Einsame Männer mit aufgeblasenen Problemen
Inzwischen eine lange Tradition hat das euro-scene Festival in Leipzig, mit dem Anspruch, Künstler aus Ost- und Westeuropa im Osten Deutschlands zusammenzuführen. Auf Genres ist das Festival nicht festgelegt, wohl aber gibt es ein Motto. In diesem Jahr "Tonstörung".
Mit dem Tanzstück "Sideways rain" (Regen von der Seite) der Gruppe Alias aus Genf, einer schon mehrfach auf Festivals gezeigten Choreografie des in der Schweiz lebenden Brasilianers Guilherme Bothelo, ist das 21. Festival "euro-scene" in Leipzig zu Ende gegangen.
"euro.scene", ein Festival das seinen Platz behautet hat in der deutschen Festivallandschaft, seinem Anspruch versucht gerecht zu werden, ein europäisches Festival zu sein und im Osten Deutschlands dabei Künstler aus Ost- und Westeuropa zusammenzuführen. In diesem Jahr 12 Gastspiele aus 12 Ländern, 25 Vorstellungen, dabei die Hälfte Deutschlandpremieren, darunter auch Festivaldauerbrenner wie "Testament" mit She She Pop aus Berlin. Nach fast allen Aufführungen wird diskutiert, es läuft mit Filmen, Vorträgen und Foren ein üppiges Rahmenprogramm. Das Festival ist nicht auf ein Genre festgelegt, es gibt Theater, Tanz, Musik, letztere überwiegen aber. Jedes Jahr ein Thema, in diesem Jahr "Tonstörung".
Insgesamt wollten rund 7.200 Zuschauer dabei sein, das sind fast 98 Prozent Auslastung des finanziell mit einer Fördersumme von 680.000 Euro*, darin enthalten 100.000 Euro zu erwartende Einnahmen, gut ausgestatteten Festivals. Ab dem Jahrgang 2013 wird der Hauptsponsor BMW-Leipzig nicht mehr dabei sein, das bedeuten dann zwar erst mal 200.000 Euro weniger, mit dem was von Stadt und Land weiterhin zu erwarten ist dürfte sich auch ein 23. Jahrgang gut kuratieren lassen.
Ein Festival und sein Thema. Im total ausverkauften Centraltheater wird die Abschlussveranstaltung, das Tanzstück "Sideways rain", euphorisch bejubelt. Tonstörungen sind nicht vernehmbar. Der elektronische Sound versetzt uns für eine Stunde bei dynamischem Au- und Abschwellen in eine eher meditative Stimmung. Wir bewundern die Kraft der 13 Tänzerinnen und Tänzer, wie sie sich in existenziellen Bewegungsformen gegen den "Regen", der von uns aus gesehen zudem von rechts kommt, bewegen und doch wie magisch in dessen Richtung gezogen werden, am Ende rennend, nackt und bloß. Die "Tonstörung" dieser Arbeit ist eher sublimer Art und so von intensivem Nachhall.
Sehr direkt hingegen verbinden sich gleich mehrere Störungen in der Arbeit "2man2mahler", einem Tanzstück mit Musik von Gustav Mahler und aus der Balkan Beat Box, in der Choreografie für zwei Tänzer von Palle Granhoj, das aus Århus kommt: Zunächst eine empfindliche Intonationsstörung. Der Sänger Thierry Boisdon, begleitet von Robert Karlsson auf der Bratsche, gestaltet Lieder von Mahler. Der Flamenco-Sänger macht dies mit einer Art Naturstimme, der es im Kopfbereich an Höhe und im Brustbereich an Tiefe fehlt, somit müssen sich Mahlers Kompositionen in diesem Falle störende Kreativität gefallen lassen.
Dazu lassen die Tänzer ihre Muskeln tanzen. Bizeps und Po-Backen hüpfen kräftig, verdeckt hinterm Tuch, dennoch gut sichtbar, auch ein Penis. Zu Mahlers Klängen der Einsamkeit boxen sich einsame Männer mit aufgeblasenen Penisproblemen und per Luftdruckpistole hergestellten Pups-Orgien durch ihr Bühnenleben. Das ganze entbehrt nicht einer verstörenden Komik, verunsichert auch und läuft doch Gefahr als vordergründiger Ulk abgetan zu werden.
Der Bogen des Festivals ist formal und inhaltlich weit gespannt. Es gibt solistische Arbeiten, die intimen Formen, oftmals sind dabei Theater, Tanz und Musik verbunden und es gibt auch große, raumgreifende und gemessen an der Wirkung überdimensionierte Inszenierungen, wie "Antica" vom Naroden teatr Vojdan Cernodrinski aus Prilep im Kirchenschiff der riesigen Leipziger Peterskirche. Ein Musiktheater in Form einer Ballade voller Patriotismus gegen türkische Unterdrückung in Mazedonien und ironisch überspannter Verehrung der griechischen Antike anhand der Geschichte einer Zwangsverheiratung.
