Ende des Corona-Lockdowns

Der kollektive Drang zur Normalisierung

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In Gotha (Thüringen) offeriert ein Café am Buttermarkt 366 Plätze – aber mit zeitlichem Abstand.
Normalisierung ja, aber mit Humor: In Gotha (Thüringen) offeriert ein Café am Buttermarkt 366 Plätze "so nach und nach". © picture alliance / dpa / Michael Reichel
Stephan Lessenich im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 24.06.2020
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Nach dem Ausnahmezustand wollen wir zurück in unsere alte Normalität und so leben wie vor Corona. Der Soziologe Stephan Lessenich beobachtet, dass das Virusproblem nun einzelnen Hotspots zugeschrieben und auf Fremdgruppen projiziert wird.
Stephan Karkowsky: Deutschland macht sich locker und schafft immer mehr Corona-Beschränkungen ab. In Berlin etwa dürfen sich ab Samstag wieder so viele Haushalte treffen wie sie wollen.
Der Senat passt die Regeln damit vermutlich nur der Realität an, denn gefühlt halten sich viele eh nicht mehr an die Regeln. Warum auch, mag mancher fragen. Viele Landkreise melden null Neuinfektionen, wenige andere sind zu Hotspots mutiert, und auch das gefühlt bestens unter Kontrolle. Täuscht der Eindruck hier oder wirkt Corona irgendwie weit weg und trifft immer nur die anderen?
Ich frage nach bei Stephan Lessenich, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt soziale Entwicklungen und Strukturen an der Universität München. Wie blicken Sie auf das, was hier gerade passiert in Deutschland?
Lessenich: Ich glaube, wir sehen jetzt nach einer Zeit des Ausnahmezustands und auch des akzeptierten Ausnahmezustands den großen gesellschaftlichen, kollektiven, aber auch individuellen Drang zur Normalisierung. Dass es wieder so werden möge, wie es vorher war oder vermeintlich vorher gewesen ist. Das führt dazu – das ist jetzt die Entwicklung der letzten Tage auch in Deutschland –, dass man versucht, das Risiko und die Infektionsherde zu lokalisieren. Das heißt, es passt natürlich - wenn man normalisieren möchte - ins Bild, dass es nur einzelne Hotspots sind, die jetzt noch gefährdet sind und wo das Virus ausbricht.
Dann hilft es natürlich, das auf andere, auf Fremdgruppen projizieren zu können. Dann ist es halt die Fleischerei-Industrie, und dann sind es die Rumänen und Bulgaren – das ist ja mittlerweile auch eine Chiffre für Sinti und Roma. Das heißt, es hilft, wenn man, wie Donald Trump das schon früh gemacht hat, sagen kann: "Na ja, das ist vielleicht jetzt nicht ein chinesischer Virus bei uns, aber einer, der von außen kommt." Herr Laschet hat das ja auch praktiziert.

"Wir wollen uns frei bewegen"

Karkowsky: Steigt denn durch diese Sehnsucht zu einer Rückkehr zu einer neuen Normalität auch das Risikoverhalten?
Lessenich: Ich glaube, das ist gleichzusetzen. Wir wollen so leben, wie wir das vorher getan haben, uns frei bewegen, mit anderen Kontakt haben, reisen, und das heißt natürlich, dass das Infektionsrisiko unter sonst gleichen Bedingungen steigt.
Von daher, glaube ich, kann man da keinen großen Unterschied machen. Wenn wir uns so verhalten wollen wie vorher, dann steigt unter gegebenen Bedingungen auch in gleicher Weise das Risiko von Neuinfektionen und gegebenenfalls einer zweiten Welle.
Karkowsky: Was meinen Sie, wo das herkommt, dass gefühlt diese Angst, angesteckt zu werden, in den Hintergrund tritt? Die Leute sind nicht mehr so ängstlich, wie sie es noch vor zwei, drei Monaten waren.
Lessenich: Ich glaube, da gibt es verschiedene Erklärungsebenen. Eine psychologische wäre sicherlich, dass man natürlich solche Ausnahmezustände auch individuell psychisch nur kurzfristig aushält. Außer es ist Krieg, dann muss man wirklich vielleicht auch jahrelang sich irgendwie psychisch damit arrangieren, wenn es irgend geht. Aber wir hatten jetzt keinen Krieg, auch wenn er manchmal so benannt wurde, sondern jetzt ist klar, eigentlich sind die Verhältnisse wieder einigermaßen normalisiert.
Dann möchte man auch wieder das tun, was man vorher getan hat. Das hat aber auch eine soziale Komponente, also nicht nur, dass man soziale Kontakte sucht und wir gesellige Wesen sind, sondern dass unsere gesamte Gesellschaft auch danach funktioniert, dass man sich bewegt und mit anderen nicht zuletzt im Wettbewerb steht und dass man die Dinge wieder so machen möchte wie vorher, also beispielsweise auch wieder Karriere machen.

