Einst die heimliche Hauptstadt Europas
In "Czernowitz - Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole" erzählen fünf Autoren verschiedener Generation und Erfahrungsgemeinschaft von der tragischen Geschichte der Bukowina und ihrer Metropole. Sie berichten über die intellektuelle Vitalität und über die Toleranz zwischen den ethnischen Gruppen - und über das Ende der blühenden Metropole 1918, als die Bukowina an Rumänien fiel.
"Czernowitz war die heimliche Hauptstadt Europas, in der die Metzgerstöchter Koloratur sangen und die Fiaker über Karl Kraus stritten, wo es mehr Buchhandlungen gab als Büchereien. Czernowitz war ein Vergnügungsdampfer, der mit ukrainischer Mannschaft, deutschen Offizieren und jüdischen Passagieren unter österreichischer Flagge zwischen West und Ost kreuzte. Czernowitz war ein Traum. Die glückliche Ehe der Habsburger mit dem deutschsprachigen jüdischen Bürgertum, das diesen Außenposten der k.u.k. Donaumonarchie zu einem ökonomischen und vor allem kulturellen Zentrum Osteuropas machte. "
An begeisterten Hymnen über die intellektuelle Vitalität der Stadt, in der man sich niemals langweilte, fehlt es nicht. Der Publizist Georg Heinzen mischte die Ingredienzien des Czernowitzer Mythos zu diesem Konzentrat. Die junge Hauptstadt des ehemaligen Kronlandes Bukowina war eine Stadt der Minderheiten. Vor 1918 lebten hier Juden, Deutsche, Ukrainer, Rumänen und Polen. Nirgendwo sonst genossen die Juden so früh alle bürgerlichen Freiheiten und Eigentumsrechte. Doch Czernowitz war bereits damals keineswegs die Idylle des Multikulturalismus. Gregor von Rezzori, spottete über den anhaltenden Kleinkrieg der Ethnien in seiner Heimatstadt:
"Da leben ein Dutzend der verschiedenartigsten Nationalitäten und ein gutes halbes Dutzend einander grimmig befehdender Glaubensbekenntnisse in der zynischen Eintracht gegenseitiger Abneigung und wechselseitigen Geschäftemachens beieinander. Nirgendwo sind die Fanatiker duldsamer, nirgendwo die Toleranten gefährlicher als bei uns [...]"
Im vorliegenden Lesebuch erzählen fünf Autoren verschiedener Generation und Erfahrungsgemeinschaft von der tragischen Geschichte der Bukowina und ihrer Metropole. Sie spüren vor allem dem literarisch-kulturellen Phänomen Czernowitz nach, das eng an die deutsche und an die jiddische Sprache gebunden war. Je weiter sie sich von der k.u.k. Monarchie entfernen, desto strahlender erscheint ihnen die ehemalige Kulturmetropole. Es sind literarische, journalistische und historiographische Annäherungen an eine untergegangene Welt, in deren Gehäuse sich längst andere eingerichtet haben.
Als 1918 die Bukowina an Rumänien fiel, waren es mit der Toleranz vorbei. Die brutale Rumänisierung brachte vielfältige Diskriminierungen. Für die Juden begann die Zeit der Rechtlosigkeit. Trotzdem blühte das kulturelle und literarische Leben der deutsch-jüdischen Minderheit in der Halböffentlichkeit auf - eigensinnig und weltfremd in einer bereits umdüsterten Realität. Zwischen Hitler-Stalin-Pakt und Kriegsende wurde Czernowitz zum Spielball der Sowjetunion und des Dritten Reiches - mit allen mörderischen Konsequenzen einer totalitären Bevölkerungspolitik im Geiste der ethnischen Säuberung. Jeder Wechsel der Besatzungsherren führte zu Vertreibungen, Umsiedlungen und Deportationen einzelner Minderheiten. Die Juden bezahlten die deutsche Herrschaft fast alle mit ihrem Leben, sofern sie nicht emigrieren konnten.
In Czernowitz hatte Joseph Schmidt im Chor der Synagoge gesungen, bevor er im Rundfunk und auf den Bühnen der Welt Triumphe feierte. 1942 starb er auf der Flucht vor den Nazis entkräftet in einem Flüchtlingslager in der Nähe Zürichs. Aus Czernowitz stammte der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, aber auch viele deutsch- und jiddischsprachige Lyriker und Romanciers: Paul Celan, Rose Ausländer, Itzig Manger, Alfred Margul-Sperber und Selma Meerbaum-Eisinger.
