Traumziel mit Hindernissen
Weiß, katholisch, rein polnisch: Polen gehörte seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu den homogensten Gesellschaften Europas. Im letzten Jahr ist die Zuwanderung aber um 100 Prozent angestiegen - für Polen eine unbekannte Herausforderung.
Die Warschauer Ausländerbehörde ist nur einige Schritte von der Altstadt entfernt. Hinter der Tür des zweistöckigen klassizistischen Gebäudes ist es rappelvoll. Vor dem Touchscreen für Wartemarken hat sich eine Schlange gebildet. Ein junger Ukrainer mit schwarzer Aktentasche steht ratlos vor dem Bildschirm. Der enge Eingangs-bereich, die zierliche Wendeltreppe, der kleine Tisch - alles scheint für Einzelfälle ausgelegt, nicht für einen Ansturm von Menschen. 2014 ist die Zahl der Einwanderer auf eine neue Rekordhöhe geklettert: Fast 9000 Menschen haben eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung beantragt – ein 100-prozentiger Anstieg im Vergleich zu 2013. Und 54.000 Menschen wollten zumindest befristet in Polen bleiben – ein An-stieg um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Für das Land, das seit über zehn Jahren Mitglied der Europäischen Union ist, bedeutet dies einen enormen Wandel, jahr-zehntelang war es ethnisch sehr homogen. Der ukrainische Student für Robotik tippt unsicher auf die Taste Russisch – neben den Sprachen Polnisch, Englisch und Vietnamesisch.
"Warum ich hergekommen bin? An der Universität ist das Niveau höher, die Dozenten verhalten sich anders gegenüber den Studenten und ein Studium in Polen gibt einem mehr Perspektiven: Nach dem Studium bekommt man hier eine Arbeit. In der Ukraine ist es schwierig nach dem Studium in seinem Beruf zu arbeiten."
Jetzt, nachdem er die Wartemarke gezogen hat, heißt es erstmal Geduld haben – manchmal bis zu zwei Tage lang. Die Menschen im ersten Stock, dort, wo es um befristete Aufenthaltsgenehmigungen geht, sind ihrem Ziel schon ein wenig näher. Zwei schick gekleidete Frauen Anfang 30 schieben sich durch das Gedränge, es ist die Leiterin der Ausländerbehörde und ihre Sprecherin. Seit einem halben Jahr hat sich die Zahl der Antragsteller drastisch erhöht, erklärt Direktorin Izabela Szewczyk, als sie in ihrem Büro angekommen ist:
"Für diesen starken Anstieg sehen wir zwei Gründe: Erstens gilt seit Mai 2014 ein völlig neues Ausländergesetz. Es vereinfacht die Einwanderung und davon profitie-ren jetzt viele. Bisher wurde das Gesetz von 2003 immer nur ergänzt. Und der zweite Grund ist die Situation in der Ukraine."
In Polen geborene Kinder dürfen automatisch bleiben
Ausländer können jetzt eine Aufenthaltsgenehmigung für drei statt wie bisher maximal zwei Jahre beantragen. In Polen geborene Kinder erhalten automatisch eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, wenn mindestens ein Elternteil sich legal im Land aufhält. Außerdem gibt es seit kurzem in der Warschauer Behörde ein besseres Informationssystem für Einwanderer. Leiterin Izabela Szewczyk hat sich persönlich dafür eingesetzt. Doch auf Landesebene fehle das noch, kritisiert sie. Welche Rechte hat ein Einwanderer, wo muss er sich anmelden, bis wann braucht er eine Steuer-nummer und so weiter. Die Einwanderer werden so unabhängiger von Anwaltskanzleien und privaten Agenturen, die viel Geld für das Beschaffen von Aufenthaltsgenehmigungen kassieren. Außerdem setzt sich immer mehr die Überzeugung durch, dass Polen Einwanderer braucht. Eine niedrige Geburtenrate und eine immer noch hohe Auswanderung bewirken, dass die Bevölkerung unter dem Strich abnimmt – trotz der Einwanderer. Auch in Polen müssen Schulen schließen, die Schülerzahl sinkt landesweit.
Dieses Problem hat Anna Bobynko nicht: Sie ist Direktorin der Grundschule von Raszyn, eines 7000-Einwohner-Ortes zehn Kilometer vor Warschau. Hier lernen fast 1000 Schüler. Und Jahr für Jahr werden es mehr – auch dank der Zuwanderer. Anna Bobynko ist eine große, energische Frau, aber trotz des Kostüms und der Absatzschuhe hat sie etwas Mütterliches. In Raszyn stammen besonders viele Kinder aus Vietnam, denn im Nachbarort, in Wolka Kosowska, ist das größte vietnamesisch-chinesische Handelszentrum des Landes entstanden. Bobynko geht mit schnellen Schritten auf ihr Büro zu, lächelt flüchtig die Entgegenkommenden an.
