Bremen nach dem Trauma Kevin

Elternsein mit Droge

27:48 Minuten
Trauerfeier für den getöteten zweieinhalbjährigen Kevin im November 2006 in Bremen. Ein Sarg mit Blumen und Kerzen drumherum.
Trauerfeier für den getöteten zweieinhalbjährigen Kevin im November 2006 in Bremen. © imago / epd
Von Heinrich Pfeiffer · 16.10.2022
Audio herunterladen
Im Oktober 2006 findet die Bremer Polizei die Leiche eines kleinen Jungen in der Kühltruhe des drogenabhängigen Ziehvaters. Seit dem Tod von Kevin gelten deutschlandweit neue Standards für Kindeswohl und Kinderschutz. Reichen sie aus?
Ein lauer Spätsommertag. Im Bremer Bürgerpark sind nur wenige Eltern und Jogger unterwegs. Ich stehe mit Katja Berger* auf einem Spielplatz. Bergers dreijährige Tochter Mia schaukelt vor uns. „Da mach ich mir bis heute noch Vorwürfe. Das ist für mich ganz, ganz, ganz schlimm. Die Krankenschwestern in Frankfurt haben das damals ganz toll gemacht, auch die Ärzte. Die lag siebeneinhalb Wochen auf Kinderintensivstation. Danach konnte ich sie mit auf Therapie nehmen. Sie ist durch damit.“ Durch mit dem Entzug.

Ein Baby auf Entzug

Katja Berger war in der Schwangerschaft kokainabhängig. Nach der Entbindung musste ihre neugeborene Tochter Mia einen Entzug über sich ergehen lassen. Schuldgefühle, die Katja Berger bis heute mit sich herumträgt.

Das Feature wurde erstmals am 28. November 2021 ausgestrahlt.

„Die Droge nimmt dir für einen Moment einfach alles, deine Sorgen, dein Kummer, deine Ängste, deine bösen Gedanken, deine guten Gedanken", beschreibt Berger das Gefühl. "Es ist wirklich so, dass das Heroin einen wie ein warmes Handtuch umgibt. Aber leider nach der Zeit lässt die Wirkung der Droge nach und dann kommt der körperliche Entzug wie Durchfall, starke Gliederschmerzen, Kopfschmerzen, bis hin zu Ohnmachtsgefühlen, weil dein Körper einfach so auf Spannung ist, dass du voll nicht mehr klarkommst.“

Zehn Jahre heroinabhängig

Von 2008 bis 2018 war Katja Berger abhängig, vor allem von Heroin und Kokain. Ihre erste, mittlerweile siebenjährige Tochter wurde in dieser Zeit vom Jugendamt in Obhut genommen. Heute lebt das Kind bei seinem Vater. Es sei ihr größter Fehler gewesen, sich nicht um das Kind kümmern zu können, sagt sie heute. Damals versucht sie es immer wieder mit Substitutionsprogrammen, ohne wirklichen Erfolg. Zehn Jahre lang.
„Das Substitut hat nicht dafür gesorgt, dass ich aufhöre", sagt sie, "sondern, dass ich den körperlichen Entzug nicht mehr habe. Du kriegst nicht das Substitut und bist damit geheilt, auf gar keinen Fall, sondern du bist nur geheilt, wenn du eine Therapie machst, wenn du wirklich was in deinem Leben ändern möchtest, dann kannst du sagen, ok gut, ich mach das jetzt.“

