Eintauchen ins Kreuzberger Nachtleben

Sven Regener im Gespräch mit Joachim Scholl · 29.08.2008
Millionen von Lesern und Kinobesuchern haben ihn in ihr Herz geschlossen: "Herr Lehmann" - Held und Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Sven Regener. In "Der kleine Bruder" geht es um Lehmanns Ankunft in der Mauerstadt. Regener: "Er ist irgendwie der Fremde, der in die Stadt kommt und der überhaupt nicht durchblickt, was da läuft und langsam erst dahinterkommt."
Joachim Scholl: Berlin-Kreuzberg in den 80er-Jahren. Das ist das Terrain, in dem sich eine deutsche Romanfigur und Tresenfachkraft tummelt, der inzwischen Millionen Lesern das Herz erwärmt hat, "Herr Lehmann". Das war einer der größten Bucherfolge hierzulande, 2001 erschienen, erdacht und geschrieben von Sven Regener, der jetzt im Studio ist. Ich grüße Sie! Willkommen im "Radiofeuilleton"!

Sven Regener: Ja, guten Tag!

Scholl: Bevor Herr Lehmann in der Berliner Kneipenkultur reüssiert, Herr Regner, heißt er Frank, lebt in Bremen. Dieses Jugendkapitel haben Sie im zweiten Lehmann-Roman "Neue Vahr Süd" beschrieben. Und das Buch endet damit, dass sich Frank Lehmann mit seinem Punkfreund Wolli in einem Opel Kadett nach Berlin aufmacht. Diese Fahrt, die eröffnet nun den neuen Roman "Der kleine Bruder". Das ist von vielen Lesern lang erwartete Schlussstück der Herr-Lehmann-Trilogie. Am kommenden Montag erscheint das Buch und Sven Regener, lassen Sie uns hören, wie es anfängt.

Regener: Okay. Irgendwann war es so dunkel, dass Wolli schwieg. Frank Lehmann bemerkte das erst gar nicht, weil er schon lange nicht mehr hinhörte. Schon kurz hinter der Grenze bei Helmstedt hatte er die Ohren auf Durchzug gestellt und sich aufs Fahren konzentriert, vor allem darauf, die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern nicht zu überschreiten, denn das war ja schon Wollis Hauptthema zwischen Bremen und Hannover gewesen, dass sie einen fertig machen würden, wenn sie einen dabei erwischten, wie man ihre Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 Stundenkilometern ignorierte. Das hat er allein schon durch die Sturheit, mit der Wolli dieses Thema zwischen Achim und Allertal in einem unaufhörlichen Redefluss wieder und wieder zu Tode geritten hatte, irgendwann dann doch Eindruck auf Frank gemacht. Nicht so sehr, dass er Wollis Erzählungen, die immer Erzählungen von Leuten wiedergaben, die Leute kannten, denen das erzählte, alles widerfahren war und die zusammengefasst darauf hinausliefen, dass sein allzu sorgloser rechter Fuß sie direkt in den Gulag bringen würde, für wirklich bare Münze genommen hätte. Aber er war immerhin soweit davon eingeschüchtert, dass er um seine Ersparnisse zu fürchten begann, jene paar Hundert Mark, die er von seinem Postsparbuch abgehoben hatte, um nach Berlin zu seinem Bruder zu fahren und ein neues Leben anzufangen. Denn das war sein Plan.

Scholl: "Der kleine Bruder". Exklusiv im Deutschlandradio Kultur die erste Seite des neuen Romans mit und über Herrn Lehmann, gelesen vom Autor Sven Regener bei uns hier im Studio. Jeder, der in alten DDR-Zeiten über die Transitstrecke ins damalige Westberlin, kleingeschrieben mit einem Wort, fuhr, kennt diese Stimmung haargenau. Was das auch so, als Sie zum ersten Mal nach Berlin fuhren?

Regener: Ich kann mich kaum erinnern, weil das war damals tatsächlich ja so wie Wolli, mit dem KBW, glaube ich, in den 70er-Jahre im Konvoi oder so ein Kram.

Scholl: Kommunistischer Bund Westdeutschland?

Regener: Ja genau. Das war, glaube ich, als ich 17 war, 78 muss das gewesen sein. Ich bin auch über Hamburg nach Berlin gekommen. Von daher kann ich nicht sagen, ich habe nicht diese eine erste Fahrt gehabt, die sich mir so eingebrannt hat. Aber das war nun das Entscheidende, dass man sich plötzlich zwischen diesen beiden Grenzen befand und diese Transitstrecke war ja wie ein Tunnel und man durfte ihn ja auch nicht verlassen. Es wurde halt immer dunkler. Es ist ja auch eine seltsame Sache um diese Autobahn nach Berlin, dass sie einen doch eigentlich durch relativ menschenleeres Gebiet führen. Und damals natürlich selbst das, dass es so gab, viel weniger beleuchtet war. Und das macht eben so ein bisschen dieses seltsame Tunnelgefühl natürlich aus.