"Es gibt Kinder, die landen in Polen und können kein Wort Polnisch. Am nächsten Tag sitzen sie bei uns in der Schule."
Einige Vietnamesen kommen auch über die grüne Grenze nach Warschau, wandern durch Russland und die Ukraine nach Polen ein, in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Um diese Kinder besser integrieren zu können, hat die Schule in Raszyn Kulturassistentinnen eingestellt. Sie sind zweisprachig und sollen als Brücke zwischen vietnamesischen Kindern und Eltern einerseits und Lehrern andererseits fungieren. Eine tolle Sache, findet Anna Bobynko und lächelt wieder. Die Kulturassistenten konnten zum Beispiel einem depressiven Siebenjährigen helfen.
"Der Junge wollte nichts lernen, sich nicht anstrengen, hatte Konflikte mit Gleichaltrigen. Über einen Dolmetscher erfuhr der Lehrer, dass der Junge sich sehr nach seinen Großeltern, bei denen er aufgewachsen ist und nach Vietnam sehnte, dass er gar nicht nach Polen kommen wollte. Bitte stellen Sie sich vor: Ein kleines Kind, das niemanden kennt, noch nicht einmal richtig seine Eltern, dem Sprache und Kultur hier fremd sind. Aber jetzt hat er sich mit der Situation abgefunden, seine Eltern versteh-en ihn besser und unterstützen ihn."
Vietnamesische Eltern sind meist sehr ehrgeizig, sie erwarten allerbeste Noten im Gegenzug dafür, dass sie ihr gesamtes Geld in die Bildung des Kindes stecken.
Unterstützung für vietnamesische Schüler
Mathematiktest. Während die Sechstklässler sich still über ihre Blätter beugen, ist leises Flüstern von einer der hinteren Bänke zu hören. Kulturassistentin Hania, Anfang 20, steht zwischen zwei vietnamesischen Schülern und übersetzt ihnen leise die Mathematikaufgaben vom Polnischen ins Vietnamesische.
Die beiden Schüler sind erst im Herbst nach Polen gekommen. Gestern hat einer von ihnen schon am Schulwettbewerb teilgenommen. Manche Kinder werden sogar in kurzer Zeit Klassenbeste. Ihr Wille, sich so schnell wie möglich anzupassen, ist auch im Schulhort zu spüren. Das ist die nächste Station von Kulturassistentin Hania. Heute übt sie mit den Kindern die schwierigen Buchstaben r und l:
"Koraly, Kolorowy … Kinder üben."
Die sechsjährige Diana wiederholt beharrlich das Wort "kolorowy" – zu Deutsch "bunt", bis sie es richtig ausspricht. Ihr langes dunkles Haar fällt auf den Tisch, als sie beim Üben ihre Ellenbogen aufstützt. Sie wirkt ernsthaft und traut sich, im Gegensatz zu den anderen Kindern aus Vietnam, etwas zu sagen. Sie hat, wie alle anderen vietnamesischen Kinder, einen polnischen Zweitnamen bekommen.
In die Schule und die Lehrer haben die Einwanderer-Familien großes Vertrauen. Hier werde in die Zukunft aller investiert, sagt Ton Van Ahn, vietnamesische Aktivistin aus Warschau, zierlich wie ein Kind gebaut. Die 35-Jährige sitzt bequem auf ihrem Stuhl, die in eine Decke gehüllten Beine auf den Schreibtischstuhl gegenüber ausgestreckt. Ein kleiner Hund liegt zu ihren Füßen. Kurze Pause vor der nächsten Aktion, denn Ton Van Ahn ist eine vielgefragte Person und rund um die Uhr erreichbar.
Sie setzt sich zusammen mit alten Solidarnosc-Kämpfern für die Rechte von Ein-wanderern ein. Im vergangenen Jahr ist sie sogar bei den Kommunalwahlen an-getreten. Ton Van Ahn beklagt verschiedene Formen von Diskriminierung im Alltag. So wurde jüngst ein vietnamesisches Geschäft verdächtigt, Hundefleisch an seine Kunden zu verkaufen, erzählt sie.