Therapieangebot in der Schwangerschaft

Wirklich was in ihrem Leben geändert hat Katja erst 2018. Dem Jahr, in dem sie erst wohnungslos und dann schwanger wird. 2018 bekommt sie Kontakt zu „Eltern Plus“, einer Beratungsstelle für drogenabhängige Eltern am Bremer Hauptbahnhof. Diese wird nach dem Fall Kevin, bei dem ein zweijähriger Junge von seinem drogenabhängigen Ziehvater getötet wurde, gegründet. Dort wird ihr nicht nur psychisch geholfen, dort setzt sie Anna Tibert, ihre Beraterin, sofort schwanger in einen Zug nach Frankfurt. Ihr Ziel: eine spezielle Suchtklinik für Schwangere. Seitdem ist Katja clean.
Das, was mein Leben mir jetzt gibt, meine Tochter, meine Familie, was die mir gibt, kann mir die Droge nicht mal ansatzweise das Wasser reichen", sagt sie. Damals habe sie sich bewusst auf die Therapie eingelassen, "dass ich bewusst gesagt hab, ich will was ändern und dass ich bewusst gesagt habe, ich will mich brechen lassen.“
Gebrochen worden zu sein, ist für Katja Berger eins der wichtigsten Gefühle, wenn sie über ihre Zeit und ihre Flucht von den Drogen spricht. Ohne Anna Tibert von „Eltern Plus“ und ohne wirkliche Therapie sagt sie, wäre ihr heutiges Leben nicht möglich gewesen. 

Katja will andere Mütter warnen

Das Treffen auf dem Spielplatz ist unser erstes Treffen. Es folgen weitere, mal ist das Mikro an, mal nicht. Katja, die in Wirklichkeit ganz anders heißt, bestimmt das, je nach Tagesform. So ist unsere Abmachung.
Eigentlich aber möchte Katja erzählen, wie es ihr ergangen ist und wie es ihr ergeht, weil sie das Thema für sich aber auch für andere Eltern wichtig findet. Katja will klarmachen, was es bedeutet, schwanger und süchtig zu sein. Wenn ihr drogenabhängig seid und ihr möchtet nicht aufhören zu konsumieren, dann überlegt euch wirklich bitte, ob ihr dieses Kind kriegt. Ich bin eine Mutter, ich habe mein ganzes Leben geändert um 180 Grad und ich werde niemals diesen Stempel auf meinem Kopf los.“ Katja meint damit, wie sie noch immer angeschaut wird von Menschen in ihrem Alltag, von Ärztinnen und Ärzten, Kindergärtnerinnen, Mitarbeiterinnen des Jugendamtes.
Dabei würde sie so gern von vorn beginnen, möchte einen Führerschein machen, den Hauptschulabschluss nachholen, unabhängiger werden. Viel ist auch schon passiert. „Dank Anna“, sagt Katja. Anna Tibert von der Drogenberatungsstelle.

Bindeglied zwischen Jugendamt und Drogenhilfe

Der Arbeitsplatz von Psychologin Anna Tibert ist nicht zufällig direkt am Bremer Hauptbahnhof, denn hier wird am meisten konsumiert. Ein Großteil der Bremer Drogenszene trifft sich hier. Oft einhergehend mit Obdachlosigkeit. Tibert hat zwei Aufgaben, zum einen arbeitet sie in der Drogenberatung für das städtische Unternehmen „Comeback“, zum anderen, das ist ihr Schwerpunkt, bei „Eltern Plus“, der Beratungsstelle, die sich auf abhängige Eltern spezialisiert hat.
Comeback (Drogenberatungsstelle)
Für eine erfolgreiche Arbeit ist vor allem gegenseitiges Vertrauen wichtig, sagt Anna Tibert, die auch für die Drogenberatungsstelle "Comeback" arbeitet.© Eltern Plus
Hier, am Hauptbahnhof, trifft sie vor ein paar Jahren auf Katja. Zuerst als Drogenabhängige, dann als Schwangere bei „Eltern Plus“. Beide mögen sich, vertrauen sich, was unfassbar wichtig ist, sagt Tibert. Denn ihre Klienten sollen sich nicht allein gelassen fühlen. Krankenversicherung und erste Untersuchungen in der Gynäkologie organisieren, Termine vereinbaren. Sie probiert, mit ihnen das Feld gemeinsam aufzurollen.
Doch betont sie, dass „Eltern Plus“ keine therapeutische Einrichtung ist, sondern sich als Bindeglied zwischen Jugendamt und Drogenhilfe versteht. Das Wichtigste ist erst mal, dass ich das total liebe, was ich hier mache. Ich bin unheimlich dankbar dafür, an dem ganzen Wahnsinn teilhaben zu dürfen", sagt Tibert. "Das ist ein unglaublicher Luxus, ich kann irgendwie beides: Ich kann mein schönes privates Leben führen und ich darf halbtags in so einer ganz anderen Welt mich aufhalten. Ich darf Menschen kennenlernen, zu denen ich sonst nie in Kontakt gekommen wäre. Ich darf Schicksale miterleben, die andere im Roman lesen. Ich empfinde das als ganz großen Luxus, da so nah rangehen zu dürfen. Auch immer wieder dieses Vertrauen zu bekommen, das ist etwas ganz Tolles und ich mach das mit sehr viel Leidenschaft.“

