Einzigartiger Humor, unverwechselbare Sprache

Moderation: Christine Watty · 31.07.2013
Mit "Rituale" und "Die folgende Geschichte" wurde Cees Nooteboom in Deutschland bekannt, heute feiert der niederländische Autor seinen 80. Geburtstag. Wir sprechen mit seiner Übersetzerin Helga van Beuningen über Nootebooms besondere Ironie - und eine intensive Arbeitsbeziehung.
Christine Watty: "Man müsste ein Gedicht von vier Zeilen schreiben und dafür ein Leben lang Zeit haben." Ein Zitat von Cees Nooteboom, und wenn man sich anlässlich seines heutigen 80. Geburtstages nochmals oder auch das erste Mal mit seinem Werk beschäftigt, wenn man querliest und herumblättert, erfreut man sich immer wieder an kleinen Sätzen wie diesem, an Nootebooms Sprache, dem leichten Witz, den denkwürdigen Beobachtungen, die einem immer die Augen für die Welt und dann oft auch noch das Herz für das ganze Leben öffnen, nicht zuletzt in seinen Reiseberichten.

"Rituale" und "Die folgende Geschichte" waren die Erfolgstitel, mit denen der gebürtige Niederländer schließlich auch sein deutsches Publikum erreichte, das war Anfang der 90er-Jahre. Seine ersten Bücher veröffentlichte er natürlich viel, viel früher in den 50ern. Zu uns aber gebracht beziehungsweise auch uns verständlich gemacht hat die Nooteboom’sche Sprache vor allem eine Person: seine langjährige Übersetzerin Helga van Beuningen. Mit ihr wollen wir gleich den 80. Geburtstag von Nooteboom begehen, zuvor aber hören wir ihn selbst mit einem Auszug aus seinem Roman "Allerseelen" aus dem Jahr 1998 .

Cees Nooteboom: Ein anderer Spaziergang, diesmal das Luftfahrtministerium. Göring mochte keine Lancaster. Victor hatte die Hand in ein Einschussloch gesteckt, ich lege meine Hand in seine Wunde, und gesagt: "Wenn man sich es recht überlegt, dann ist es das, was Städte ausmacht: Gebäude und Stimmen. Und verschwundene Gebäude und verschwundene Stimmen. Jede richtige Stadt ist eine gestimmte Stadt. So, das reicht." Doch Arthur hatte diesen Ausdruck nicht mehr vergessen, die gestimmte Stadt. Das galt natürlich für alle alten Städte, aber nicht in allen alten Städten waren solche Worte gesagt, geschrieben, gerufen, geschrien worden wie hier. Die Stadt als Ansammlung von Gebäuden, das war eine Sache, aber Stimmen, das war eine andere. Wie musste man sich diese Fülle vorstellen? Weg waren sie, die Worte, ihren Toten vorausgeeilt, und doch hatte man, gerade in Berlin, die Vorstellung, dass sie noch da waren, dass die Luft mit ihnen gesättigt war, dass man durch diese unsichtbaren, unhörbar gewordenen Worte watete, einfach, weil sie hier einmal ausgesprochen worden waren, das geflüsterte Gerücht, das Urteil, das Kommando, die letzten Worte, der Abschied, das Verhör, die Meldung vom Hauptquartier – und all die anderen anonymen Worte, die immer in Städten gesagt wurden. Milliarden Stunden würde es dauern, sie aneinander zu reihen, umkommen würde man in ihnen, ersticken, ertrinken. Sogar heute in diesem Eispalast umgaben sie einen, man konnte sie in der strahlenden Luft hören, flüsternd, murmelnd, zwischen den neu geprägten Worten der Passanten, ein Rauschen für die feinsten, empfindlichsten Ohren, solchen, wie sie ein Lebender nicht haben sollte, weil Städte so nicht zu ertragen waren – und diese Stadt schon gar nicht.

Watty: Der Schriftsteller Cees Nooteboom, der heute 80 Jahre alt wird, mit einem Auszug aus seinem Roman "Allerseelen". Übersetzt hat diesen Helga van Beuningen, die Nooteboom seit über zwei Jahrzehnten als Übersetzerin ins Deutsche begleitet. Vor der Sendung habe ich sie gefragt, was denn ihrer Meinung nach die Sprache von Cees Nooteboom so besonders macht.

