Ekstatischer Verlierer

Rezensiert von Maike Albath · 31.03.2006
Das neue Werk des niederländischen Schriftstellers A.F.Th. van der Heijden "Engelsdreck" ist eine Mischung aus literarischem Journal, Tagebuch, Notizheft und Traumbuch, das unregelmäßig geführt wird und von den sechziger Jahren bis ins neue Jahrtausend reicht. Wie jedes Tagebuch ist "Engelsdreck" etwas für neugierige Leser, die an privaten Enthüllungen Geschmack finden und ein Faible für gelebte Zeitgeschichte haben.
Man kann A.F.Th. van der Heijden getrost einen Berserker der niederländischen Literatur nennen. Mit seinem Zyklus Die zahnlose Zeit hat er ein komplettes Universum geschaffen. Es handelt sich um eines der ehrgeizigsten Romanprojekte der neueren europäischen Literatur überhaupt, das in der deutschen Ausgabe 2003 mit dem siebten Band Unterm Pflaster der Sumpf endete und dreieinhalbtausend Seiten umfasst.

Wer sich auf die Lektüre einlässt, gerät in die Gesellschaft von Albert Egbert und seinen Generationsgenossen, erfährt von politischen und gesellschaftliche Verwerfungen der siebziger und achtziger Jahre, von Kämpfen um besetzte Häuser, harten Absackertouren, Drogensucht, Autoknacken, Prostitution und sexuellen Nöten. Unter dem Pflaster ist bei A.F.T.H., wie er sich in Holland inzwischen nennt, nicht der Strand, sondern etwas viel Klebrigeres.

Albert ist ein ekstatischer Verlierer, und er will "ein Leben nicht in die Länge, sondern in die Breite", wie er sein Bestreben beschreibt. In A.F.Th. van der Heijdens umfassenden Panoramen, die in ihrer Wucht an die Gemälde von Breughel erinnern, findet keine Abbildung von Wirklichkeit statt, sondern eine Übersteigerung, und damit ist es noch lange nicht vorbei.

"Kein Ende in Sicht" lautete der letzte Satz des letztes Bandes der Zahnlosen Zeit, und in der Tat tauchen wir jetzt in neue Sphären ein, nämlich in das, was den Humus von van der Heijdens großen Würfen ausmacht: wir lernen seinen Alltag kennen. Engelsdreck ist eine Mischung aus literarischem Journal, Tagebuch, Notizheft, Rechenschaftsbericht und Traumbuch, das unregelmäßig geführt wird und von den sechziger Jahren bis zum April 2003 reicht.

Stilistisch bewusst unprätentiös und formal roh wie ein unbehauener Stein breitet der Schriftsteller seine Freuden, Ängste und Sorgen aus, erzählt von großen Momenten wie dem Beginn einer neuen Liebe oder einem lang ersehnten Beischlaf, um gleich darauf auf banale Begebenheiten zu sprechen zu kommen, wie der Uhrzeit des Mittagsessens, dem Besuch seiner Eltern, dem Kauf einer Waschmaschine oder der Fülle der genossenen alkoholischen Getränke.

Die Euphorie nach der Geburt seines Sohnes Tonio kommt ebenso vor wie die Niederungen der Säuglingspflege und Streitereien mit seiner Frau, um dann Skizzen neuer Romanprojekte, berührende Porträts, Jugenderinnerungen, polemische Bemerkungen über Journalisten, Überlegungen zu ästhetischen Fragen einzufügen und die Präliminarien zu schildern, die der Niederschrift eines neuen Romans vorausgehen. Das Bestechende liegt in der Gegensätzlichkeit dieser Aufzeichnungen – man hat das Gefühl, gleichzeitig Besucher der Schreibwerkstatt und des Schlafzimmers zu sein und sowohl in die erotischen Phantasien des Autors einzutauchen als auch die praktischen Bedingungen seines Arbeitens kennen zu lernen.

So quält den Verfasser in seinen Jugendjahren noch die Frage, ob er überhaupt ein Schriftsteller ist, gleichzeitig serviert er uns eher klägliche Pubertätsgedichte – und im nächsten Moment werden wir Zeugen seiner ersten großen Erfolge und seines Schaffensrauschs, der ihn während eines Aufenthalts in Italien ergreift und der der Auftakt zur Zahnlosen Zeit sein sollte.

Van der Heijden ist durchaus schonungslos in seiner Darstellungsweise: Er weiß um seine übermäßige Empfindlichkeit und sein cholerisches Temperament, die die andere Seite seiner manischen Kreativität zu sein scheint. Immer ist er getrieben von Abgabeterminen und der Sorge, nicht genügend Raum für seine Arbeit zu finden oder Rücksicht nehmen zu müssen auf die Bedürfnisse seiner Frau oder seines Sohnes.

Die Figuren seiner Romane haben ihn öfter stärker im Griff als die Menschen des wirklichen Lebens. Auf den Beginn des dritten Bandes seines Zyklus’ bereitet er sich vor wie auf ein Kampfgefecht. Wie jedes Tagebuch ist Engelsdreck etwas für neugierige Leser, die an privaten Enthüllungen Geschmack finden und ein Faible für gelebte Zeitgeschichte haben. Und wer mit der Zahnlosen Zeit vertraut ist, stößt auf etliche Wirklichkeitspartikel, die in van der Heijdens Romanen fiktional verdichtet werden.

Die politischen Umstände der jeweiligen Schreibphasen fließen höchstens am Rande oder gar nicht in das Journal mit ein. Engelsdreck ist eher ein Buch für eingeschworene van-der-Heijden-Anhänger und Kenner seines Werks, aber es birgt einen unterhaltsamen Kern, der mit der Teilhabe an einer Wirklichkeit zusammenhängt, die wir als Zeitgenossen ebenso gut zu kennen meinen wie der Verfasser selbst. Man hat die Chance, die 70er oder 80er Jahre noch einmal an sich vorüber ziehen zu lassen und sie aus einer anderen Perspektive zu betrachten – gewissermaßen auf ihren Materialcharakter und ihre literarische Verwendbarkeit hin zu überprüfen.

Das Klima jener Jahre wird einem unmittelbar gegenwärtig. Äußerst spannend ist auch der Prozess der Auseinandersetzung mit der Gegenwart: wie stellt der Schriftsteller ein Spannungsverhältnis zu seiner Welt her, um darüber schreiben zu können? Tröstlich ist außerdem, dass sich auch ein Autor vom Range eines van der Heijden mit alltäglichen Ärgernissen wie unpünktlichen Handwerkern, kaputten Backöfen, seinen Neigungen zur Fettleibigkeit und gelegentlichen Alkoholexzessen herumschlagen muss. Wie kleine Edelsteine sind Bemerkungen über ästhetische Fragen in die Notizen eingefügt. Man lernt etwas über die Bedeutung eines ersten Satzes in einem Roman, über den Aufbau eines Handlungsgerüsts und über die Eigenarten erfundener Figuren, die plötzlich freier zu sein scheinen als ihr Erfinder.

A.F.Th. van der Heijden: Engelsdreck
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 553 Seiten