Ausnahmezustand geht nicht dauerhaft

Karkowsky: Es gibt natürlich immer noch massive Einschränkungen im Alltag. Das Sichtbarste sind natürlich die Masken, die wir alle tragen müssen im Einzelhandel oder wenn wir in Restaurants mal auf die Toilette gehen. Wie hat sich denn aus Ihrer Sicht die Akzeptanz für solche Einschränkungen verändert?
Lessenich: Einerseits ist es natürlich gegenüber vorher eine große Einschränkung im Alltag, andererseits im Vergleich zu dem, wie viele andere Menschen dauerhaft jeden Tag leben müssen, natürlich eine geringe Anforderung, eine Maske aufsetzen zu müssen, wenn man in einen Supermarkt geht. Aber ich glaube, auch hier war es eine Zeit lang – also unter Ausnahmezustandsbedingungen, unter der Voraussetzung und dem Eindruck, dass man selber auch gefährdet ist und damit auch andere gefährden könnte – vorübergehend möglich, auch kollektiv zu solchen Regelbefolgungen zu greifen und das wirklich durchzusetzen. Ich glaube, es gibt jetzt ganz normale Anpassungsprozesse. Sie können nicht dauerhaft den Ausnahmezustand ausrufen.
Karkowsky: Erwarten Sie denn nicht, dass sich jetzt mit den vielen Berichten und Zahlen aus Gütersloh Dinge auch wieder ändern, oder sind die Fleischverteiler bei Tönnies vielen nicht näher als China?
Lessenich: Ich fürchte, Letzteres ist der Fall. Ich meine, man hätte über die Bedingungen in der deutschen Fleischindustrie mit Vertragsarbeitsnehmern und den Wohnbedingungen dieser Menschen schon längst konfrontiert werden können öffentlich, wenn man das gewollt hätte. Die Politik wusste das natürlich auch. Auch in NRW dürfte niemand überrascht gewesen sein, welche Verhältnisse sich da darstellen.

"Wir freuen uns, wenn es andere betrifft"

Aber ich glaube, man ist froh, in diesem Fall, wenn man sein billiges Fleisch konsumieren kann, und das gehört natürlich auch zur neuen Normalität, dann wieder grillen zu gehen und für 4,44 das Kilo Rippchen auf den Rost zu legen. Wir alle sind so disponiert in dieser Gesellschaft, dass wir uns freuen, wenn es andere betrifft und wir selber aus dem Schneider sind und dann so weiter machen können wie bisher. Am Ende stellen wir dann fest, dass unsere Putzfrau gar nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist.
Karkowsky: Ist das denn alles rational, dieses Verhalten, was wir jetzt erleben, dass viele Menschen Corona offensichtlich vor allen Dingen als Problem der anderen, der Fremden wahrnehmen? Angesichts eines Reproduktionsfaktors von über zwei kann es ja doch nach wie vor jeden treffen?
Lessenich: Es hat natürlich immer eine gewisse soziale Rationalität zu denken: Na ja, das betrifft die anderen, oder die anderen sind schuld - also überhaupt ein Problem oder auch die Genese eines Problems auf andere projizieren zu können.
Das ist natürlich individuell rational. Es ist womöglich auch kollektiv rational. Also wenn eine Gesellschaft sagt "Das Virus kommt von außen" und alle das akzeptieren, dann ist es natürlich auch rational auf eine Weise. Letztlich epidemiologisch ist es irrational, und es ist natürlich auch das Gegenteil von solidarisch, aber auch da würde ich sagen, unsere Gesellschaft ist so verfasst, dass Solidarität nur schwer Raum greifen kann, vielleicht dann tatsächlich in solchen Ausnahmezuständen, aber nicht auf Dauer. Es ist natürlich auch schwierig, wenn aus der Politik Forderungen nach Solidarität kommen, die durch die Politik selber immer wieder unterminiert werden.

Beobachtung der Gesellschaft "bei laufendem Motor"

Karkowsky: Eine persönliche Frage noch, Herr Lessenich: Wie schwierig ist es denn jetzt gerade für Sozialwissenschaftler, die ja ständig von den Medien gebeten werden, die Zustände richtig einzuschätzen, bevor sie überhaupt die Gelegenheit hatten, die richtigen Daten zu sammeln?
Lessenich: Ja, genau, Sie sind schuld, Herr Karkowsky, weil Sie uns immer fragen, bevor wir im stillen Kämmerlein uns das Ganze noch mal genauer angeschaut haben! Nein, das ist natürlich richtig. Das ist bei der Gesellschaftswissenschaft eigentlich immer so, das ist Beobachtung der Gesellschaft bei laufendem Motor und in der Bewegung, und natürlich können wir jetzt keine definitiven Aussagen über das epidemiologische Geschehen machen.
Das ist eh klar, aber ich glaube, unser Wissen über soziale Beziehungen, wie Menschen sich in Krisen verhalten, hilft uns da schon weiter, wobei wir auch immer selber uns auf Überraschungen gefasst machen müssen. Corona gab es so natürlich noch nie, und diese Gesellschaft ist seit Jahrzehnten nicht mehr krisenerprobt, anders als andere Gesellschaften im globalen Süden oder in Griechenland beispielsweise.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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