Einspruch gegen die Entzauberung der Welt
Zu den gewichtigsten Neuerscheinungen des Jahres gehört ein Buchziegel mit vier schweren Bänden: Der "Stimmenpapst" Jürgen Kesting hat seine vor 20 Jahren zuerst erschienene Geschichte des Gesangs "Die großen Sänger" aktualisiert, erweitert und noch einmal verbessert: Ein ganz neues, strenges, höchst unterhaltsames und für jede Art von Geschmacksbildung unverzichtbares Buch.
"Für die Beurteilung der menschlichen Stimme, die wie kein anderes Instrument Kultobjekt eines aggressiven ‚Vulgärmaterialismus’ (Theodor W. Adorno) geworden ist, gibt es verbindliche natürliche und technische Parameter. Jene beziehen sich auf den Umfang und das Timbre, diese auf Geschmeidigkeit, Flexibilität, Agilität und die Beherrschung der Farbskala, die als musikalisches Analogon zur Farbpalette des Malers zu verstehen wäre."
Keine Frage: Der Mann hat seinen Adorno gelesen. Man spürt es nicht nur, wenn er im schmeichelnden Gesang des Baritons Hermann Prey (wir sind schon mitten drin im vierten Band) eine "Manier des Vortrages" erkennt, "der sich dem Verkaufsgespräch mit dem Publikum annähert." Wenn es aber um Verrat an der Wahrheit der Kunst geht, versteht der Kritiker keinen Spaß, und setzt den präzisen Todesstoß:
"In Interviews hat Hermann Prey unermüdlich wiederholt, dass es ihm Herzenssache sei, ‚seine Musik einem breiten Publikum nahezubringen. Es ist eine jener lügenhaften Formeln, mit denen auch die Drei Tenöre ihre Beutezüge im Klondike der Unterhaltung verteidigten. Aber sie sicherten ihm jene Idolatrie, die aus psychologischer Sicht eine Objektwahl auf narzißtischer Basis ist."
Über Pavarotti ist mehr zu erzählen, die Geschichte einer einzigartigen "von Ruhm bestrahlten und verstrahlten Karriere": Sein letztes ’vinceeeeeee-roooo’ war die Chiffre für den Gesang im globalen Geschäft".
Paul Potts, der kleine Mann aus der Telefonwerbung mit dem großen "Nessun dorma", kommt nicht vor. Noch nicht.
Kesting besteht, gegen die Mechanismen des Marktes und die Bedürfnisse des Massengeschmacks, auf der Beachtung der zitierten Parameter, der naturgegebenen und mehr noch der technischen. Seine Ethik liegt in Genauigkeit. Eine Stimme und ihren kunstvollen Gebrauch korrekt zu beschreiben ist ein kompliziertes Unterfangen. Kesting beklagt, dass in der üblichen Musiktheaterkritik vom Theater viel, von Musik nur wenig die Rede sei, und von den Leistungen der Sänger fast gar nicht. Das stimmt, und es liegt womöglich daran, dass die Kunst der Gesangskritik fast so vielschichtig und schwierig ist wie ihr Gegenstand. Anders aber als der Belcanto, der durch das Auftauchen außerordentlicher Sänger gelegentlich wiederbelebt wird, scheint die Kunst, über Stimmen zu schreiben, eine verschwindende zu sein, vielleicht mangels Nachfrage und Ausbildung. Jürgen Kesting ist ihr später Meister.
Vor mehr als 20 Jahren ist "Die großen Sänger" zum ersten Mal erschienen. Längst genießt das Buch den Ruf des "Standardwerks" und sein Verfasser den des "Stimmenpapsts". Der hätte es sich nun in solchem Glanz gemütlich machen und uns eine um ein paar aktuelle Kapitelchen, um Netrebko, Villazon und Flórez und meinetwegen auch Paul Potts erweiterte Neuauflage präsentieren können – wir hätten es mit Respekt vermerkt. Es ist aber viel mehr. Kesting hat nicht einfach einen vierten, den Aktualitäten der letzten Jahre geschuldeten Band dazugeschrieben: er hat, wie der Vergleich zeigt, offenbar jeden Satz noch einmal gewendet, überprüft, poliert. Solche Arbeit macht sich, wer eine Botschaft hat und für seinen Gegenstand brennt. Es hat etwas mit Liebe zu tun, und mit Akribie.
