Einwanderer in den USA

Ein Zufluchtsort für deutsche Sozialisten

Ein Holzstich von 1897 zeigt neu angekommene Einwanderer im Registrierungssaal auf Ellis Island.
Hier in Ellis Island dürften auch viele der deutschen Sozialisten angekommen sein, die im 19. Jahrhundert in die USA einwanderten. (Holzstich von 1897) © imago / imagebroker
Von Arndt Peltner · 14.11.2018
Im 19. Jahrhundert zog es viele sozialistische und kommunistische Arbeiter aus Deutschland in die USA. Vor allem in San Francisco prägten sie den Aufbau der Gewerkschaften. Dort gründeten sie auch einen Arbeiterbildungsverein, der über 1000 Mitglieder hatte.
Während in Deutschland die Märzrevolution von 1848 tobte, verbreitete sich die Nachricht vom "Gold Rush" nördlich von San Francisco in aller Welt. Viele der in Deutschland Verfolgten hörten den Ruf vom "Golden Gate" und machten sich auf die lange Reise. Im Gepäck: ihre Ideale und ihre politische Überzeugung.
Die deutschen Revolutionäre, die vor der Repression in der alten Heimat geflohen waren, sahen die neue Heimat in Übersee als eine Möglichkeit, weiter für ihre politischen Ziele zu kämpfen. Professor William Issel von der San Francisco State University hat über den Einfluss der Immigranten in San Francisco geforscht:
"Es gab Sozialisten, es gab Kommunisten, San Francisco war mit etlichen Deutschen an der ersten kommunistischen Internationale vertreten. Und auch bei den verschiedenen utopischen Plänen, die sich zwischen den 1860ern mit der Internationale und der zweiten und dritten entwickelten. Heute kann man zum Beispiel in einen Nationalpark in Zentralkalifornien fahren, um den 'Karl Marx-Baum' zu sehen, der von Burnette Haskell und seiner sozialistischen Kommune benannt wurde. Der heißt heute 'General Grant Tree', das ist ein Beispiel."
Die Kaweah-Kolonie war eine utopisch-sozialistische Kommune in den Foothills der Sierra Nevada, die von 1886 bis 1892 existierte und mit der Ernennung des Yosemite Nationalparks aufgelöst wurde. Unter den Mitgliedern waren auch zahlreiche deutsche Immigranten. Der 1879 entdeckte größte Baum der Welt mit einem Alter von geschätzten 1.900 bis 2.500 Jahren wurde von der Kaweah Kolonie von General Sherman Tree in Karl-Marx-Tree umbenannt. Nachdem Yosemite zum Nationalpark erklärt wurde, bekam der Baum wieder seinen alten Namen zurück.
"Auf alle Fälle waren die Deutschen bei allen Gewerkschaften in San Francisco mit beteiligt. Von der Vereinigung der Küchenarbeiter bis hin zu den verschiedenen Gewerkschaften im Bauwesen. Aber es muss betont werden, dass sie ihre Union-Tätigkeit nicht als überzeugte, stolze Deutsche machten, sondern sie waren Amerikaner. Viele von ihnen allerdings waren von den deutschen Sozialistentheorien beeinflusst, wie auch die Iren."

Ein Arbeiterbildungsverein nach deutschem Vorbild

1911 – Dienstag der 14. November: "Genosse Schlender lud zu einer Gründungsveranstaltung des "Allgemeinen Arbeiterbildungsvereins" in die Tiv-Halle ein."
Das ist der erste Eintrag in die Protokollbücher des Arbeiterbildungsvereins San Francisco, dem einzigen überhaupt in den Vereinigten Staaten. Gegründet wurde er von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern, die Deutschland aus politischen Gründen verlassen, doch ihre politische Überzeugung nicht vergessen hatten. An der amerikanischen Westküste wollte man sich mit diesem Verein gegenseitig unterstützen, einen Raum für fachliche und politische Fort- und Weiterbildung schaffen, aber auch durch kulturelle Veranstaltungen den Kontakt zur "Alten Heimat" nicht verlieren. Man orientierte sich an den Arbeiterbildungsvereinen, die bereits seit den 1830er-Jahren im Deutschen Reich entstanden waren.
Ende des 19. Jahrhunderts folgte eine neue Fluchtwelle, als Sozialdemokraten und Gewerkschafter im kaiserlichen Deutschland durch Bismarcks Sozialistengesetze bedroht wurden. Viele landeten in San Francisco, einer boomenden Stadt mit Arbeitsmöglichkeiten in der produzierenden Industrie. Hinzu kamen das angenehme Klima und eine große deutsche Gemeinde mit vielfältigen kulturellen und sportlichen Angeboten, Gesangsvereinen und Hilfsorganisationen.