Die Zuschauer sitzen auf keinen Hockern zwischen den Stühlen der aufgestellten Reihen, auf denen sich über ihre Köpfe hinweg ein Teil des kaum zu verfolgenden Geschehens abspielt. Hinzu kommt mächtig stampfender Klangmix aus scheppernden Boxen, sicher eine unbeabsichtigte "Tonstörung" bei einer Fülle kaum überschaubarer, von symbolischer Handlungen und spielerisch überfrachteten Aktionen. Der Aufwand ist mächtig, der Raum ist ungünstig, die Wirkung ist fraglich.
Josef Nadj hat in diesem Jahr die carte blanche. Ihm verdankt das Festivalprogramm das Mitmachstück. "E.I.O." heißt die Performance von Dragana Bulut aus Belgrad, Maria Baroncea und Eduard Gabia aus Bukarest. Man muss sich entscheiden, eine Stunde arbeiten oder eine Stunde zusehen. Wer sich für die Arbeit, für die Produktion inmitten einer Unzahl von Materialien aus dem internationalen Baumarktsortiment entscheidet, entscheidet sich auch dafür sich öffentlich zum Raum, zum Material, vor allem aber zu den vielen unbekannten Mitproduzenten zu verhalten. Das klingt so einfach wie es ist, zieht dennoch alle in den Bann des Spiels, schafft eine Situation emsiger Freiheit in der für wenige Augenblicke fremde Menschen Horizonte des Alltags durchbrechen können. Ich hatte mich entschieden mitzuarbeiten, das ist gut so.
Gut auch, dass sich Produktionen zum einen sehr direkt, zum anderen aber bei hohem Anspruch auf das Thema "Tonstörungen" beziehen. Als Beispiel mögen die im Leipziger LOFFT gezeigten Choreografien von Andrea Miltnerová aus Prag gelten, "Pentimento" & "Fractured". Zuerst zwei, dann fünf "Puppenfeen" zu Musik von verhaltener, barocker Musik, in strengen gemessenen Bewegungen und deren exakten Wiederholungen. Zunächst kaum wahrnehmbare Brechungen in Bild und Ton bis zum völligen Bruch, bzw. dem soundmäßigen Einbruch der Gegenwart, der bewegungsmäßigen Reaktion und der Verwandlung in neue Puppenfeen unter dem Diktat des Zeitgeschmacks. Darauf folgt als Solo eine choreografische Sicht auf Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" zu verfremdeten Klängen von Johann Sebastian Bach mit dem schockierenden Schluss, dass dann, wenn sich die Musik aus der Verfremdung zu ihrem Original hin emanzipiert der Tänzerin die Rückverwandlung zum Menschen versagt bleibt.
Mit "The body that comes" gewann Christine Borch aus Berlin den ersten Preis im aller zwei Jahre ausgetragenen Wettbewerb "Das beste deutsche Tanzsolo".
*) Redaktioneller Hinweis: Die verschriftete Fassung weicht an dieser Stelle von der Audio-Fassung ab.
"euro.scene", ein Festival das seinen Platz behautet hat in der deutschen Festivallandschaft, seinem Anspruch versucht gerecht zu werden, ein europäisches Festival zu sein und im Osten Deutschlands dabei Künstler aus Ost- und Westeuropa zusammenzuführen. In diesem Jahr 12 Gastspiele aus 12 Ländern, 25 Vorstellungen, dabei die Hälfte Deutschlandpremieren, darunter auch Festivaldauerbrenner wie "Testament" mit She She Pop aus Berlin. Nach fast allen Aufführungen wird diskutiert, es läuft mit Filmen, Vorträgen und Foren ein üppiges Rahmenprogramm. Das Festival ist nicht auf ein Genre festgelegt, es gibt Theater, Tanz, Musik, letztere überwiegen aber. Jedes Jahr ein Thema, in diesem Jahr "Tonstörung".
Insgesamt wollten rund 7.200 Zuschauer dabei sein, das sind fast 98 Prozent Auslastung des finanziell mit einer Fördersumme von 680.000 Euro*, darin enthalten 100.000 Euro zu erwartende Einnahmen, gut ausgestatteten Festivals. Ab dem Jahrgang 2013 wird der Hauptsponsor BMW-Leipzig nicht mehr dabei sein, das bedeuten dann zwar erst mal 200.000 Euro weniger, mit dem was von Stadt und Land weiterhin zu erwarten ist dürfte sich auch ein 23. Jahrgang gut kuratieren lassen.
Ein Festival und sein Thema. Im total ausverkauften Centraltheater wird die Abschlussveranstaltung, das Tanzstück "Sideways rain", euphorisch bejubelt. Tonstörungen sind nicht vernehmbar. Der elektronische Sound versetzt uns für eine Stunde bei dynamischem Au- und Abschwellen in eine eher meditative Stimmung. Wir bewundern die Kraft der 13 Tänzerinnen und Tänzer, wie sie sich in existenziellen Bewegungsformen gegen den "Regen", der von uns aus gesehen zudem von rechts kommt, bewegen und doch wie magisch in dessen Richtung gezogen werden, am Ende rennend, nackt und bloß. Die "Tonstörung" dieser Arbeit ist eher sublimer Art und so von intensivem Nachhall.