Scholl: Und das ist die Stimmung, die Sie auf diesen ersten Seiten beschreiben. Frank und Wolli tuckern nach Westberlin, aber dort geht es dann unglaublich rasant zu. Frank will eigentlich zu seinem großen Bruder Manfred. Frank ist der kleine Bruder, Manfred ist aber mysteriöserweise verschwunden und keiner aus seiner WG, wo Frank einläuft, scheint dann zu wissen, wohin. Und dann kommt es ja zu seiner Kreuzberger Blitzinitiation. Der ganze Roman, das merkt man erst so am Ende, glaube ich, umfasst nur zwei Tage, 48 Stunden. Hatten Sie dies von Anfang an so dicht geplant?

Regener: Ja, es lag ein bisschen in der Natur der Sache. Er sucht ja seinen Bruder und der Bruder ist verschwunden. Wenn es jetzt sehr viel länger gedauert hätte, bis er ihn findet, dann müsste er ja doch zur Polizei gehen oder so. Weil es kommt mir schon sehr komisch vor, dass sie all das nicht wissen, dass es offensichtlich, was natürlich aber auch in der Natur der Sache liegt in so einer großen Stadt, auch wenn man da mit Leuten zusammenwohnt, man erzählt sich ja unbedingt nicht alles. Man interessiert sich auch nicht dafür unbedingt. Und das Interesse für die anderen ist nicht so wahnsinnig ausgeprägt, zumal nicht unter diesen ganzen Künstlerfreaks, unter die er da fällt, weil die natürlich auch ganz viel auch mit sich selbst beschäftigt sind. Ich denke, das war schon der Ansatz, das war mir von vornherein klar, dass es nicht so ein Buch wird, was über Monate oder Wochen von der Handlung her geht, sondern eher so ganz gedrängt.

Scholl: Stichwort Kunstszene. Noch in derselben Nacht, in der Frank ankommt, geht es mächtig los, besetzte Häuser, Punkperformance, Dosenbier und alle mögliche Action. Es ist eine ziemlich durchgeknallte Szenerie, so Anfang der 80er-Jahre spielt das. Haben Sie diese Atmosphäre damals selbst so erlebt?

Regener: Ja, es ist halt so eine Stadt im Aufbruch. Diese Szene, alles war möglich. Man hätte natürlich auch ganz andere Sachen erleben können. Man darf nicht glauben, dass es nur die eine Möglichkeit oder nur das eine Bild einer Stadt, eines Stadtteils. So wird es nicht funktionieren. Aber das ist nicht unrealistisch. Das hätte man so erleben können. Und man lebt ja wesentlich nachts, was ja auch dazu, zum Alter gehört. Wenn man zwischen 20 und 25 ist, dann macht man das natürlich. Dann will man Party haben, dann will man nicht irgendwie abends wie Karl irgendwann zu dem Frank sagt, was willst du denn sonst machen, einen Kuchen backen, Fernsehen gucken, oder was?

Scholl: "Wetten, dass …"

Regener: Ja eben. Und deshalb geht es dann weiter. Und irgendwann ist es morgens fünf, sechs, sieben Uhr, ist noch ganz normal.

Scholl: Dieser Herr Lehmann, das ist ja schon eine Marke. Sie haben da einen Charakter erschaffen, der eigentlich nicht szene- oder zeittypisch ist. Er ist eben kein Punker und er ist auch kein verkrachter Künstler, ein Sponti, kein Möchtegern-Musiker. Wie würden Sie ihn denn jetzt so nach drei Büchern und nach den vielen Jahren, mit dem Sie sich mit ihm beschäftigen, selbst beschreiben. Was ist das eigentlich für einer?