"Manchmal ist alles nicht mehr auszuhalten"

Und dennoch: Ohne Supervision wäre das manchmal gar nicht auszuhalten, sagt sie. Die therapeutische Nachbesprechung versucht zu klären: Was war Arbeit? Was bist du selbst und welche Probleme hast du aus ganz anderen Kontexten? Ein extremer Fall war eine Frau, die einfach das Kind nicht haben wollte", erinnert sich Tibert. "Die einen Kaiserschnitt hat machen lassen und das Kind dann da zurückgelassen hat, und ich dieses Neugeborene sah und es einfach am liebsten mitgenommen hätte. Eigentlich dachte ich, wenn es keiner haben will, nehme ich es halt mit. Das sind ja so Situationen, in denen man einfach Mensch ist und so denkt: Es ist alles nicht mehr auszuhalten.“

Schutzkonzepte und Fallgespräche

Das Jugendhilfesystem ist komplex. Wenn Eltern zu Anna Tibert kommen, kann es beispielsweise darum gehen, wie sie das Kind behalten können. Denn bei Drogenabhängigkeit und Elternsein sagt das Jugendamt – wenn es um harte Drogen geht – „das Kindeswohl ist gefährdet“. Damit ein Fall wie Kevin nie wieder passiert. Um eine Inobhutnahme zu verhindern, werden sogenannte Schutzkonzepte zwischen Eltern und Jugendamt erstellt.
Besprochen wird das Ganze in Fallgesprächen. Dort sitzen dann Casemanager vom Jugendamt, die das Kindeswohl sicherzustellen haben, Familienhebammen, Substitutionsärztinnen, Mitarbeiter von Beratungsstellen wie zum Beispiel Anna Tibert von „Eltern Plus“, Familienhilfen und Eltern.
Das letzte Wort hat das Casemanagement vom Jugendamt. Es gebe Gespräche, die auf Augenhöhe laufen, sagt Tibert, "wo die Klientinnen richtig ernst genommen und nach ihrer Meinung gefragt werden, wo wir als Drogenhilfe auch einen Wert haben und man uns fragt". Und dann gebe es Gespräche, in denen sie gar nicht erst angesprochen werden. "Da wird dann einfach irgendwas entschieden. Die Klientinnen haben das zu machen, was da gesagt wird, und wenn wir uns melden, ist da einfach kein Interesse. Da heißt es dann: Die verbrüderten Tanten von der Drogenberatung, was wissen die denn schon?!“

Der Fall Kevin schwebt über allem

Wie die Gespräche laufen, ist sehr stark von den Personen im Casemanagement abhängig. Viel Macht, aber auch alleinige Verantwortung, wenn etwas passiert. Tibert findet, dass diese Personen besser geschult werden müssten, ihr Wissen über Drogen und Drogenmissbrauch gehe manchmal nicht über die Geschichte von Christiane F. hinaus.
Das bestätigen mir auch drei Mitarbeiter im Jugendamt selbst, die aber aus Angst ihren Job zu verlieren, nicht zitiert werden wollen. Über allem, das spüre ich auch so viele Jahre später noch, schwebt die unausgesprochene Angst, dass der Fall Kevin sich wiederholt.

