Eltern verweigern Cochlea-Implantat

"Keine Gefahr des Kindeswohls" ohne Hörprothese

Eine Ärztin der Universitätsklinik Freiburg hält am Donnerstag (28.04.2005) in der Uni-Klinik ein so genanntes Cochlea (Gehörschnecke) - Implantat zwischen zwei Fingern.
Ein Cochlea-Impantat, das manchen gehörlosen Menschen die Möglichkeit geben kann, wieder zu hören. © Rolf Haid dpa/lsw
23.11.2017
Dürfen Ärzte einem gehörlosen Kind gegen den Eltern-Willen ein Cochlea-Implantat, eine Hörprothese, einsetzen? Das muss das Amtsgericht Goslar entscheiden. Für den gehörlosen Linguistik-Professor Christian Rathmann agieren die Ärzte im Widerspruch zur UN-Übereinkommen für Menschen mit Behinderung.
Nicole Dittmer: Wer gehörlos ist, dem kann unter Umständen eine Hörprothese das Gehör zurückgeben: ein Cochlea-Implantat. Wenn der Hörnerv nicht kaputt ist, dann kann so ein Implantat helfen. Vor dem Amtsgericht in Goslar wird aber jetzt ein Fall verhandelt, bei dem Eltern nicht wollen, dass ihr eineinhalbjähriges Kind so ein Implantat bekommt.
Julius Stucke: Da könnte man auf den Gedanken kommen: Wieso eigentlich? Wie kann man das nicht wollen? Ist das nicht einfach ein Vorteil? Aber es ist eben nicht so einfach. Das hat jetzt in diesem konkreten Fall einen speziellen Grund, und es gibt aber auch ein allgemeineres Bedenken unter manchen Gehörlosen gegenüber dieser Technik.
Erklären kann uns das Christian Rathmann, Professor für Gebärdensprachdolmetschen am Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist selber gehörlos und daher mit der Dolmetscherin Oya Ataman hier ins Studio 9 gekommen. Schönen guten Abend!
Christian Rathmann: Guten Abend!
Stucke: Herr Rathmann, lassen Sie uns mal bei diesem konkreten Fall erst einmal bleiben. Ein HNO-Arzt sieht hier das Wohl des Kindes gefährdet. Die Familie aber, die sagt, wir sind alle, Vater, Mutter, zwei Kinder, gehörlos. Warum sollte nun ein Kind der Familie so ein Implantat bekommen?! Mal jenseits von wissenschaftlichen Überlegungen zur Technik, wie sehen Sie diesen Fall?

"Ich sehe keine Gefahr des Kindeswohls"

Rathmann: Ich bin Wissenschaftler, ich vereine beide Perspektiven. Ich sehe überhaupt keine Gefahr des Kindeswohls vorliegen. Der Grund dafür ist, dass beide gehörlosen Eltern Gebärdensprache können.
Gebärdensprache ist eine eigenständige Sprache mit vollständiger Grammatik und alles, was zu einer Sprache dazugehört. Und es ist eine optimale Voraussetzung für kognitive, psychische und psychosoziale Entwicklung des Kindes. Daher sehe ich überhaupt keine Gefährdung des Kindeswohls vorliegen.
Christian Rathmann, Professor für Gebärdensprachdolmetschen, bei "Studio 9". Mittels Dolmetscherin gibt der gehörlose Linguist das Interview.
Christian Rathmann, Professor für Gebärdensprachdolmetschen, bei "Studio 9". Mittels Dolmetscherin gibt der gehörlose Linguist das Interview.© Leila Knüppel
Stucke: Sie haben dazu ja auch eine Stellungnahme geschrieben und sich da aber auch wissenschaftlich noch der Frage gewidmet, wie das eben mit der Sprachentwicklung ist. Wenn man mal einen Fall konstruieren würde, wo es anders wäre, wo die Familie eben nicht aus vier gehörlosen Menschen besteht, sondern vielleicht eben halbe-halbe verteilt ist. Würde da Ihr Urteil anders ausfallen oder wäre Ihr Urteil da das selbe?