Regener: Er definiert sich selbst über eine Abgrenzung gegenüber anderen. Das macht ihn natürlich auch immer so ein bisschen zum Außenseiter bei diesen Sachen. Denn gerade in dem Alter funktioniert ja sehr viel über Abgrenzung von anderen, über die ganze eigene Definition, darüber, dass man nicht so ist wie der, dass man das anders macht als der. Man streitet sich auch sehr viel um solche Dinge. Das spielt für Frank nicht so ganz die Rolle. Frank beobachtet lieber, wie wenn man so in einen Zoo geht und da sind interessante Tiere. Man kann sich sowohl für ein Krokodil interessieren, aber am selben Tag auch für ein Zebra. Und so ist Frank ungefähr. Und er stellt das nicht in Bezug zu sich selbst. Sein eigenes Problem ist ein anderes. Hier ist sein Leben völlig in Trümmern. Es ist zurückgeblieben in Bremen und da ist nichts mehr, weil er überhaupt nichts hat, wo er geerdet ist. Und plötzlich entdeckt er ein Talent, von dem er nichts wusste. Und plötzlich kann er dort Wurzeln schlagen und hatte ja dann Anhaltspunkte, einen Ansatzpunkt, wie er dort leben, wie er sich ein neues Leben aufbauen kann. Und dann geht es plötzlich ganz schnell. Ich denke, dass er deshalb so angenehm ist, weil er völlig vorurteilsfrei und auch ohne die einzelnen Sachen zu werten, durchaus einfach anguckt und mitmacht. Er mischt sich da ein, wo es ihn angeht, er lässt sich nichts gefallen. Aber er geht nicht so als spießiger wertender Typ da durch, sondern interessiert sich dafür.

Scholl: Das ist das dritte Buch. Das erste Buch war ein sensationeller Erfolg, dann auch "Neue Vahr Süd" war ein großer Bestseller. Das weckt natürlich auch bei den vielen Lesern und Fans Erwartungen. Haben Sie beim Schreiben jetzt vom "Kleinen Bruder" ja so was wie Druck gehabt, jetzt muss aber noch mal was kommen, oder?

Regener: Ich glaube, die Erwartungen können ganz unterschiedlich sein. Ich glaube, letztendlich muss man da einfach der Figur vertrauen. Ich würde sagen, man sollte nur dann einen Frank-Lehmann-Roman schreiben, wenn auch wirklich Frank Lehmann drin ist, wenn die Figur sich selbst treu bleibt. Aber gleichzeitig ist auch klar, er ist unter ganz anderen Bedingungen unterwegs. Er ist nicht der schrullige, leicht verzauselte, etwas weltfremde Typ, wie er eigentlich bei Herrn Lehmann ist, weil er dann nach neun sehr glücklichen und ausgeruhten Jahren auch so ein bisschen verzauselt ist. Er ist irgendwie der Fremde, der in die Stadt kommt und der überhaupt nicht durchblickt, was da läuft und langsam erst dahinterkommt, wie die Fäden da gezogen werden. Man kann nur hoffen, dass Leuten das auch gefällt. Aber was die Figur anbetrifft, kann man eigentlich nicht enttäuscht sein. Es kommen eine Menge Figuren wieder, die man auch kennt.

Scholl: Von Hause aus sind Sie Musiker, Sven Regener, Sänger und Kopf der Band Elemente of Crime. Seit über 20 Jahren auch da eine Größe, aber nicht in der Masse, wie Sie es jetzt als Schriftsteller erlebt haben in den letzten Jahren. Geht das irgendwie gut zusammen?

Regener: Ja, aber das sind ja auch nur Zahlen. Das kann man auch umdrehen. Man kann auch sagen, okay, wir haben, glaube ich, 1,7 Millionen Bücher von "Herr Lehmann" jetzt verkauft oder so, oder nur von "Herr Lehmann". Und dann kann man sagen, okay. Und alle Platten zusammen, dann hätten wir vielleicht noch nicht mal ganz eine Million mal verkauft. Aber das sind ja Zahlen. Ich kann mir das sowieso nicht vorstellen. Können Sie sich auch nur Tausend Leute auf einem Haufen vorstellen? Gut, wenn man mal so eine Demo sieht. Und die haben alle eine Platte von einem in der Hand oder so. Das sind Zahlen. Man kann es ja auch umdrehen und kann auch sagen, na ja, gut, wenn Elements of Crime spielen, dann machen wir die Arena voll, kommen 8000 Leute. Wenn ich eine Lesung mache, kommen ein paar Hundert. Eigentlich gibt das überhaupt keinen Sinn, weil man kann auch sagen, okay, und jeden Tag werden drei Millionen Schokoriegel verkauft. Das ist auch eine Zahl.

Scholl: Wenn derjenige, der die Schokoriegel hergestellt hat, plötzlich belatschert wird von allen Seiten, das ist ja noch ein Unterschied vielleicht auch zu früher. Jetzt sprechen Sie doch als Schriftsteller, oder?

Regener: Na ja, ich werde aber nicht belatschert von allen Seiten.

Scholl: Nein?

Regener: Nein, ich bin ja nicht prominent, ich bin nicht gesichtsbekannt. Auch Elemente of Crime ist halt keine in dem Sinne prominente Band, dass man sie kennen muss. Wer die Ärzte nicht kennt, ist ein bisschen verschnarcht. Aber die Elemente of Crime muss man nicht kennen. Aber das sind Hunderttausenden von Leuten, die die Band kennen und gut finden.

