrecklichen Dingen, die wir uns gegenseitig angetan haben, ins Auge schauen. Doch dann? Legen wir eine Grenze fest? Benötigen wir eine Wahrheitskommission? Oder starten wir eine Reihe von lokalen Initiativen? Im Moment scheint es das beste, auf lokaler Ebene zu agieren. Aber wir müssen noch einen Weg finden, der beiden Seiten gerecht wird. Das kann noch eine große Hürde werden. (…) Der "Diamond" ist jener zentrale Platz in der Mitte der Altstadt von Derry, auf den alle Straßen zulaufen. Vollständig von einer begehbaren Stadtmauer umgeben, zeigt sich die City hier von ihrer schönsten Seite. Historisch wie touristisch. Nur eine Querstraße vom Diamond entfernt hat der protestantische Orden der "Apprentice-Boys" seinen Sitz. Benannt hat sich die Gemeinschaft nach jenen legendären "Apprentices" – Lehrlingen also - die am 7. Dezember 1688 durch das Verschließen des Stadttores am Hafen dafür gesorgt haben, dass die protestantische Stadt nicht von einer katholischen Armada eingenommen werden konnte. Trotz einer dann folgenden, fast acht Monate währenden Belagerung bis zum 12. August 1689. Bis heute wird dieses Ereignisses in Form einer Parade gedacht; durch den Marsch der Apprentice-Boys auf der Stadtmauer von Londonderry."

Doch was während der "Troubles" gegenüber den Katholiken als Triumphmarsch verstanden wurde, wird heute als Kulturfest verkauft. Und damit nicht genug: das mächtige Gebäude des Ordens, die Apprentice Boys Hall, ist inzwischen für alle interessierten Besucher geöffnet. Mit Museum und geführten Touren - auch für die katholischen Einwohner von Derry. Auch für die nur einen Steinwurf entfernt lebenden Nachbarn in der Bogside.

"Beide Seiten haben zu viele Jahre voneinander getrennt gelebt – sind in unterschiedliche Schulen, in verschiedene Kirchen gegangen. Wir haben in jeweils anderen Stadtteilen eingekauft und uns immer nur mit Gleichgesinnten getroffen. Ich glaube, jeder kleine Schritt, der uns zusammenbringt, ist sinnvoll und trägt hoffentlich dazu bei, uns allen eine bessere Zukunft zu bescheren."

Billy Moore ist Generalsekretär der Apprentice-Boys. Er überrascht mit einem konzilianten und auf Kooperation ausgerichteten Tonfall. Er fordert nicht – wie das in bestimmten Stadtteilen von Belfast der Normalfall wäre – nein, er wirbt eher für seine "Britishness" und hofft, dass Andersdenkende genug Toleranz mitbringen, um die Traditionspflege und Geschichte der Apprentice Boys zu respektieren. Noch wird die Fassade des Versammlungshauses immer mal wieder mit Farbbomben attackiert, doch gleichzeitig, so erzählt Moore, findet er im katholischen Lager neuerdings auch Verständnis und Unterstützung.

"Uns besuchen viele Katholiken. Manche aus Neugier, manche haben noch nie einen Blick hinter unsere Tore geworfen. Viele Katholiken haben mir erzählt, dass sie in den siebziger Jahren für Ihre Bürgerrechte auf die Straße gegangen sind. Bürgerrechte, die natürlich auch für uns gelten, für die protestantische Minderheit.
Nicht wenige der Katholiken bestärken uns, unsere Geschichte und unsere Traditionen in Londonderry zu pflegen. Natürlich wissen wir: Wer Rechte in Anspruch nimmt, muss auch Verantwortung übernehmen. Deshalb wollen wir gute Nachbarn sein und unsere Hand zur Freundschaft reichen. Unser Haus haben wir für alle interessierten Besucher und Touristen geöffnet, aber am meisten möchten wir unsere kathlolischen Nachbarn dazu ermutigen, uns zu besuchen, sich umzuschauen, Fragen zu stellen und vielleicht auch zu versuchen, unsere Kultur zu verstehen – von der wir glauben, sie ist die beste Kultur auf der Welt."

Vom viktorianischen Ambiente der Apprentice-Boys bis zur Bogside sind es gerade mal 200 Meter zu Fuß. Es ist die kürzeste Art, die Welten zu wechseln. Denn die Bogside ist jener Stadteil von Derry, in dem sich der "Bloody Sunday" ereignet hat. Hier haben sich wahre Kriegsszenen abgespielt, die heute völlig unwirklich scheinen. Doch die Monumente, das Museum des freien Derry und die "Murals" an den Häuserwänden sprechen eine andere Sprache. Murals sind fassadengroße Wandgemälde, die szenisch aufgreifen, was damals geschah. Tom Kelly ist Mitglied der Künstlergruppe "Bogside-Artists" und einer der drei Gestalter der Murals:

"Wir sind hier in der "Peoples Gallery" in Bogside/Derry und wollen uns gleich eine Reihe von Murals anschauen. Die zwölf Wandgemälde haben wir hier geschaffen. Wir sehen sie als ein menschliches Dokument. Erzählt wird jeweils – frei von sektiererischer Propaganda – die Geschichte eines Ereignisses während der "Troubles". Wir hoffen natürlich auf eine kathartische Wirkung der Bilder, auf ein Verstehen können und dass die jeweiligen Betrachter damit arbeiten. Dann lass uns mal gehen und schauen."