Viele Möglichkeiten, den Spracherwerb zu gestalten

Rathmann: Wichtig in dem Fall ist die Motivation der Eltern. Ob das Implantat selbst gut oder schlecht ist, das ist hier nicht das Thema. Das Thema ist hier, wie die Kommunikation innerhalb der Familie abläuft, wie emotionale Bindungen aufgebaut sind, das ist entscheidend.
Wenn alle die Motivation haben zur Implantation, zum Umgang mit allem, was diese Implantation mit sich bringt, dann ist es auch in Ordnung. Die Perspektive nur auf ein Detail, nämlich rein auf das Implantat, das ist nicht genug. Man braucht einen holistischen Ansatz.
Wenn man Zeit investiert für die ganze Rehabilitationsmaßnahme, dann kann man auch Zeit investieren für Gebärdenspracherwerb. Und es gibt viele, viele Möglichkeiten, den Spracherwerb, den Erstspracherwerb dieses Kindes oder dieser Eltern in verschiedenen Familien zu gestalten.
Letztendlich, welchen Weg für den Erwerb die Eltern aussuchen, das ist dann das Entscheidende.
Dittmer: Jetzt wird über diese Implantate aber eben nicht nur an dem aktuellen Fall diskutiert, sondern es gibt – wie erwähnt – unter Gehörlosen grundsätzliche Skepsis gegenüber der Technik, gegenüber einer solchen Hörprothese.
Rathmann: Nein, das kann ich wirklich nicht bestätigen.
Dittmer: Aber es wird doch diskutiert oder nicht?

"Es ist eine einseitige Perspektive"

Rathmann: Ja genau. Es wird diskutiert, heiß diskutiert. Aber der springende Punkt ist nicht, ob jetzt das Individuum ein CI [Anmerkung: Cochlea-Implantat] bekommt oder nicht. Der springende Punkt ist, dass ein Arzt ohne Hintergrundwissen über Gebärdensprache oder darüber, was Gehörlosigkeit bedeutet, aus dieser Perspektive urteilen kann.
Es ist eine einseitige Perspektive und eine Lösung, ein Patentrezept. Und das ist der Grund für diese große Aufregung.
Dittmer: Abseits von diesem aktuellen Fall: Würden Sie sagen, es gibt andere Fälle, wo so ein Hörimplantat nicht ratsam ist?
Rathmann: Überhaupt nicht. Es kommt darauf an, welche Motivation zu welcher Sprache vorhanden ist innerhalb der Familie. Dann ist ein Cochlea-Implantat oder eben kein Cochlea-Implantat in Ordnung.
Stucke: Und ist das ein mögliches Szenario, was wir zumindest vorhin in der Diskussion in der Redaktion mitbekommen haben, eine gewisse Angst da, dass eben all die Kultur, die Kultur des Dolmetschens, die Kultur der Gebärdensprache, dass all das gefährdet wird durch solche Technik? Also ist das so eine Angst, die vorherrscht?

"Gebärdensprache ist eine eigenständige Sprache"

Rathmann: Nein, nein, nein. Das ist keine Angst vor der Technik. Das ist eine Einstellungssache in der Gesellschaft. Wenn bestimmte HNO-Ärzte widersprüchlich zur UN-Konvention für Menschen mit Behinderung agieren. Wir haben da einen Artikel zwei, der klar die Nutzung von Gebärdensprache befürwortet.
Aber abgesehen davon, auch im deutschen Recht haben wir ein Recht zur Gebärdensprache. Auch wissenschaftlich ist anerkannt, dass die Gebärdensprache eine eigenständige Sprache ist. Und diese muss man respektieren. Und dadurch, dass der Respekt hier nicht vorhanden ist, bedeutet das im Endeffekt Diskriminierung durch die Mediziner, durch das Jugendamt, durch die Behörden. Und die große Angst besteht vor dieser Diskriminierung.
Dittmer: Wenn wir noch einmal auf die Technik zurückkommen. Was kann diese Technik schon – und wo stößt sie vielleicht auch an ihre Grenzen?
Rathmann: Gut, was die Technik kann – alles und nichts. Beide Perspektiven sind wichtig. Wir können nicht voraussehen, ob jetzt die Implantation bei diesem Kind vollständig erfolgreich ist oder eben überhaupt nicht.
Die medizinische Hochschule Hannover hat eine Stellungnahme abgegeben: Herr Professor Doktor Kral schreibt, dass 30 Prozent der implantierten Kinder, dass bei diesen Kindern der Spracherwerb eigentlich nicht funktioniert, obwohl sie implantiert sind.
Und bei den Zahlen, die uns vorliegen, können wir nicht sagen, das klappt, das ist gut, das müssen wir machen. Oder: Das ist nicht gut, das klappt nicht. Wir wissen es von vornherein nicht.
Stucke: Das heißt, wir stecken vielleicht viel Energie in die Untersuchung von etwas, anstatt die Zeit für andere Sachen zu sparen.
Rathmann: Das würde ich auch nicht sagen. Naja, wichtig ist, dass das Kind Liebe hat, soziale Beziehungen hat, die funktionieren, eine vollständige Kommunikationsbasis mit den Eltern hat. Das ist der Schlüssel für die persönliche Entwicklung, für Gesundheit, geistig und psychisch.
Das hängt nicht nur einzig und allein von der zur Verfügung stehenden Technik ab, sondern von der Kommunikation mit den Eltern innerhalb der Familie. Und die kann über ein Cochlea-Implantat und über Gebärdensprache oder beides gleichzeitig stattfinden. Da hat man viele Möglichkeiten.
Gebärdendolmetscherin: Oya Ataman
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema