Einladung zu einer mystischen Begegnung mit Gott

16.11.2006
Markus, Matthäus, Lukas, Johannes - das sind die vier Evangelien der Bibel. Aus den Texten der Kirchenväter hat man immer gewusst, es gibt noch ein fünftes Evangelium - das Evangelium nach Thomas. Gefunden wurde es aber erst 1945, bei Ausgrabungen in Nag Hammadi in Oberägypten. Aufgenommen in das Neue Testament wurde das Thomas-Evangelium - zumindest nach Ansicht der Historikerin Elaine Pagels - nicht, weil es einen antiautoritären Gottesglauben vertritt.
Der deutsche Titel dieses Buches: das ist Marktschreier-Manier. Im englischen heißt das Werk "Beyond belief". Das ist doppeldeutig und kann heißen: "unglaublich!" oder auch: "Jenseits von Glaubensbekenntnissen". Und genau darum geht es in diesem Buch: um ein Christentum jenseits einer autoritären Kirche. Einer Kirche, wo jeden Sonntag ein vorgeschriebenes Glaubensbekenntnis hergebetet wird, man aber wenig darüber nachdenkt und wenig darüber spricht, was Glaube eigentlich ist und wie man ein gläubiger Mensch wird.

Wer das Thomas-Evangelium liest, meint die Autorin, der kann zu einem antiautoritären Glauben finden, zu einem Glauben, wie Christus ihn wirklich gemeint hat. Der wird sich auf die Suche machen nach Gott – aber nicht irgendwo draußen, nicht in irgendeiner Kirche, sondern tief in sich selbst. Gott ist das Licht, und " Es ist Licht im Innern eines Lichtmenschen. Er erleuchtet die ganze Welt." Das sind Jesus-Worte aus dem Thomas-Evangelium. Elaine Pagels schreibt, Christus lädt uns in diesem Evangelium ein zu einer mystischen Begegnung mit Gott, die jeder Mensch nur ganz allein und selbst erfahren kann, in der Stille, in der Meditation, im Gebet.

Diesen mystischen Weg der Gottsuche, diesen "Weg nach Innen" gibt es in allen großen Religionen. Im Buddhismus natürlich, aber auch im Judentum. Und es hat ihn im Christentum ebenfalls immer gegeben. Er war nur oft genug verschüttet, weil als "ketzerisch" verschrien, denn einer Staatskirche ist es natürlich suspekt, wenn sich Menschen direkt mit Gott in Verbindung setzen, das riecht nach Machtverlust.

Ist das vielleicht der Grund, warum das Thomas-Evangelium von den Kirchenvätern nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen worden ist? Elaine Pagels jedenfalls sieht das so. Für sie ist das Thomas-Evangelium das Evangelium der Freiheit: das Evangelium eines antiautoritären Gottesglaubens, der keine Kirche braucht. Jedenfalls keine befehlsgewaltige Autorität, die einem Christen vorschreibt, was er zu tun und zu lassen hat. Und darum, meint die Autorin, hatte dieses Evangelium bei den Kirchenvätern keine Chance. Die hätten nur solche Texte geduldet und verbreiten lassen, die Jesus als einen befehlsgewaltigen Herrn und Meister beschreiben. Denn eine Amtskirche braucht gehorsame Christen zur Befestigung ihrer Macht.

Ich teile diese Meinung nicht. Ich finde, es gibt in allen Evangelien sowohl autoritäre als auch mystische Elemente. Das Johannes-Evangelium zum Beispiel: Nach Meinung der Autorin enthält es besonders viel autoritäres Gedankengut, für viele Theologen dagegen ist "Johannes" das mystische Evangelium an sich. Das ist alles eine Frage der Interpretation. Wenn Christus im Johannes-Evangelium spricht "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich!", dann muss man das nicht unbedingt in einem autoritären Sinn auslegen. Man kann es auch so lesen: Christus bietet sich hier als Vorbild an, als "Vor-Bild" im wahrsten Sinne des Wortes, und erklärt seinen Jüngern: "Wenn Ihr Euch bemüht, so zu leben wie ich, so zu beten wie ich, solch ein Gottvertrauen zu entwickeln wie ich, dann werdet ihr auch meine Gottesfreude und meine Kraft erlangen." So eine Deutung scheint mir nahe liegend, denn immerhin hat Christus seine Jünger nicht "Knechte", sondern "Freunde" genannt. So steht es jedenfalls im Johannes-Evangelium.

Auch wenn man die grundlegende These der Autorin nicht teilt, es lohnt sich dennoch, dieses Buch zu lesen. Elaine Pagels kennt sich bestens aus in der Historie des frühen Christentums. Das hier ist ein spannendes Geschichtsbuch. Ein Buch über die Christenverfolgung im Römischen Reich, wo unzählige Märtyrer für ihren Glauben geblutet haben, wo es rund um das Mittelmeer unzählige Formen gab, das Christentum zu leben: so viele wie christliche Gemeinden. Und was man unbedingt einmal lesen sollte, ist das Thomas-Evangelium selbst. Das ist kein Evangelium, wie wir es aus der Bibel kennen, keine Geschichte über Jesu Leben und Tod. (Vielleicht ist es deshalb nicht in die Bibel aufgenommen worden?) Das sind 114 Sprüche, vom Evangelisten namens Thomas aufgeschrieben, die er entweder Jesus zuschreibt oder seinen Jüngern. Der Text ist nicht nur Christen zu empfehlen. Da gibt es viel Weisheit für jedermann und alle Lebenslagen.

Rezensiert von Susanne Mack

Elaine Pagels: Das Geheimnis des fünften Evangeliums. Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt
Übersetzt von Kurt Neff
dtv
240 Seiten , 9,50 Euro