Ein Versagen auf vielen Ebenen

Seit der Geburt 2004 von Kevin ist das Jugendamt mit damals noch beiden drogenabhängigen Eltern in Kontakt. Hilfen werden vermittelt, Substitutionsprogramme laufen. Am 12. November 2005 stirbt die Mutter. Aus dem Polizeibericht ergibt sich: Fremdverschulden sei nicht auszuschließen. Ein Jahr später wird Kevin vom vermeintlichen Vater ermordet. Nach Wochen wird er tot in einer Tiefkühltruhe aufgefunden.
Ein Versagen auf vielen Ebenen: Das Jugendamt mit einem Amtsvormund, der zum besagten Zeitpunkt circa 240 Fälle zu betreuen hatte. Ein Substitutionsarzt, der entgegen vieler Warnungen sich immer wieder für den Ziehvater starkmacht und damit verhindert, dass Kevin in Obhut genommen wird. Ein Sozialarbeiter, der nicht richtig hinsehen möchte und kann. Hebammen und Ärzte, die nach Behandlungen von Kevins Knochenbrüchen extrem um das Kindeswohl besorgt sind, beim Jugendamt aber nicht gehört werden. Der Fall schockiert ganz Deutschland, und Bremen hat sein Trauma.
Nach einer Trauerfeier wird im November 2006 Kevin bestattet.
Trauerfeier für den zweijährigen Kevin: Sein Tod sei damals ein großer Schock für alle gewesen, so Sozialzentrumsleiter Rolf Diener.© imago / epd
Ich treffe Rolf Diener, damals Sozialzentrumsleiter beim Jugendamt, später dann Leiter der gesamten Behörde. Der heute 59-Jährige erinnert sich. „Das war ein großer Schock für das Jugendamt, oder für alle. Es war nicht in meinem Sozialzentrum, sondern ein Stück weiter weg, aber da ist die ganze Fachwelt noch einmal aufgerüttelt worden. Da ist relativ viel in Bewegung gesetzt worden. Es gab ja dann auch Untersuchungen: Was ist falsch gelaufen? Wir haben einen großen Prozess gemacht, ein Qualitätskonzept entwickelt.“

Haaranalysen und Urinproben

Es gab große Workshopreihen, um die überbehördliche Arbeit besser zu organisieren. Das Vier-Augen-Prinzip wurde eingeführt, heißt: Bei Fällen mit Kindeswohlgefährdung schauen immer zwei Mitarbeitende zusammen drauf. Außerdem wurde eine Fallobergrenze für Amtsvormünder auf maximal 50 Mündel gesetzlich verankert. Es gelten seitdem strengere Regeln bei substituierten Eltern mit regelmäßigen Haaranalysen und Urinproben. Das heißt konkret, dass Eltern per Post informiert werden, dass sie Proben abgeben müssen. Tun sie das nicht, kommt das Jugendamt und holt sie sich.
Und: Es wurden niedrigschwellige Angebote für Eltern in Not, wie beispielsweise „Eltern Plus“, ins Leben gerufen. Wichtig bei allen Neuerungen sei noch immer, dass Eltern selbst in schwierigen Konstellationen ihren Kindern in der Regel nichts Böses wollen, meint Diener. „Selbst gewalttätige Eltern lieben in der Regel ihre Kinder. So etwas entsteht ganz oft aus Überforderungssituationen, wenn ich es dann schaffe, die Eltern mit ins Boot zu holen und zu sagen, ich gebe dir eine Unterstützung über das Jugendamt, über eine Familienhilfe, über therapeutische Begleitung, eine Erziehungsberatung, dann kriege ich auch Veränderungsprozesse.“