Helga van Beuningen: Das sind wahrscheinlich an erster Stelle die sehr, sehr langen, schwebenden Sätze, die sich praktisch aus sich selbst heraus zu entwickeln scheinen. Der Ausgangspunkt für ihn scheint ein Wort, ein Bild, ein Gedanke zu sein, und dann entfaltet sich assoziativ in einer wunderschönen Sprache dieses Bild oder dieser Gedanke immer weiter, und Nebensatz wird an Nebensatz gehängt, meistens keine unterordnenden Sätze, sondern nebengeordnete Sätze, es hat alles so seine gleiche Wertigkeit, und das fließt dann oft zum Schluss wie ein breiter Strom dahin. Das finde ich das ganz Unverwechselbare an seiner Sprache.

Watty: Die Erstübersetzung von Ihnen für Cees Nooteboom war 1989, "Ein Lied von Schein und Sein". Wie haben Sie sich damals eigentlich kennengelernt?

van Beuningen: Da haben wir uns noch gar nicht kennengelernt. Ich bekam einfach die Anfrage vom Suhrkamp Verlag, und ich habe es gelesen und war natürlich total begeistert, es war aber zu der Zeit, muss ich sagen, ungeheuer schwer für mich. Also ich habe mich auch sehr langsam in diese Höhen hinaufgearbeitet, und ich erinnere mich, dass ich mit diesem Buch doch enorme Schwierigkeiten hatte.

Watty: Können Sie sich noch erinnern beziehungsweise beschreiben, was das Schwierige für Sie war damals?

van Beuningen: Ja, das war der hohe Abstraktionsgrad, den ich so von anderen Autoren damals nicht unbedingt gewöhnt war, und dann, dass Nooteboom da ja auch eine ungeheure Sprachfülle entfaltet. Und bis man das dann in der Zielsprache genau so schön, stimmig, zueinander passend hingekriegt hat, das war schon ein harter Brocken für mich damals.

Watty: Für diesen ersten Übersetzungsauftrag gab es also schlicht die Anfrage des Verlages. Wann sind Sie sich persönlich begegnet?

van Beuningen: Das muss kurz danach gewesen sein, und zwar in Kiel, wo er zu einer Lesung hingekommen war.

Watty: Und, haben Sie sich gleich gut miteinander verstanden?

van Beuningen: Wir haben uns gut miteinander verstanden. Er guckte ein bisschen zu mir auf, weil ich ihn fast um einen Kopf überrage, und ich guckte ein bisschen auf ihn hinunter – natürlich nur physisch, nicht geistig, absolut nicht –, aber wir haben uns ein bisschen unterhalten, und nach der Lesung sind wir mit einigen Leuten noch essen gegangen, und da haben wir uns noch mehr unterhalten, er bot mir dann auch sofort das Du an, und eigentlich haben wir uns seit dieser Zeit dann immer besser kennengelernt.

Watty: Und daraus ist ja dann eine sehr intensive Beziehung erwachsen. Sie sind seine erste Leserin von da an gewesen, und damit auch die Erste, die eine Meinung zu einem neuen Werk haben konnte, und zum Beispiel in dem eben gehörten Ausschnitt aus "Allerseelen" hat er auf Ihren Rat hin sogar noch etwas geändert – also nicht in diesem Ausschnitt, sondern in dem Roman "Allerseelen". Wie war das damals?

van Beuningen: Ich habe dieses Buch schon auf seine Bitte hin angefangen zu übersetzen, als er noch das Ende gar nicht fertig geschrieben hatte. Das machen wir oft so inzwischen. Und er will dann auch immer meine Meinung hören, weil ich wie gesagt seine erste Leserin bin, und ich verstand an einer bestimmten Stelle am Ende nicht ganz, wohin nun das Schicksal die Hauptfigur getrieben hat. Zurück nach Hause, resigniert, weil aus der Liebe nichts geworden ist, oder doch wieder zurück zu der Liebe in einem neuen Versuch, dass das klappt. Und das sagte ich ihm, und er meinte nur: Na ja, dann kennst du dich aber in Geografie nicht besonders gut aus, das steht doch da eigentlich ganz deutlich, die und die Stadt. Und dann sagte ich: Ja, gut, ich habe es jetzt nicht richtig verstanden, vielleicht gibt es auch noch den einen oder anderen Leser, der das nicht zweifelsfrei versteht. Und das hat er dann ein ganz klein bisschen deutlicher gemacht.

