Eisschicht oder Einsicht

Ein Verlagsprogramm mit schreibenden Pfarrern macht befangen. Wenn man dann noch erfährt, dass ein evangelischer Dekan das Grußwort bei einer Autorenlesung spricht, meint man genau zu wissen, welche Art Lyrik sich hinter einem Titel wie "Strohhalm, Stützbalken" verbirgt. Aber: Selten so gern geirrt!
Autor Walle Sayer ist kein Trosttexter, kein Erbauungslyriker oder pantheistischer Panegyriker. Seine Gedichte schleichen sich auf leisen Titeln an: "Psalm", "Tagesanfangsverse", "Poesiealbumzeilen", das klingt so betulich-besinnlich und täuscht doch gewaltig. Dieser Dichter ist ganz im Hier und Jetzt, beim "Hörgerät", der "Bettpfanne", dem "Schafsmist", dem "Geldscheißer", und seine Assoziationsarrangements sind komplexer:

Kahle Astversalien
Am Fenster des Klassenzimmers.

Vor seiner Kurzsichtigkeit
erstreckt sich das Absehbare.

Durch solch ein Kassengestell gesehen,
sind die unerreichbaren Mädchen
noch unerreichbarer.

Ein angehender Jüngling
und die Tümpel seiner Augen.

Eisschicht oder Einsicht:
liest er von der Tafel ab.


"Brillenverordnung" heißt dieses Gedicht, das nur scheinbar harmlos vor sich hindöst. Spätestens beim zweiten Lesen erkennt man plötzlich die Tiefe der Komposition, diese Rösselsprünge im Wortfeld "Sehen", die Tragikomik einer entstellenden Sehhilfe, die in einen Verleser mündet, der nicht nur Freudianer anrühren dürfte.

Sayer kennt sie natürlich alle, die guten Zutaten fürs Gedicht, von A wie Assonanz bis Z wie Zeugma. Aber im Unterschied zu vielen anderen dosiert er sie richtig. Sie lösen sich, im besten Wortsinne, in Wohlgefallen auf.

Sayers Lyrik ist Stillleben mit Unterströmung, Vignette mit Kratzern, Idylle mit "Bärendreck", wie Lakritze in Sayers schwäbischer Heimat auch genannt wird.
In ihren stärksten Momenten fühlt man sich an die Klarheit eines William Carlos Williams erinnert. In den schwächeren, und die gibt es bei den insgesamt gut neunzig Gedichten des Bandes selbstverständlich auch, verkommen Sayers Lieblingsstilmittel, die etymologische Figur und die assoziative Reihung von Aussagesätzen, allerdings zur Masche. Das Poem kippt ins Kitschige und plötzlich dudelt im Hintergrund ein Eichendorff mit seinem "Schläft ein Lied in allen Dingen", wo man sich eine Seite zuvor noch vom Kontrast Stuhlgang im Pflegeheim und Erinnerung an einen Waldweg erschüttern ließ.

Trotzdem: "Strohhalm, Stützbalken" ist der sechste Gedichtband von Walle Sayer – und vielleicht der bislang beste. Seit dreißig Jahren veröffentlicht der gelernte Bankkaufmann nun schon Bücher. Ein paar Auszeichnungen hat er bekommen, vor allem in Baden-Württemberg. Deutschlandweit ist ihm die ganz große Anerkennung bislang versagt geblieben. Aber man kann ja auch mit Anfang fünfzig noch entdeckt werden.

Besprochen von André Hatting

Walle Sayer: Strohhalm, Stützbalken.
Klöpfer und Meyer, Tübingen 2013
120 Seiten, 16 Euro