Kesting kann, mit allem Recht des wissenden Kritikers, sich schütteln vor Abscheu, aber er kann auch schwärmen, von Lotte Lehmanns Spontaneität und Erotik und Schaljapins "mimetischer Urkraft", von Nellie Melbas fabulösen Trillern und "Makellosigkeit der Attacke". Von der Leuchtkraft Frida Leiders und der Klangpracht Kirsten Flagstads, von Tito Gobbis "acting voice" und dem lyrischen Espressivo Gerard Souzays, von der Brillanz der Sutherland, der Anverwandlungskunst der Schwarzkopf und der Salome-Sinnlichkeit von Ljuba Welitsch. Und über allem: la Callas, "die Stimme, die wie eine Flöte war, geschnitten aus einer Trauerweide."
Gelobt wird die wissende Virtuosität einer Marilyn Horne, die Quecksilbrigkeit der Bartoli. Gelobt wird Domingos "superbes Instrument", getadelt sein Radebrechen als Wagner-Sänger. Kesting ist, bei aller Freude am sprachlichen Florettfechten, bei aller Fähigkeit zum scharfen Urteil, ein Mann der Differenzierung. Ein Meisterstück ist seine Auseinandersetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau, der Lichtgestalt des deutschen Liedgesangs. Dieser kompensiere "die Unfähigkeit zu konzentrierter Tonausladung durch überheftige Wortakzentuierung. Die verstärkt er, ein problematischer Effekt, durch den Einsatz des Vibrato. Lyrische Wirkung ‚macht’ er durch den Gebrauch der Kopfstimme – wobei die opalisierenden Klangeffekte oft von Sentimentalität bedroht sind."
Der Meister wird nicht amüsiert gewesen sein. Nun: Muss man das alles wissen? Ist es wichtig? Wird hier nicht eine esoterische Spezialdisziplin auf annähernd dreitausend Seiten ins schier Aberwitzige ausdifferenziert? – Wer sich, was schnell passiert, darein versenkt, verliert, der liest nicht nur einen großen Einspruch gegen die Entzauberung der Welt durch das Verschwinden von Kunst durch das Verschwinden von Wissen über die Kunst. Kestings "Große Sänger" erzählt nicht nur von Gesang, es ist nicht weniger als eine Schule des Geschmacks und der Genauigkeit, einzig und exemplarisch. Weihnachtsbüchergutscheine können nicht besser eingelöst werden.
Rezensiert von Holger Noltze
Jürgen Kesting: Die großen Sänger
Vier Bände
Hoffmann und Campe. Hamburg 2008
2547 Seiten, 268 Euro
Keine Frage: Der Mann hat seinen Adorno gelesen. Man spürt es nicht nur, wenn er im schmeichelnden Gesang des Baritons Hermann Prey (wir sind schon mitten drin im vierten Band) eine "Manier des Vortrages" erkennt, "der sich dem Verkaufsgespräch mit dem Publikum annähert." Wenn es aber um Verrat an der Wahrheit der Kunst geht, versteht der Kritiker keinen Spaß, und setzt den präzisen Todesstoß:
"In Interviews hat Hermann Prey unermüdlich wiederholt, dass es ihm Herzenssache sei, ‚seine Musik einem breiten Publikum nahezubringen. Es ist eine jener lügenhaften Formeln, mit denen auch die Drei Tenöre ihre Beutezüge im Klondike der Unterhaltung verteidigten. Aber sie sicherten ihm jene Idolatrie, die aus psychologischer Sicht eine Objektwahl auf narzißtischer Basis ist."
Über Pavarotti ist mehr zu erzählen, die Geschichte einer einzigartigen "von Ruhm bestrahlten und verstrahlten Karriere": Sein letztes ’vinceeeeeee-roooo’ war die Chiffre für den Gesang im globalen Geschäft".
Paul Potts, der kleine Mann aus der Telefonwerbung mit dem großen "Nessun dorma", kommt nicht vor. Noch nicht.
