Empfindsames aus der britischen Provinz

25.12.2010
Ein Dorf in Südwestengland, zehn Kilometer von Marlborough entfernt, wo es Kinos und Illustrierte gibt, die einem die beschwärmten Filmstars nahebringen. Hier lebt 1937 eine Handvoll fast karikaturhaft zeittypischer Engländer. Hier gilt das Selbstbild "Wir sind Empire", zu dem auch mit französischen Brocken aufgetakelte Konversation gehört. Und die Empiretradition war von jeher probate Fassade für korrekte Förmlichkeit und tolerierten Tabubruch.
So stört sich niemand an der noch immer schönen, verarmten ehemaligen Generalsmaitresse Dodo Bassett oder dem geschiedenen, aus Kriegs- und Kostengründen wiedervereinten garstigen Ehepaar Sybil und Charlie Demarest. Zumal sie alle ein Faible für Klatsch und Klasse sowie reizvolle Verbindungen zu manch diesbezüglichem Objekt aufweisen, die Demarests sogar einen Filmstar in spe: den hübschen Sohn Sandy.

In diesem ländlichem Idyll liegt der titelgebende Garten: "Ein nahezu vollkommenes Quadrat mit zu Tierformen gestutzten Eiben, niedrigen Buchshecken, gekrümmten und ovalen Blumenbeeten, kreisrunden und dreieckigen Rasenflächen, verziert mit steinernen Vogelbädern und geraden, symmetrischen Wegen, die in der Mitte bei einer Sonnenuhr zusammenliefen." Angelegt vom Vater des jugendlichen Erzählers. Symbol einer Ordnung, zu der liebenswerter Pragmatismus ebenso zählt wie grausamer Snobismus. Bei Kriegsende wird der Garten so ruiniert sein wie die alte Ordnung. In den acht Jahren dazwischen passiert etwas merkwürdig Schwebendes.

Der junge Ich-Erzähler ist 13, als er in den Bann der 32-jährigen Kay Demarest gerät. Sie darf in jenem Garten sonnenbaden und einfach in Ruhe sein. Sie ist ein wahrer Unglücksrabe, buchstäblich zu Tode ignoriert von Sybil und Charlie, ohne Rettung durch Bruder Sandy, den es statt nach Hollywood in die Royal Air Force und deutsche Gefangenschaft treibt, und auch nicht zu retten durch den Erzähler, dem die gemeinsame Krankheit Tuberkulose das Leben rettet, die ihr den Tod bringt.

Der Krieg hält immer mehr Einzug, nicht nur in Gestalt der GIs, die im Dorf einquartiert werden. Aber das schmale Werk ist kein Kriegsroman. Man kann es mit Fug eine zarte Liebesgeschichte nennen: ohne Sex, gar Happyend, aber höchst empfindsam. Man kann es auch mit Recht als Entwicklungsroman verstehen, der jedoch alles Autobiografische an einer anderen Figur spiegelt. Zwar stimmen die meisten Daten, Orte und Ereignisse überein mit denen im Leben von Francis Wyndham. Noch feinste Details sind historisch geerdet - da wird 1942 der neueste Agatha-Christie-Roman gekauft, der tatsächlich in jenem Jahr erschien und in dem es einen Piloten mit Schwester und ein Dorf mit sauberer Fassade und Schmutz dahinter gibt.

Aber wer genau dieser Erzähler ist und wird, erfahren wir vor allem aus Kays Sein und Werden. Sie verkörpert das unschuldige, liebenswert-scheiternde Anarchische, das Ehrgeizlose, das er bei sich selbst spürt und dem er am Ende im Garten Treue schwört, wohl wissend, dass sie brüchig ist.

In diesem Treueschwur scheint Wyndham, bei aller Literarizität, vollkommen bei sich. Der heute 86-jährige Lektor, Kritiker, Vollblutliterat, hat seinen Roman erst mit 63 veröffentlicht und wurde damit der vermutlich älteste Whitbread-Preis-Debütant.

Besprochen von Pieke Biermann/

Francis Wyndham: Der andere Garten
Deutsch von Andrea Ott
Dörlemann Verlag, Zürich 2010
191 Seiten, 18,90 Euro