Watty: Das hört sich aber nach einer sehr friedlichen Unterhaltung über ein inhaltliches Problem an. Gab es denn auch mal Streit zwischen Ihnen beiden oder größere Auseinandersetzungen, Diskussionen über zum Beispiel einzelne Worte, wie die zu übersetzen seien, und dass sie auch den richtigen Ton treffen?

van Beuningen: Ja, die gab es in den ersten Jahren durchaus. Nooteboom spricht ja und versteht ja sehr gut Deutsch, das hört man bei all seinen Lesungen, bei all seinen Fernsehauftritten, Radioauftritten, und er hat auch in den ersten Jahren, was ich sehr gut nachvollziehen kann, die Übersetzung immer sehr genau unter die Lupe genommen. Ich weiß nicht, ob er das wirklich Satz für Satz getan hat oder eher stichprobenartig. Jedenfalls kamen in den ersten Jahren doch schon öfter mal so Bemerkungen, also das hier finde ich nicht so gut getroffen, und das kann es eigentlich nicht sein, und, na ja, ich will jetzt nicht verallgemeinern, dass man, der Übersetzer an sich, das tut.

Ich persönlich reagiere dann manchmal ein bisschen empfindlich, muss ich zugeben. Und dann haben wir diskutiert, dann haben wir das auch sehr schnell meistens auf eine dritte Ebene, nämlich die Ebene des Lektors oder der Lektorin, verlagert, und die so praktisch entscheiden lassen, und inzwischen hat aber Cees Nooteboom gemerkt, dass ich ein wahnsinnig genauer, präziser, pingeliger Übersetzer bin. Und er sagt seit vielen Jahren in vielen Interviews, dass er mir blind vertraut und eigentlich kaum noch reinguckt.

Watty: ... sagt Helga van Beuningen, die langjährige Übersetzerin von Cees Nooteboom, im Deutschlandradio Kultur. In Deutschland ist Cees Nooteboom viel populärer als in seiner Heimat, in den Niederlanden. Die Frage, die man oft an dieser Stelle stellt, auch zu seinem 80. Geburtstag noch mal: Wissen Sie, warum das so ist, oder können Sie sich das erklären?

van Beuningen: Ja, da gibt es schon ein paar Erklärungsversuche zumindest. Es gibt viele Niederländer, die finden, dass er zu hochgestochen schreibt, zu philosophisch, zu abstrakt, dass das selten in den Niederlanden spielt, sondern immer irgendwo, und man nimmt ihm, glaube ich, auch einfach persönlich so ein bisschen übel, dass er sich dem niederländischen Literaturbetrieb weitgehend entzieht durch seine häufigen Abwesenheiten. Das sind alles so Faktoren, die da mitspielen. Ich erinnere mich auch, einmal bin ich von einer niederländischen Redakteurin interviewt worden zu unserer Zusammenarbeit, und ich sagte, was ich so wunderbar nach wie vor an Cees Nooteboom finde, das ist sein Humor, seine unverwechselbare, unnachahmliche Ironie. Sie guckte mich an mit Augen wie Teetassen und sagte: Humor? Ironie? Nooteboom? So hatte sie ihn noch nie gesehen und noch nie gelesen.

Watty: Haben Sie eigentlich ein Lieblingsbuch, das Sie auch zum runden Geburtstag noch mal empfehlen würden von Cees Nooteboom?

van Beuningen: Ich habe mindestens sechs Lieblingsbücher. Soll ich sie mal schnell aufzählen?

Watty: Ja, klar, gerne!

van Beuningen: "Die folgende Geschichte", "Mokusei", "Der Umweg nach Santiago", "Allerseelen", "Das Rätsel des Lichts". Ich könnte noch ganz lange weitermachen, aber ich höre jetzt auf.

Watty: Danke an Helga van Beuningen, Übersetzerin von Cees Nooteboom, der heute 80 Jahre alt wird. Seinen Geburtstag, so hörte man, verbringt er auf Menorca, wir holen ihn aber noch ein zweites Mal in diese Sendung, und zwar mit seinem Gedichtband "Licht überall", den uns um kurz nach halb zwölf unsere Kritikerin Carola Wiemers vorstellen wird.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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