Kevin wird zum Modellfall

Das Thema, es lässt mich irgendwie nicht los. Bevor ich im Urlaub in Garmisch-Partenkirchen in die Berge gehe, habe ich einen Termin im Jugendamt bei Stefan Märte. Er ist seit zehn Jahren Leiter der Behörde. Was Bremen und andere Jugendämter als Casemanagement bezeichnen, heißt in Garmisch „Arbeit im Sozialen Dienst“. Der Fall Kevin sei "so ein Modellfall", der immer wieder erwähnt wird. "Vor solchen Dingen hat man natürlich gewissen gesunden Respekt, und trotzdem weiß man, dass man die Dinge nicht hundertprozentig kontrollieren kann.“
In Garmisch wurde als Reaktion auf Kevin die niedrigschwellige Koordinierungsstelle für frühe Hilfen (KoKi) eingesetzt. KoKi steht – genau wie „Eltern Plus“ in Bremen – auch nicht im Austausch mit dem Jugendamt. Denn das Jugendamt hat in der Verwaltungssprache das sogenannte Wächteramt inne. Ein Datenaustausch zwischen der Koordinierungsstelle und dem Amt käme einem Vertrauensbruch gleich.
Das Bild der Eltern, dass das Jugendamt sofort die Kinder in Obhut nimmt, sei noch immer verbreitet. KoKi soll dagegen helfen und bei der Früherkennung von Krisen in Familien unterstützen. Das Risiko, Fälle falsch einzuschätzen, verschwindet aber nie ganz. Sie erleben Fälle, wo sie am Anfang wenig Hoffnung haben, und dann entwickeln die sich erstaunlich positiv", sagt Märte, "und sie erleben Fälle, wo sie am Anfang sagen, das müsste eigentlich super laufen, und plötzlich passieren Katastrophen ohne Ende.“

Ersatzdroge Polamidon

Zurück in Bremen bin ich zusammen mit Katja Berger im Supermarkt. Katja lebt heute von Hartz IV. Auf dem Rückweg durch Vegesack erzählt die 32-Jährige von ihrem Drogenalltag damals.
Der Konsum sei allgegenwärtig gewesen und allein wie ihre Wohnung vor sechs Jahren ausgesehen habe: Heute für sie nicht mehr vorstellbar. Es lagen halt überall Spritzen rum. Da lagen meine Spritzen und Matratze auf dem Boden, Wasserkocher, das war es. Mehr hatte ich nicht.“
Ihre Haare hat Katja heute gefärbt. Gerade blond, aber sie hat auch Lust auf andere Farbexperimente. Das Leben soll endlich wieder bunter werden. In ihrem Blick, ihrem Gesicht sieht man manchmal, dass sie schon viel durchgemacht hat. Ich bewundere, wie offen sie darüber spricht. Um eben nicht wieder rückfällig zu werden, ist sie in einem Substitutionsprogramm. Ihre Ersatzdroge ist Polamidon.
Zusammen mit ihrem Arzt und ihrer Casemanagerin vom Jugendamt hat sie vereinbart, das Substitut zu Hause aufzubewahren. Sie nimmt es einmal am Tag, immer, nachdem sie ihre Tochter in die Kita gebracht hat. Der körperliche Entzug wird durch das Polamidon verhindert. Kein Durchfall, keine Übelkeit, kein Schwindelgefühl, keine innere Unruhe wie beim Heroin.
Sie hat keinen Trip mehr und verspürt nicht den Druck wie früher, sich neuen Stoff besorgen zu müssen. Zusammen mit ihrem Substitutionsarzt bespricht sie die Dosis der Ersatzdroge. Je nachdem, wie es Katja gerade geht mit dem Medikament, werden die Milliliter verringert oder erhöht.