"Das Tragischste an der Geschichte Czernowitz' ist vielleicht der nahezu restlose Untergang der Juden, jenes Bevölkerungsteils, dem die Stadt so viel zu verdanken, der unendlich viel für sie getan hat. Die Juden haben alles verloren: Arbeit, Heimat, Wohnung und Wohnrecht, Haus und Besitz, ihre Gesundheit, ihr Leben. [...] Versunken ist ja nicht die Stadt, ihr Leib, ihr Körper, ihre Topografie. Dies alles gerade eben nicht. Verloren gegangen sind ihr die Menschen, der Geist der Stadt. "
Am Ende war die Stadt entvölkert. Sie nahm nun Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion auf, wurde zu einem Zentrum der Militärindustrie und fiel dem Vergessen anheim. Erst mit der ukrainischen Unabhängigkeit sichtete man mit großem Optimismus die kulturelle, politische und ökonomische Erbschaft. Es war das Streben nach Demokratie und Freiheit, das allenthalben beflügelnd wirkte. Die Überzeugung, ein Teil Westeuropas zu sein, wird genährt durch die Wiederentdeckung der kulturellen Wurzeln. So verwandelt sich die Geschichte eines Verlusts am Ende in das Geschenk eines Neubeginns.
Über 100 Abbildungen - alte Postkarten, Stadtpläne und Fotos - führen dem Leser die kurze Blüte und die lange Agonie Czernowitz' unmittelbar vor Augen. Aber im Verfall der alten Stadt erahnt der Betrachter nicht nur die Trostlosigkeiten des 20. Jahrhunderts. Vielmehr tritt er zugleich eine Zeitreise in die Vergangenheit an. Dies ist möglich, weil sich der Sozialismus - aus Geldmangel und Desinteresse - als unfreiwilliger Konservator des Maroden erwies und am Stadtrand lieber Plattenbauten errichtete. Traumwirklich stößt der Schauende im Zentrum auf Häuser aus österreichischer Zeit, die seither niemals renoviert worden sind.
"Hier findet man alles. Äußerlich alles unverändert. Geschichte und ihre Geschichten, sie sind physisch nachvollziehbar. Zahllose Dichter dieser Provinz, viele ihrer Denker und Künstler, ein Großteil ihrer ehemaligen Bürger sind momentan nicht anwesend. Als ob nur vorübergehend evakuiert. "
Helmut Braun, Hrsg.: Czernowitz - Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole
Ch. Links Verlag, 2005
An begeisterten Hymnen über die intellektuelle Vitalität der Stadt, in der man sich niemals langweilte, fehlt es nicht. Der Publizist Georg Heinzen mischte die Ingredienzien des Czernowitzer Mythos zu diesem Konzentrat. Die junge Hauptstadt des ehemaligen Kronlandes Bukowina war eine Stadt der Minderheiten. Vor 1918 lebten hier Juden, Deutsche, Ukrainer, Rumänen und Polen. Nirgendwo sonst genossen die Juden so früh alle bürgerlichen Freiheiten und Eigentumsrechte. Doch Czernowitz war bereits damals keineswegs die Idylle des Multikulturalismus. Gregor von Rezzori, spottete über den anhaltenden Kleinkrieg der Ethnien in seiner Heimatstadt:
"Da leben ein Dutzend der verschiedenartigsten Nationalitäten und ein gutes halbes Dutzend einander grimmig befehdender Glaubensbekenntnisse in der zynischen Eintracht gegenseitiger Abneigung und wechselseitigen Geschäftemachens beieinander. Nirgendwo sind die Fanatiker duldsamer, nirgendwo die Toleranten gefährlicher als bei uns [...]"
Im vorliegenden Lesebuch erzählen fünf Autoren verschiedener Generation und Erfahrungsgemeinschaft von der tragischen Geschichte der Bukowina und ihrer Metropole. Sie spüren vor allem dem literarisch-kulturellen Phänomen Czernowitz nach, das eng an die deutsche und an die jiddische Sprache gebunden war. Je weiter sie sich von der k.u.k. Monarchie entfernen, desto strahlender erscheint ihnen die ehemalige Kulturmetropole. Es sind literarische, journalistische und historiographische Annäherungen an eine untergegangene Welt, in deren Gehäuse sich längst andere eingerichtet haben.
