Ende der Multikulti-Illusion

Zu Gast: Sanem Kleff, Projektleiterin "Schule ohne Rassismus", und Paul Scheffer, Soziologe |
Nicht erst seit dem umstrittenen Interview des Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin in der Zeitschrift "Lettre International" wird das Thema Integration kontrovers diskutiert. Darin hatte der ehemalige Berliner Finanzsenator einem Teil der Hauptstadt lebenden Araber und Türken unter anderem vorgeworfen, "weder integrationsfähig noch integrationswillig" zu sein.
"Dumpfer Populismus und Rassismus" schimpften daraufhin die einen, andere pflichteten ihm bei – endlich wage es jemand, die Probleme offen anzusprechen.

Wie steht es aber jenseits der Polemik um die Integration in Deutschland?
Wie kann das Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen gelingen?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich Paul Scheffer seit langem. Der Soziologe ist Inhaber des Wibaut-Lehrstuhls für Probleme der Großstadt an der Universität von Amsterdam. Er gilt als einer der besten Kenner der Integrationsproblematik weltweit.

In Teilen gibt er Thilo Sarrazin Recht: Es seien grobe Äußerungen, aber: "Er spricht reale Probleme an. Es gibt zu viel Abhängigkeit vom Versorgungsstaat, nicht nur in Berlin, es gibt viele arbeitslose Migranten, es gibt in muslimischen Kreisen einen zu großen Abstand zur Gesellschaft." In den 60er Jahren hätten noch 80 Prozent der Migranten einen Arbeitsplatz gehabt, heute seien es nicht einmal mehr 40 Prozent – daraus resultierten viele Probleme.

"Weil wir erstens keine klaren Immigrationskonzept gehabt haben. Der Begriff Gastarbeiter ist an sich schon eine Illusion. Die Migranten haben sich gefühlt als Gäste und haben die Sprache nicht gelernt. Die Gesellschaft hat sie nicht wahrgenommen als Immigranten, sondern als Passanten. Sie haben gedacht, sie arbeiten ein paar Jahre hier und gehen zurück. Damit hat es angefangen."

Er sieht die aktuelle Diskussion auch als Chance für beide Seiten, sich klar zu werden, was Einwanderung bedeutet:

"Man kann nicht wirtschaftlich sagen, wir brauchen Einwanderer, sie aber nicht als Mitbürger sehen. Einwanderung ist etwas, was die Immigranten ändert, aber auch die aufnehmende Gesellschaft. Es gibt das Gefühl von Verlust auf beiden Seiten. Bei den Migranten ist klar, sie verlieren ihre Tradition, die ältere Generation fürchtet, sie verliert ihre Kinder. Aber auch auf der Seite der Alteingesessenen gibt es dieses Gefühl des Verlustes: Der Bezirk, wo ich wohne, ändert sich. Ich fühle mich nicht mehr heimisch." Diese Ängste müsse man zulassen, offen aussprechen.

Sein Appell: "Zusammenleben geht nicht ohne Offenheit auf beiden Seiten. Ich glaube, dass in Städten, wo 20 bis 30 Prozent Migranten sind, kann man nicht mehr nebeneinander her leben. Da müssen sich die Menschen öffnen."

Sanem Kleff engagiert sich seit langem für ein besseres Miteinander der Menschen verschiedener Kulturen – nicht nur in Berlin. Die gebürtige Türkin lebt seit ihrem fünften Lebensjahr in Deutschland und ist Leiterin des europaweiten Projektes "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage".

Die ehemalige Lehrerin ist empört über die Äußerungen Thilo Sarrazins:
"Die aktuelle Diskussion kann ich nicht reduzieren auf eine Stimme. Man muss sie in einer Reihe mit vielen Stimmen sehen, die wir schon seit Jahren hören. Im Grunde seit 2004, seit dem Tod von Theo van Gogh. Da begann dieses Fokussieren auf Einwanderer mit muslimischem Background." Das Abgrenzungsargument sei ganz klar die Religion, es gehe um den Islam, den man gleichsetze mit Islamismus, auch in einer weltweiten Dimension – daran habe auch der 11. September 2001 seinen Anteil. Seither höre sie auch vermehrt Kritik an Kopftuch tragenden Frauen, es häuften sich die Diskussionen über Moscheebauten, über die Haltung der Männer zur Gleichberechtigung.

Sie fordert eine vorurteilsfreie Diskussion über die Probleme des Zusammenlebens, aber auch mehr Verständnis für die Situation der Migranten:
"Wir müssen erst einmal unterscheiden zwischen Flüchtlingen und Angeworbenen. Die Leute sind hergekommen mit einem Stammeshintergrund, heute leben sie hier in der dritten oder vierten Generation. Das ist für Familien keine lange Zeit. Innerhalb von Familien verändern sich Haltungen nur langsam, zumal wenn die ersten beiden Generationen die Haltung hatten, wieder zurückzukehren. Wenn der angeworbene Vater Analphabet war, dann ist er es geblieben."

Und sie weist auf die Versäumnisse hin: "Der Kernpunkt ist die mangelnde Fähigkeit im gesamten Bildungsbereich, Kindern Deutsch beizubringen. Dabei ist das nicht schwierig, es kostet nur Geld. Es gibt Programme, hervorragende Modellprojekte seit 30 Jahren, aber das kostet Geld, Lehrer müssen anders ausgebildet werden, es braucht mehr Zeit, mehr Stunden pro Kind. Aber an diesem Punkt müsste man ran. Ohne gute Sprachkenntnisse wird automatisch eine Gruppe quasi ausgeklammert. Nur, wenn man an dieser ersten Schraube nicht gedreht hat, klappt es auch nicht auf den regulären Arbeitsmarkt. Die Frage ist: Inwieweit ist es Konsens in der Gesellschaft, dass wir diese Jugendlichen brauchen?"

Ende der Multikulti-Illusion - Wie steht es um die Integration?
Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Sanem Kleff und Paul Scheffer. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet:
Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage

Literaturhinweis:
Paul Scheffer: Die Eingewanderten – Toleranz in einer grenzenlosen Gesellschaft", Carl Hanser Verlag 2008