Sehr direkt hingegen verbinden sich gleich mehrere Störungen in der Arbeit "2man2mahler", einem Tanzstück mit Musik von Gustav Mahler und aus der Balkan Beat Box, in der Choreografie für zwei Tänzer von Palle Granhoj, das aus Århus kommt: Zunächst eine empfindliche Intonationsstörung. Der Sänger Thierry Boisdon, begleitet von Robert Karlsson auf der Bratsche, gestaltet Lieder von Mahler. Der Flamenco-Sänger macht dies mit einer Art Naturstimme, der es im Kopfbereich an Höhe und im Brustbereich an Tiefe fehlt, somit müssen sich Mahlers Kompositionen in diesem Falle störende Kreativität gefallen lassen.
Dazu lassen die Tänzer ihre Muskeln tanzen. Bizeps und Po-Backen hüpfen kräftig, verdeckt hinterm Tuch, dennoch gut sichtbar, auch ein Penis. Zu Mahlers Klängen der Einsamkeit boxen sich einsame Männer mit aufgeblasenen Penisproblemen und per Luftdruckpistole hergestellten Pups-Orgien durch ihr Bühnenleben. Das ganze entbehrt nicht einer verstörenden Komik, verunsichert auch und läuft doch Gefahr als vordergründiger Ulk abgetan zu werden.
Der Bogen des Festivals ist formal und inhaltlich weit gespannt. Es gibt solistische Arbeiten, die intimen Formen, oftmals sind dabei Theater, Tanz und Musik verbunden und es gibt auch große, raumgreifende und gemessen an der Wirkung überdimensionierte Inszenierungen, wie "Antica" vom Naroden teatr Vojdan Cernodrinski aus Prilep im Kirchenschiff der riesigen Leipziger Peterskirche. Ein Musiktheater in Form einer Ballade voller Patriotismus gegen türkische Unterdrückung in Mazedonien und ironisch überspannter Verehrung der griechischen Antike anhand der Geschichte einer Zwangsverheiratung.
Die Zuschauer sitzen auf keinen Hockern zwischen den Stühlen der aufgestellten Reihen, auf denen sich über ihre Köpfe hinweg ein Teil des kaum zu verfolgenden Geschehens abspielt. Hinzu kommt mächtig stampfender Klangmix aus scheppernden Boxen, sicher eine unbeabsichtigte "Tonstörung" bei einer Fülle kaum überschaubarer, von symbolischer Handlungen und spielerisch überfrachteten Aktionen. Der Aufwand ist mächtig, der Raum ist ungünstig, die Wirkung ist fraglich.
Josef Nadj hat in diesem Jahr die carte blanche. Ihm verdankt das Festivalprogramm das Mitmachstück. "E.I.O." heißt die Performance von Dragana Bulut aus Belgrad, Maria Baroncea und Eduard Gabia aus Bukarest. Man muss sich entscheiden, eine Stunde arbeiten oder eine Stunde zusehen. Wer sich für die Arbeit, für die Produktion inmitten einer Unzahl von Materialien aus dem internationalen Baumarktsortiment entscheidet, entscheidet sich auch dafür sich öffentlich zum Raum, zum Material, vor allem aber zu den vielen unbekannten Mitproduzenten zu verhalten. Das klingt so einfach wie es ist, zieht dennoch alle in den Bann des Spiels, schafft eine Situation emsiger Freiheit in der für wenige Augenblicke fremde Menschen Horizonte des Alltags durchbrechen können. Ich hatte mich entschieden mitzuarbeiten, das ist gut so.
Gut auch, dass sich Produktionen zum einen sehr direkt, zum anderen aber bei hohem Anspruch auf das Thema "Tonstörungen" beziehen. Als Beispiel mögen die im Leipziger LOFFT gezeigten Choreografien von Andrea Miltnerová aus Prag gelten, "Pentimento" & "Fractured". Zuerst zwei, dann fünf "Puppenfeen" zu Musik von verhaltener, barocker Musik, in strengen gemessenen Bewegungen und deren exakten Wiederholungen. Zunächst kaum wahrnehmbare Brechungen in Bild und Ton bis zum völligen Bruch, bzw. dem soundmäßigen Einbruch der Gegenwart, der bewegungsmäßigen Reaktion und der Verwandlung in neue Puppenfeen unter dem Diktat des Zeitgeschmacks. Darauf folgt als Solo eine choreografische Sicht auf Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" zu verfremdeten Klängen von Johann Sebastian Bach mit dem schockierenden Schluss, dass dann, wenn sich die Musik aus der Verfremdung zu ihrem Original hin emanzipiert der Tänzerin die Rückverwandlung zum Menschen versagt bleibt.
Mit "The body that comes" gewann Christine Borch aus Berlin den ersten Preis im aller zwei Jahre ausgetragenen Wettbewerb "Das beste deutsche Tanzsolo".
*) Redaktioneller Hinweis: Die verschriftete Fassung weicht an dieser Stelle von der Audio-Fassung ab.