Beim Weg durch die Rossville Street auf die Hauswand hohen Gemälde zu erzählt Tom Kelly, dass es die Anwohner waren, die Geld für Farbe und Material gesammelt hätten, um diese Bilder möglich zu machen. So könne man jedenfalls erzählen, was die Menschen in der Bogside durchgemacht haben und wovon sie geprägt sind.

"Das ist unsere jüngste Geschichte. Nicht unbedingt die positivste, nicht unbedingt aufbauend, aber dafür ehrlich. Hier gibt‘s keine Wasserfälle, keine Schafe auf den Hügeln oder einen Schwan auf einem mitternächtlichen See in Donegal. Unsere Erfahrungen sind ganz andere: Internierung, Gefängnis, Brutalität, Mord, Bomben-Explosionen, Knieschüsse etc. etc. Also geht es darum, der Welt, in die wir hineingeboren worden sind, einen Sinn zu geben."

Die Bogside-Artists veranstalten regelmäßig Workshops mit Kindern und Schülern aus beiden konfessionellen Lagern. Ziel ist es , am Beispiel der Murals über Konflikte und Gewalt, über Vorurteile und Hass zu diskutieren. Motto: Lieber Glas bemalen als Glas zerschlagen. Dass Tom Kelly auf die Arbeit mit Kindern großen Wert legt, zeigt sich schon wenige Schritte später.

"Dieses Mauerbild ist eines der wichtigsten. Man wird es wohl nirgendwo sonst auf der Welt sehen können. Es heißt "Die fehlgeleiteten Vorteile der Jugend". Es soll eine Botschaft an Jungs und junge Männer sein. Im Alter zwischen 11 und 18 sind sie meist ja noch formbar und leicht zu manipulieren. So ist dies mit den Jungs auf diesem Bild geschehen – sie sind alle tot und alle im gleichen Alter: 15. Der eine Junge da oben, hat sich mit einer Bombe selbst in die Luft gesprengt. Das Portrait da links unten ist mein Cousin Manus – erschossen von britischen Soldaten. Genau hier, wo wir jetzt stehen. Aber was dieses Mauerbild zur Herausforderung macht, ist der Tod des dritten Jungen. Er wurde hier in der Bogside, auf pro-irischem Terrain, von einer IRA-Bombe getötet. Wir reden nicht nur darüber, wir malen es und machen es für alle sichtbar.
Aber es geht nicht nur darum, dass nur wir unsere Geschichten erzählen. Uns ist wichtig, dass die Menschen überall ihre Geschichten erzählen, hier und anderswo. Das ist das, was wir mit unseren Mauerbildern gemacht haben. Uns liegt natürlich sehr daran, das Wahrnehmungsvermögen der Betrachter herauszufordern. Andererseits wollen wir unsere Besucher natürlich auch informieren. Wir möchten vermeiden, dass sie unsere Arbeiten missverstehen oder dass sie mit einer einseitigen Sichtweise abreisen."

Die Frage ist allerdings, ob die Bevölkerung von Derry nicht schon längst damit begonnen hat, sich weitestgehend von der Aufarbeitung und der Bewältigung des Konflikts zu verabschieden. Der Grund: Shop till you drop! Im ehemals heruntergekommen Hafenviertel von Londonderry befinden sich heute modernste Shopping-Malls. Und es ist praktisch nicht auszumachen, ob sich da eine pro-irische oder eine pro-britische Familie vergnügt. Vor der Kasse sind alle gleich. Die Leute wirken, als seien sie viel zu sehr mit Einkaufen beschäftigt. Tom Kelly bestätigt das:

"Woher denn, nicht nur mit Shopping. Man sollte verstehen, dass wir gerade einen dramatischen Wandel durchleben. Es sind zum Teil ganz simple Dinge wie – Amusement und Unterhaltung. Immerhin sind so große Künstler wie Elton John. Diana Ros oder U2 früher nie nach Nordirland gekommen, es war zu gefährlich. Aber jetzt, mitten im Friedensprozess, jetzt kommen sie. Die Menschen hier haben einfach Nachholbedarf; sie gehen ins Konzert, ins Theater, fahren in Urlaub und sie sehen, dass ihre Stadt von Grund auf neu aufgebaut wird. Das ist positiv, das ist gut! Endlich schwirren um fünf Uhr morgens keine Helikopter mehr über unseren Köpfen, es gibt keine Bomben-Explosionen, keine Gefechte, keine Schüsse ins Knie. Mein Gott, der Friedensprozess lebt, verläuft gut, kommt voran und bewegt sich nach vorne. Genau das machen die Leute hier auch. Und im Grunde geht es in unserm Werk nur darum; es geht ums Verstehen können und um die Bereitschaft, sich weiter zu entwickeln."