Neue Heimat für in Deutschland verfolgte Sozialisten

Karl Hartmann kam später, 1953, nach San Francisco. Als Sozialdemokrat trat er umgehend in den Arbeiterbildungsverein ein. Lange Jahre war er Präsident der Vereinigung:
"1911 wurde der Arbeiterbildungsverein von deutschen Immigranten gegründet. Und zwar waren das mehr oder weniger Leute, die politisch verfolgt waren in Deutschland nach der missglückten 1848er- Revolution. Dann, weil sie ja Sozialisten waren und Gewerkschaftler, die wurden ja mehr oder weniger verhaftet, dann haben sie sich umgetauft in Arbeiterbildungsvereine, was spätere Vorläufer der SPD in Deutschland waren. Und dann wurde das denen aber auch zu heiß, dann sind sie hierher gekommen. Um aber den Kontakt nicht zu verlieren miteinander, haben sie sich hier zusammen gefunden, dieselben Interessen, dieselben Gedanken und haben den Arbeiterbildungsverein gegründet, 1911."
Die Sozialdemokraten fanden auch hier am Pazifik schnell aufgrund ihrer "roten Wurzeln" zusammen, sprachen sich mit "Genosse" an, was auch in den Protokollbüchern des frisch gegründeten Arbeiterbildungsvereins übernommen wurde. Die Mischung aus Kultur und Politik bescherte dem Verein viele Mitglieder. Eine 10.000 Bücher umfassende Bibliothek half der Weiterbildung, eine eigene Theatergruppe führte deutsche Schauspiele auf, der eigene Chor hatte rund 200 Mitglieder. Daneben wurden politische Schulungen und Sprachkurse angeboten.
"Die Alten haben mir gesagt - das war interessant, als ich Präsident war - stand einer der Alten mal auf und sagte: Haut doch bloß nicht so auf die Pauke. Wisst ihr, was wir waren, als wir hierher gekommen sind. Wir waren Deserteure, die beim Kaiser kein Soldat werden wollten. Wir waren verfolgte Sozialisten, die eingesperrt worden wären. Und da haben wir uns hier zusammengeschlossen. Und zu Anfang, sagt er, haben wir uns immer noch angeredet mit Genosse oder Genossin. Aber im ersten Gründungsverein waren das ausgesprochene Sozialisten und viele unserer alten Mitglieder waren auch die Bahnbrecher für die Union hier in San Francisco, für die Gewerkschaften."

Ein Lenin-Porträt in der Halle

In den 1920er-Jahren erreichte der Arbeiterbildungsverein San Francisco mit über tausend Mitgliedern seinen Höhepunkt. Unzählige Ladeninhaber waren als arme Immigranten an die amerikanische Westküste gekommen und arbeiteten sich mit der Unterstützung des Arbeiterbildungsvereins nach oben. Und man vergaß nie die eigene Herkunft. Spendensammlungen wurden organisiert, auch für streikende Arbeiter in der alten Heimat und für "die kommunistischen Kinder in Deutschland und Österreich".
Aus Deutschland reisten sogar Reichstagsabgeordnete an, um in der vereinseigenen Tiv-Halle vor vollem Haus Reden über die sozialistische und sozialdemokratische Bewegung in Deutschland zu halten. Politisch war der Arbeiterbildungsverein offen für Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. Als 1924 Lenin verstarb, wurde im Protokollbuch festgehalten, dass es eine Abstimmung darüber gab, ob man in der Tiv-Halle ein Porträt des sowjetischen Führers aufhängen sollte. Der Antrag wurde angenommen.
Verwurzelt in der proletarischen Tradition und mit einer starken Mitgliederzahl im Rücken war der Arbeiterbildungsverein San Francisco auch tatkräftig am Aufbau der Gewerkschaftsbewegung vor Ort beteiligt. Man organisierte die Arbeiter in den zahlreichen Fabriken, den Produktionsstätten und im Hafenbereich.
Der langjährige Präsident des Vereins, Karl Hartmann, erinnert sich an Erzählungen aus diesen Jahren:
"Wenn ich die so manchmal gehört habe, die schlimmsten Jahre waren die Jahre in der Depression. Da waren sie glücklich, dass sie ihre Halle hatten, da hatten sie eine wunderbare Küche da. Welche die nicht arbeiteten, dann haben sie sich gegenseitig unterstützt. Oben waren ungefähr 16 Zimmer, wo sie zur Not auch schlafen konnten, für ein ganz kleines Geld. Vorne, zur Valencia-Straße raus, da waren vier Geschäfte, die mussten Miete bezahlen. Und dann gab es jeden Tag ein warmes Essen, Geselligkeit, in der Bücherei konnten sie lesen oder Karten miteinander spielen. Und auf diese Weise sind die über die Jahre hinweggekommen. Das hat die unheimlich zusammen gebracht. Dass die zusammengehalten haben."

Eine Minderheit applaudierte Hitler

Die Wende für den Arbeiterbildungsverein San Francisco kam mit der Machtübernahme Hitlers 1933. In der eigenen Tiv-Halle kam es immer wieder zu heftigen Diskussionen. Einige wenige Mitglieder applaudierten dem starken Führer und betonten, Deutschland brauche genau so einen Mann in dieser schwierigen Zeit. Doch der Großteil der Vereinsmitglieder stand zu seinen "roten Wurzeln" und verwies in den Diskussionen auch darauf, was in Deutschland mit Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und organisierten Arbeitervertretern passierte.
Aber es ging ein ideologischer Bruch durch die eigenen Reihen. Und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde es für die Deutschen in San Francisco schwieriger, offen aufzutreten. Erneut gab es eine ablehnende Haltung gegenüber allem Deutschen und die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit wurde für die deutschen Vereine und Organisationen drastisch beschnitten. Die Mitliederzahl sank erheblich und man konzentrierte sich von nun an mehr auf ein gemütliches Beisammensein als auf die ursprüngliche politische Ausrichtung.
Nach 1945 luden sie Redner ein, um über die Situation im zerbombten Deutschland zu sprechen. Den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher zum Beispiel, der über die schwierige Lage im Nachkriegsdeutschland berichtete. Doch politisch wollten sich die einst arbeiterbewegten Einwanderer nicht mehr einmischen.
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