Einstürzende Altbauten

Von Christoph Leibold · 22.05.2012
Der schöne Kirschgarten könnte das Gut retten - durch Verkauf. Doch das schafft die Gutsbesitzerin irgendwie nicht, und das gesamte Gut ist verloren. Bieitos Münchner Inszenierung dieses Tschechow-Stücks hat wenig Lichtblicke und ist voller plakativer Hinweise.
Der Kirschgarten der hoch verschuldeten Ranewskaja müsste verkauft werden. Nur so ließe sich ihr russisches Landgut vor der Zwangsversteigerung retten. Doch weil die Gutsbesitzerin unfähig ist, die herrlichen Bäume zu opfern, verliert sie am Ende beides: Gut und Garten.

Am Münchner Residenztheater ist die schöne Fassade des hochherrschaftlichen Hauses nur ein Prospekt, den der Tollpatsch Jepichodow gleich in den ersten Minuten der Aufführung versehentlich herunterreißt. Dahinter kommt eine Häuserruine zum Vorschein, in der die glaslosen Fenster wie schwarze Löcher klaffen.

Und als ob das alles nicht schon trostlos genug aussähe, reißen die Darsteller nach dem ersten Akt auch noch die Sperrholzplatten aus dem Boden, später brechen von selbst polternd Teile aus den Wänden. Staubschwaden durchziehen die Luft. Dennoch amüsiert sich die Gutsbesitzerin Ranewskaja samt Familie und Gefolge prächtig: Zu live gespielten Latino-Rhythmen schwingt man die Hüften und gibt sich aufgeräumt aufgekratzt. Ein Tanz, nicht auf dem Vulkan, aber so ähnlich - im einstürzenden Altbau.

Calixto Bieito zeichnet Tschechows abgewirtschaftete Gesellschaft, die ihre besten Tage lange hinter sich hat, nicht als Haufen lethargisch-melancholischer Untergeher, sondern als vergnügungswütige Spaßtruppe, die die Augen so gut es geht vor der Wirklichkeit verschließt. Nur die Ranewskaja von Sophie von Kessel scheint sich einen Rest an Realitätssinn erhalten zu haben. Immer wieder einmal suchen sie jähe Anfälle nackter Verzweiflung heim, aber schon im nächsten Moment veranstaltet sie eine alberne Wasserschlacht mit dem ewigen Studenten Trofimow oder lässt sich vom übergriffigen Kaufmann Lopachin (großartig als Musterprolet und einer der wenigen Lichtblicke eines wenig erhellenden Abends: Guntram Brattia) begrapschen.

Das alles ginge schon in Ordnung, wenn es nicht so entsetzlich plakativ wäre. Bieito pflegt eine brachiale Bildsprache, allein die Kulisse ist ein einziger Wink mit den Dachsparren, die sich im zweiten Akt auch prompt krachend aus dem Deckengebälk lösen. Am ärgerlichsten jedoch ist, wie hemmungslos sich Bieito mit diesem aufwändigen Bühnenbild von Rebecca Ringst (das Vorstellung für Vorstellung zerlegt, zertrümmert und anschließend wieder aufgebaut wird) der Ressourcen des Staatstheaters bedient, während er gleichzeitig eine verschwenderische Gesellschaft anprangert, die über ihre Verhältnisse lebt.

Links auf dradio.de:

Eine Oper als Thriller - Festival "Nordische Impulse" in Bergen *
Mehr zum Thema