Scholl: Sie haben jetzt die Musik für Leander Haußmanns neuen Film "Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe" geschrieben. Leander Haußmann, gestern war er bei uns im Programm, hat auch "Herr Lehmann" verfilmt, hat sich übrigens ganz lobend über den Soundtrack geäußert, sagte, einen schöneren hätte es schon lange nicht mehr gegeben für einen Film. Hat übrigens so Ihr Autorruhm auch für Element of Crime eigentliche mehr Aufmerksamkeit überzeugt, überlagert sich das jetzt so ein bisschen mittlerweile?

Regener: Na gut, auch solche Sachen führen dazu, dass Leute, die früher noch nie was von der Band gehört haben, auch von der mal was hören. Ob die dann aber, was heißt schon "Ruhm gehabt", die Musik oder mögen oder nicht, das ist noch mal eine ganz andere Sache. Man kann ja diese Bücher mögen und die Musik total doof finden von Element of Crime oder umgekehrt, man kann die Musik von Element of Crime total toll finden und meine Bücher total doof. Man darf das nicht gegenseitig in Geiselhaft nehmen. Das bringt nichts.

Scholl: Mit dem "Kleinen Bruder" ist die Herr-Lehmann-Trilogie nun komplett, für den Leser natürlich auch ein bisschen traurig, weil man den Kerl ja irgendwo so gern hat inzwischen. Ist er für Sie jetzt erst mal durch? Ich meine, vermute, diese Fragen werden Sie die nächsten fünf Jahre gestellt kriegen.

Regener: Na ja. Ja, ich muss sagen Ja. Ich hatte diese drei Bücher im Kopf und ich habe sie geschrieben und es ist auch gut so. Ich habe keinen weiteren Plan für einen Herrn-Lehmann-Roman.

Scholl: Ich meine, Themen gäbe es ja, so Herr Lehmann in den 90ern in Berlin, oder Herr Lehmann mal mit Frau und Kind, die Liebe.

Regener: Herr Lehmanns Tod und Verklärung.

Scholl: Fehlt eigentlich, dass hier mal was glückt, irgendwie so.

Regener: Nein, wieso. Ich meine, es glücken ihm ja Dinge. Hier ist mal ein sehr konstruktiver Roman.
Scholl: Ja, aber nicht in der Liebe.

Regener: Ja gut. Aber das könnte man machen, ja. Aber das hätte dann wirklich was sehr Endgültiges, oder? Ich meine, ach, wissen Sie, man könnte alles Mögliche machen. Ich kann mir auch vorstellen, einen Roman zu schreiben mit einer von diesen anderen Figuren. Was ist mit diesem Karl Schmidt oder so?

Scholl: Ja.

Regener: Könnte man auch machen.

Scholl: Apropos, ich meine, jetzt sind diese drei Bücher, Herr Lehmann ist erst mal durch. Aber sind Sie jetzt ein Schriftsteller, der weiter Bücher schreibt?

Regener: Das ist ja so, Schriftsteller machen ja ganz viele andere Sachen, die schreiben Essays und hier Aufsätze und Kurzgeschichten und sonst wie, sind dauernd aktiv. Das kann ich gar nicht. Zwischendurch habe ich ja viel mit Element of Crime zu tun. Wir schreiben Songs und dann bin ich Musiker. Und wenn ich überhaupt auf diesem literarischen Gebiet unterwegs bin, dann ja eigentlich nur als Romancier. Ich habe jetzt drei Romane und mit Herr Germar Grimsen zusammen noch so eine seltsame Mischform geschrieben. Aber das ist im Grunde genommen mein Feld jetzt, was ich beackert habe. Im Grunde genommen, machen wir uns nichts vor, in dem Moment, in dem ich jetzt zum Beispiel keine Idee habe für das nächste Buch, und das habe ich nicht, ich habe kein Buch im Plan, in dem Moment kann ich sagen, ich bin Schriftsteller, weil ich die Bücher veröffentlich habe. Aber das ist ja schon wieder rückwärts gewandt. Ich habe mir eigentlich über diese ganzen Jahre des Rumdüdelns in der Kulturindustrie komplett abgewöhnt, so über meine Berufsbezeichnung noch groß nachzudenken. Da kommt nichts bei raus.

Scholl: Jetzt erst mal "Der Kleine Bruder". Herr Lehmann zum Dritten und vorerst Letzten. Der Roman erscheint am kommenden Montag bei Eichborn Berlin, 304 Seiten zum Preis von 19,95 Euro, Besprechung folgt natürlich hier im "Radiofeuilleton". Erst mal herzlichen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch und alles Gute für Sie!