Stressfaktor Casemanagement

Wir setzen uns draußen an einen Tisch bei einem Bäcker in der Vegesacker Innenstadt. Es ist eins unserer letzten Treffen. Der Stress im Leben von Katja ist nicht weniger geworden, seitdem sie clean ist, aber sie versteht, warum das Jugendamt so viel von ihr verlangt. Es hat sich sehr viel geändert, auch ins Positive", sagt sie. "Die sind halt, was ich auch gut finde, sehr vorsichtig geworden." Sie würden beispielsweise Haarproben nehmen, auch von den Kindern, außerdem würden regelmäßige Urinkontrollen stattfinden. "Ich bin zum Beispiel eine der Mütter, die substituiert wird, die sagt: Ihr braucht Haare? Kriegt ihr.“ 
Was aber nervt: Innerhalb des letzten Jahres hatte Katja mit drei unterschiedlichen Casemanagerinnen zu tun. Keine Seltenheit in Bremen, denn die Fluktuation ist groß. Für Katja bedeuten die Wechsel jedes Mal eine Umstellung: Denn das Casemanagement gibt ihr vor, wie sie das Kindeswohl ihrer dreijährigen Tochter sichern soll. Zum Beispiel wurde, weil meine Tochter einen kleinen Kopf hat, von meiner zweiten Casemanagerin, im Gespräch gesagt, ob Mia ein Alkoholsyndrom hätte. Die Casemangerin hatte mich dann zum Kinderzentrum geschickt. Die dritte hatte gesagt: Nein, alles gut, aber Sprache, so jetzt gucken wir nach der Sprache.“
Dauernd neue Ansagen. Für Katja ist das der pure Stress. „Ich lebe seit drei Jahren immer wieder mit der Angst, dass sie irgendwas finden, wo sie mir das Genick mit brechen wollen und mir meine Tochter wegnehmen", sagt sie. Davor habe ich so eine höllische Angst. Das wäre das Allerallerschlimmste, was man mir antun könnte. Wenn man mir meine Tochter wegnimmt, weil da irgendwas nicht so läuft, wie es sein soll.“

Standards für den Kinderschutz

Muss das sein, frage ich mich? Drei Fallmanagerinnen in einem Jahr? Ich frage beim Amt für soziale Dienste in Bremen nach. Dem ist das Jugendamt unterstellt. Die Pressestelle verweist mich an Nicole Weiß im Leitungsstab des Bremer Jugendamts. Wir treffen uns im Büro des Pressesprechers.
Weiß hat auch mal als Casemanagerin angefangen. Ihre allererste Inobhutnahme habe sie noch mit ihrem eigenen Kleinwagen mit zwei Kollegen und dem Kleinkind bewerkstelligt, erinnert sie sich. "Wir fingen schon an, dass wir erstmal organisieren mussten, wo kriegen wir einen Kindersitz her, wie machen wir das?" Bei einer Inobhutnahme heute gebe es immer die Möglichkeit, einen Taxidienst zu rufen. "Nicht der Mitarbeiter fährt selbst, sondern es fährt wer anders, damit wir uns voll und ganz auf die Kinder konzentrieren können. Wir haben in allen Häusern, für alle Altersklassen genügend Sitze. Allein diese ganze Organisation hat sich so verändert, das ist so ein kleines Beispiel, um das einfach mal zu verstehen. Wir haben ganz viele Standards, die den Kinderschutz sicherstellen.“
Ich erzähle Nicole Weiß von dem Fall, den ich für diese Reportage begleite. Von einer substituierenden Mutter, die nicht verstehen kann, warum innerhalb eines Jahres drei unterschiedliche Casemanagerinnen für sie zuständig sind. Weil ich in meiner Anfrage vor allem Fragen zum Fall Kevin angekündigt habe, bleibt Nicole Weiß, die den Fall Katja nicht kennt, sehr im Allgemeinen. "Es ist einfach ein Fachkräftemangel da", sagt sie. "Das heißt, man hat einfach die Möglichkeit, beruflich und privat gut zu gucken, was passt für mich, was ist für mich vereinbar, und dementsprechend gibt es Fluktuation.“