"Als sich herausgestellt hatte, dass das eine falsche Information war bzw. dass sie bewusst in Umlauf gebracht worden war, hat die Grenzpolizei die Nachricht nicht richtig gestellt oder sich entschuldigt. Bei polnischen Geschäften hätten sie den vermeintlich suspekten Fund gar nicht gemeldet."
Die größte polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza berichtete im September 2014 über den Fall von zwei polnischen Polizisten, die Bestechungsgelder von Vietnamesen erpressen wollten. Die Männer waren in einem Auto angehalten worden, weil sie versäumt hatten, sich anzuschnallen. Als die Vietnamesen das zu hoch berechnete Bußgeld nicht bar auf die Hand, sondern nur auf der Wache zahlen wollten, ließen die Polizisten sie in ein Waldstück fahren und drohten ihnen mit Abschiebung. Später hielten sie die vietnamesischen Händler widerrechtlich in einer Zelle fest und nahmen deren Geld an sich. Aktivistin Ton Van Ahn, deren Nummer unter den vietnamesischen Einwanderern kursiert, wurde zu Hilfe gerufen. Nach einem langwierigen Prozess wurden die beiden Polizisten im vergangenen Jahr verurteilt. Für Ton Van Ahn ist das mehr als nur ein Erfolg im Kampf gegen die Korruption:
"Für mich zeigt das auch, dass man nicht nur der Fremde in diesem Land bleiben darf, sondern mit der Gesellschaft zusammenarbeiten muss – auf der Basis der herrschenden Normen und Gesetze."
Regierungspolitik sei nicht auf die neuen Einwanderer ausgelegt
Ton Van Ahn hat nur gute Erfahrungen bei ihrem Wahlkampf gemacht. Noch heute wird sie von Menschen im Bus wiedererkannt und ermutigt. Dagegen sei die offizielle Regierungspolitik nicht auf die neuen Einwanderer eingestellt. Für diese gebe es praktisch keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sagt sie.
Um zu überleben entwickeln die Vietnamesen daher Fantasie, indem sie kleine Bars und Geschäfte eröffnen. Oder indem sie ein riesiges Handelszentrum auf der grünen Wiese aufbauen und konkurrenzlos günstige Ware aus Fernost anbieten. Wolka Kosowska war bis vor zehn Jahren noch eine verschlafene kleine Vorstadt mit etlichen Bauernhöfen. Heute stehen hier drei riesige Warenhallen – eine türkische, eine vietnamesische und eine chinesische. In jeder Halle gibt es etwa 150 Geschäfte mit 80 Beschäftigten. Überall ist das sirrende oder klappernde Geräusch von Tret-rollern zu hören.
Vor ihre Füße haben die Fahrer ein Holzbrett quer über den Roller gelegt, darauf wird die Ware gestapelt – manchmal bis über die Höhe des Lenkers hinaus. Es sind Kuriere oder Essensverkäufer. Sie flitzen über die gekachelten Gänge des Handelszentrums, über Parkplätze und Zufahrtsstraßen, die die Hallen miteinander verbinden. An den grauen Außenfassaden flattert eine bunte Reihe von Fahnen im Wind, Lkw dröhnen vorbei. In den Hallen riecht es nach neuer Ware und nach Plastikverpackungen. In diesem asiatischen Mikrokosmos zehn Kilometer südlich von War-schau arbeiten auch Polen wie Wojtek - faltenzerfurchtes Gesicht, etwa Mitte 40. Seit zwanzig Jahren ist der Familienvater als Tagelöhner bei Vietnamesen beschäftigt – und ist zufrieden, obwohl seine Arbeitsbedingungen westliche Gewerkschaften auf die Barrikaden treiben würden.
"Ich arbeite von 16 Uhr bis 7 Uhr morgens. Das sind 15 Stunden, aber danach habe ich anderthalb Tage frei. Ich habe also über 30 Stunden frei."
In seiner freien Zeit übernimmt Wojtek zusätzlich kleine Hilfsdienste oder Dolmetscherleistungen. Er hat Vietnamesisch gelernt, das können nur Wenige hier. Das Vertrauen, das er sich in seinem Umfeld erworben hat, ist wie eine Arbeitslosenversicherung. Denn niemand in Wolka Kosowska hat einen festen Vertrag:
"Jeder hilft hier jedem, sucht für den anderen eine Arbeit. Selbst der Arbeitgeber sucht mit, wenn er seinem Mitarbeiter kündigen muss."