Kesting besteht, gegen die Mechanismen des Marktes und die Bedürfnisse des Massengeschmacks, auf der Beachtung der zitierten Parameter, der naturgegebenen und mehr noch der technischen. Seine Ethik liegt in Genauigkeit. Eine Stimme und ihren kunstvollen Gebrauch korrekt zu beschreiben ist ein kompliziertes Unterfangen. Kesting beklagt, dass in der üblichen Musiktheaterkritik vom Theater viel, von Musik nur wenig die Rede sei, und von den Leistungen der Sänger fast gar nicht. Das stimmt, und es liegt womöglich daran, dass die Kunst der Gesangskritik fast so vielschichtig und schwierig ist wie ihr Gegenstand. Anders aber als der Belcanto, der durch das Auftauchen außerordentlicher Sänger gelegentlich wiederbelebt wird, scheint die Kunst, über Stimmen zu schreiben, eine verschwindende zu sein, vielleicht mangels Nachfrage und Ausbildung. Jürgen Kesting ist ihr später Meister.
Vor mehr als 20 Jahren ist "Die großen Sänger" zum ersten Mal erschienen. Längst genießt das Buch den Ruf des "Standardwerks" und sein Verfasser den des "Stimmenpapsts". Der hätte es sich nun in solchem Glanz gemütlich machen und uns eine um ein paar aktuelle Kapitelchen, um Netrebko, Villazon und Flórez und meinetwegen auch Paul Potts erweiterte Neuauflage präsentieren können – wir hätten es mit Respekt vermerkt. Es ist aber viel mehr. Kesting hat nicht einfach einen vierten, den Aktualitäten der letzten Jahre geschuldeten Band dazugeschrieben: er hat, wie der Vergleich zeigt, offenbar jeden Satz noch einmal gewendet, überprüft, poliert. Solche Arbeit macht sich, wer eine Botschaft hat und für seinen Gegenstand brennt. Es hat etwas mit Liebe zu tun, und mit Akribie.
Kesting kann, mit allem Recht des wissenden Kritikers, sich schütteln vor Abscheu, aber er kann auch schwärmen, von Lotte Lehmanns Spontaneität und Erotik und Schaljapins "mimetischer Urkraft", von Nellie Melbas fabulösen Trillern und "Makellosigkeit der Attacke". Von der Leuchtkraft Frida Leiders und der Klangpracht Kirsten Flagstads, von Tito Gobbis "acting voice" und dem lyrischen Espressivo Gerard Souzays, von der Brillanz der Sutherland, der Anverwandlungskunst der Schwarzkopf und der Salome-Sinnlichkeit von Ljuba Welitsch. Und über allem: la Callas, "die Stimme, die wie eine Flöte war, geschnitten aus einer Trauerweide."
Gelobt wird die wissende Virtuosität einer Marilyn Horne, die Quecksilbrigkeit der Bartoli. Gelobt wird Domingos "superbes Instrument", getadelt sein Radebrechen als Wagner-Sänger. Kesting ist, bei aller Freude am sprachlichen Florettfechten, bei aller Fähigkeit zum scharfen Urteil, ein Mann der Differenzierung. Ein Meisterstück ist seine Auseinandersetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau, der Lichtgestalt des deutschen Liedgesangs. Dieser kompensiere "die Unfähigkeit zu konzentrierter Tonausladung durch überheftige Wortakzentuierung. Die verstärkt er, ein problematischer Effekt, durch den Einsatz des Vibrato. Lyrische Wirkung ‚macht’ er durch den Gebrauch der Kopfstimme – wobei die opalisierenden Klangeffekte oft von Sentimentalität bedroht sind."
Der Meister wird nicht amüsiert gewesen sein. Nun: Muss man das alles wissen? Ist es wichtig? Wird hier nicht eine esoterische Spezialdisziplin auf annähernd dreitausend Seiten ins schier Aberwitzige ausdifferenziert? – Wer sich, was schnell passiert, darein versenkt, verliert, der liest nicht nur einen großen Einspruch gegen die Entzauberung der Welt durch das Verschwinden von Kunst durch das Verschwinden von Wissen über die Kunst. Kestings "Große Sänger" erzählt nicht nur von Gesang, es ist nicht weniger als eine Schule des Geschmacks und der Genauigkeit, einzig und exemplarisch. Weihnachtsbüchergutscheine können nicht besser eingelöst werden.
Rezensiert von Holger Noltze
Jürgen Kesting: Die großen Sänger
Vier Bände
Hoffmann und Campe. Hamburg 2008
2547 Seiten, 268 Euro