Jugendamt: Wir lassen Euch nicht allein

Fachkräftemangel und Fluktuation – ein Problem, mit dem das Jugendamt in Bremen wohl nicht allein dasteht, und dennoch erzählen mir die drei Mitarbeiter, die anonym bleiben möchten, dass sie das auf die Dauer ganz schön frustriert. In Bremen kritisieren sie, dass das Jugendamt in sechs Sozialzentren aufgesplittert ist, die in Kindeswohlfragen aber nicht einheitlich arbeiten.
Der Pressesprecher dagegen sagt: Seit zwei Jahren ist ein einheitliches Vorgehen verbindlich vorgeschrieben. Dann kritisieren die drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch, dass unerfahrene Kollegen oft früh in sehr harte Fälle geworfen werden, die eine unglaubliche Verantwortung mit sich bringen. Eine Verantwortung, die schwer zu tragen ist, denn, wenn etwas passiert, ist die Einzelne haftbar.
„Natürlich ist Casemanagement herausfordernd und geht manchmal an die Grenzen der Psyche des Einzelnen“, entgegnet hier der Pressesprecher. „Aus diesem Grund sind ja das Vier-Augen-Prinzip und die Möglichkeit der Supervision eingeführt worden“. Seine Botschaft: Wir lassen unsere Mitarbeiterinnen nicht allein.

Die Angst, die immer bleibt

Zum letzten Mal besuche ich Katja in Bremen Vegesack. Anna Tibert von der Beratungsstelle „Eltern Plus“ ist heute auch dabei. Wir treffen Mutter und Kind in ihrer Wohnung. In der Küche beim Kaffee beginnt direkt das Beratungsgespräch. Es geht um Mias Klarkommen im Kindergarten. Katja hat Angst, dass Mia zu auffällig sein könnte. Ein Aufmerksamkeitsdefizit steht im Raum. „Was mir dabei wichtig ist: Das ist halt meilenweit weg von irgendwelchen kindeswohlgefährdenden oder dramatischen Sachen", sagt Tibert. "Jedes Kind hat das Recht darauf, so was zu haben, und du bist halt keine schlechte Mutter deswegen, sondern du bist Mias Mutter, die mit Mia zum Arzt geht und sich darum kümmert, dass das alles läuft. Das ist der ganz wichtige Punkt. Schmier dir das nicht aufs Brot! Du hast alles gegeben und du warst an jeder Stelle da, wo du sein musstest.“
„Und dennoch habe ich immer diese Angst und ich glaube auch nicht, dass die weggeht“, sagt Katja. So laufen ihre Gespräche oft ab, meist am Telefon, zu Hause besucht Anna Tibert Katja Berger selten. Tibert ist da, um mit Katja über alles zu sprechen. Das können Vergangenes, Probleme mit dem Jugendamt oder mit Mias Vater sein.
Beide erinnern sich noch gut an ihre erste Begegnung. Es begann mit einem Schwangerschaftstest bei der Drogenberatungsstelle. „Die Ärztin hat da gesagt: Sie sind schwanger. Ich bin da ausgerastet und habe geheult: Was mach ich jetzt. Die damalige Ärztin hat dann gesagt: Ich verweise sie zu 'Eltern Plus', die sind hier mit im Haus. Seitdem arbeite ich mit Anna zusammen.“

Fallmanagerin droht mit Abtreibung

Während der ersten Schwangerschaftsmonate konsumiert Katja weiter. Eine nervenaufreibende Zeit für alle Beteiligten. Solange, bis die damalige Casemanagerin des Jugendamtes Katja mit Abtreibung droht. „Das war die Überlegung, die damals im Raum stand, ob das passiert wäre, weiß man nicht, aber wir sind uns ja einig inzwischen, dass das der Punkt war, wo es in deinem Hirn klack gemacht hat", sagt Tibert.
„Wo ich das gelesen hab, war klar: Entweder jetzt oder ich habe echt das zweite Kind verloren", erinnert sich Katja. Tibert setzt sie damals in den Zug zur Suchtklinik in Frankfurt. Seitdem hat Katja nicht mehr konsumiert. Heute sagen beide: Wer dieses Leben damals geschafft hat – der schafft auch das heutige.
* Name von der Redaktion geändert.