Einsichten zu Schiller

Vorgestellt von Gustav Seibt |
Der Essayist Burkhard Müller ist ein Selbstdenker von bestechender Formulierungskraft, mit einer Metaphorik, die er großen Prosameistern wie Schopenhauer oder Karl Kraus abgeschaut hat. Sein Schiller-Buch verzichtet auf biographische Anekdotik ebenso wie auf literaturwissenschaftlichen Aufputz. Es behandelt einen überragenden Autor kritisch, auf Augenhöhe für den heutigen Leser, jedoch ohne einen Hauch von Anbiederei.
Müller wählt zentrale Werke aus "und behandelt sie, als wären sie eben neu veröffentlicht; als handelte es sich, sagen wir, um die erste Übersetzung aus einer alten Sprache." Mit diesem Ansatz markiert er sowohl die frische Unbefangenheit des Herangehens wie die Distanz historischen Bewusstseins, die doch nötig bleibt.

Für diese Haltung gibt es in der Geschichte der deutschen Kritik ein prominentes Modell: Lessing mit seiner "Hamburgischen Dramaturgie". Burkhard Müller liest die Dramen, Balladen und Geschichtswerke Schillers ganz ähnlich wie Lessing die Stücke von Corneille oder Shakespeare, ganz frei, aber keineswegs naiv.

Dabei fällt eine Menge von brillanten Einsichten schon im Detail an. Den "Don Carlos" und seine Probleme entwickelt dieser Kritiker an zwei berühmten Zitaten.

"Dass der König geweint hat", schreibt Müller zu der Stelle, wo Graf Lerma dies von Philipp II. berichtet, "tut eine ungleich stärkere Wirkung, als wenn er weinen würde. Dann nämlich sähe man nicht den König, sondern den einzelnen Menschen, zuletzt den Schauspieler, wie es ihm gelänge oder misslänge, Tränen hervorzubringen. Die Träne, wie das Kind oder die Nacktheit, stellt ein Grenzphänomen der Bühne dar, geeignet eine Szene mit einem herrlichen Schlaglicht zu erhöhen oder aber völlig zu vernichten. Sie gehorcht nicht ganz und gar der Willkür, von der sie hervorgerufen werden soll, und weckt immer die Neugier, ob sich die Macht des Scheins auch wirklich bis zu ihr erstreckt."

"Ein König, der weint, wäre bloß ein weinender Schauspieler. Ein König, der geweint hat, ist viel mehr, eine objektive Unmöglichkeit nämlich, und darin genaues Gegenstück des Sire, der Gedankenfreiheit geben soll. Diese beiden Einzeiler spannen das Königsdrama auf, das Drama von der Unfreiheit noch des höchsten Exponenten der Macht; sie eröffnen und schließen es."

Aus solchen Scharfsinnigkeiten der Wirkungsästhetik entfaltet Müller seine Ansichten von Schiller durchgehend. Jeder kann folgen, auch der, der noch gar nichts von Schiller gelesen hat. Aber jeder wird trotzdem sofort auf die Höhe der philosophischen und literarischen Probleme, die dieser Autor stellt, geführt.

Den Geschichtsschreiber Schiller behandelt Müller dabei mit kritischer Sympathie für den Erzähler, aber vernichtend für den hochgemuten Denker des Fortschritts. Dem Balladendichter kann der Kritiker wenig abgewinnen, umso mehr dem Verfasser der "Nänie", des Abgesangs auf die Sterblichkeit. Das Ethos dieser empathischen Kritik an Schiller ist Wahrheitssuche – mit einem Feuer und einer Wahrhaftigkeit, die dem Gegenstand gleichkommt.

Burkhard Müller: Der König hat geweint. Schiller und das Drama der Weltgeschichte.
Zu Klampen! Verlag, Springe 2005.
160 S., 14 Euro