Wojtek ist gelernter Schuhmacher, in seinem Beruf arbeitet er aber schon lange nicht mehr. Seine Zunft ist der politischen Wende und den fliegenden Händlern aus Fernost zum Opfer gefallen. Polen hat in den vergangenen 25 Jahren eine rasante Entwicklung vollzogen: Vom sozialistischen Grau in den schrill bunten Wildwest-Kapitalismus – der jedoch seit einigen Jahren wieder vorsichtig eingehegt wird, auch durch die Mitgliedschaft in der EU. Für Migranten außerhalb der EU wird Polen immer attraktiver: Die Innenstädte sind saniert, die Autobahnen neu, die Hochschulen bieten eine solide Ausbildung. Doch auch in Polen gibt es immer mehr Vorfälle mit aus-länderfeindlichem oder rassistischem Hintergrund. Das hat der Verein „Nigdy Wiecej“ – zu Deutsch "Nie Wieder" in seinem "Braunbuch" dokumentiert. Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen oder Überfälle auf Studenten aus Kamerun etwa.
Bürgerin zweiter Klasse?
Die Ukrainerin Natalia Panchenko sitzt in ihrem Büro und bespricht mit ihrem Kollegen die nächste Aktion. Eine Arbeitnehmerin wie aus einer Hochglanzbroschüre: junge Akademikerin, lässig gekleidet, effizienzorientiert. Sie arbeitet in einer internationalen Organisation, trotzdem fühlt sie sich manchmal wie eine Bürgerin zweiter Klasse.
"Wenn wir in der Tram fahren und auf Ukrainisch sprechen, gucken die Leute mich schief an oder sprechen mich sogar an."
Die 24-Jährige kritisiert, dass viele Polen sich Ukrainer nur als potentielle Putzfrauen, Kindermädchen oder Bauarbeiter vorstellen können, nicht als hochqualifizierte Arbeitskräfte. Im Internet, wo sie ebenfalls für ihren Verein tätig ist, wird Natalia zuweilen angegriffen.
"Wenn sie drohen, dass sie mich töten werden, oder schreiben, dass ich zurück in die Ukraine gehen soll oder den Polen auf der Tasche liege - solche Sachen nehme ich mir zu Herzen: Ich arbeite hier legal und zahle seit dem ersten Tag Steuern."
Ihr Fazit: Polens Weg zu einer richtigen Einwanderungsgesellschaft - ein langer Weg mit vielen Hindernissen.
"Wir Ukrainer sind genauso wie die Polen Slawen, wir unterscheiden uns äußerlich kaum, unsere Sprachen sind sehr ähnlich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich andere Leute hier in Polen fühlen, für die Polnisch eine sehr schwierige Sprache ist."
Zum Beispiel für John Godson - er ist der erste afrikanischstämmige Abgeordnete im polnischen Sejm. Der 45-Jährige ist ein Musterbeispiel für Integration: verheiratet mit einer Polin, vier Kinder, polnische Staatsbürgerschaft, Mit-Gründer einer Partei, Träger verschiedener Auszeichnungen.
Wenn er durch das Regierungsgebäude geht, wird er mit Respekt gegrüßt. Er trägt Anzug und Aktentasche und wirkt trotzdem leger. In der Migrationspolitik nimmt Godson durchaus kontroverse Positionen ein. Einerseits müssen die Ursachen der globalen Migration bekämpft werden, fordert er: Durch faire Fischerei und ein Ende der Agrarsubventionen in Europa. Andererseits wünscht er sich eine Einwanderungskommission in Polen. Sie soll Kriterien erarbeiten, wie der gewünschte Migrant aussieht – so wie in den USA. Godson kritisiert auch die Anspruchs- und Opferhaltung vieler Einwanderer und Asylbewerber.
"Es ist wirkungslos die einheimische Bevölkerung von sich zu überzeugen, indem man bei ihnen ein Gefühl der Schuld erzeugt. Eine Person, die in die Rolle des Opfers geht, wird immer Hilfe brauchen. Ich will keine Hilfe, ich will anderen helfen."
John Godson ist in den 90er Jahren mit 100 Dollar in der Tasche nach Polen gekommen. Im ex-kommunistischen Polen wollte er das Wort Gottes verbreiten. Er wirbt mit ungewöhnlichen Aktionen für sich – so putzte er während des Wahlkampfes 2010 Passanten die Schuhe. John Godson ist fest überzeugt, dass Polen Einwanderer braucht:
"Wir können viel voneinander lernen: Optimismus zum Beispiel. Leute aus dem Süden Afrikas sind sehr ausgeglichen, glücklich, egal wie wenig sie haben. Und hier in Polen sind wir unzufrieden, egal wieviel wir haben."