Als 1918 die Bukowina an Rumänien fiel, waren es mit der Toleranz vorbei. Die brutale Rumänisierung brachte vielfältige Diskriminierungen. Für die Juden begann die Zeit der Rechtlosigkeit. Trotzdem blühte das kulturelle und literarische Leben der deutsch-jüdischen Minderheit in der Halböffentlichkeit auf - eigensinnig und weltfremd in einer bereits umdüsterten Realität. Zwischen Hitler-Stalin-Pakt und Kriegsende wurde Czernowitz zum Spielball der Sowjetunion und des Dritten Reiches - mit allen mörderischen Konsequenzen einer totalitären Bevölkerungspolitik im Geiste der ethnischen Säuberung. Jeder Wechsel der Besatzungsherren führte zu Vertreibungen, Umsiedlungen und Deportationen einzelner Minderheiten. Die Juden bezahlten die deutsche Herrschaft fast alle mit ihrem Leben, sofern sie nicht emigrieren konnten.
In Czernowitz hatte Joseph Schmidt im Chor der Synagoge gesungen, bevor er im Rundfunk und auf den Bühnen der Welt Triumphe feierte. 1942 starb er auf der Flucht vor den Nazis entkräftet in einem Flüchtlingslager in der Nähe Zürichs. Aus Czernowitz stammte der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, aber auch viele deutsch- und jiddischsprachige Lyriker und Romanciers: Paul Celan, Rose Ausländer, Itzig Manger, Alfred Margul-Sperber und Selma Meerbaum-Eisinger.
"Das Tragischste an der Geschichte Czernowitz' ist vielleicht der nahezu restlose Untergang der Juden, jenes Bevölkerungsteils, dem die Stadt so viel zu verdanken, der unendlich viel für sie getan hat. Die Juden haben alles verloren: Arbeit, Heimat, Wohnung und Wohnrecht, Haus und Besitz, ihre Gesundheit, ihr Leben. [...] Versunken ist ja nicht die Stadt, ihr Leib, ihr Körper, ihre Topografie. Dies alles gerade eben nicht. Verloren gegangen sind ihr die Menschen, der Geist der Stadt. "
Am Ende war die Stadt entvölkert. Sie nahm nun Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion auf, wurde zu einem Zentrum der Militärindustrie und fiel dem Vergessen anheim. Erst mit der ukrainischen Unabhängigkeit sichtete man mit großem Optimismus die kulturelle, politische und ökonomische Erbschaft. Es war das Streben nach Demokratie und Freiheit, das allenthalben beflügelnd wirkte. Die Überzeugung, ein Teil Westeuropas zu sein, wird genährt durch die Wiederentdeckung der kulturellen Wurzeln. So verwandelt sich die Geschichte eines Verlusts am Ende in das Geschenk eines Neubeginns.
Über 100 Abbildungen - alte Postkarten, Stadtpläne und Fotos - führen dem Leser die kurze Blüte und die lange Agonie Czernowitz' unmittelbar vor Augen. Aber im Verfall der alten Stadt erahnt der Betrachter nicht nur die Trostlosigkeiten des 20. Jahrhunderts. Vielmehr tritt er zugleich eine Zeitreise in die Vergangenheit an. Dies ist möglich, weil sich der Sozialismus - aus Geldmangel und Desinteresse - als unfreiwilliger Konservator des Maroden erwies und am Stadtrand lieber Plattenbauten errichtete. Traumwirklich stößt der Schauende im Zentrum auf Häuser aus österreichischer Zeit, die seither niemals renoviert worden sind.
"Hier findet man alles. Äußerlich alles unverändert. Geschichte und ihre Geschichten, sie sind physisch nachvollziehbar. Zahllose Dichter dieser Provinz, viele ihrer Denker und Künstler, ein Großteil ihrer ehemaligen Bürger sind momentan nicht anwesend. Als ob nur vorübergehend evakuiert. "
Helmut Braun, Hrsg.: Czernowitz - Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole
Ch. Links Verlag, 2005