Einladung nach Hause

Von Volker Trauth · 05.06.2008
Theater im Wohnzimmer wird in Berlins Stadtteil Neukölln gegeben: 45 Wohnungen werden zur Bühne, auf der entweder die Bewohner aus ihrem Leben erzählen oder Künstler eine Performance geben. Dem Besucher wird ein bunter Splitterteppich an Kunst auf unterschiedlich hohem Niveau geboten.
Die Veranstaltung verlangt einen riesigen Aufwand. In insgesamt 45 Wohnungen im Stadtbezirk Neukölln berichten Bürger von ihren Existenzproblemen, erzählen von ihren Erfahrungen, von ihren Hoffnungen, Frustrationen und Sehnsüchten, oder sie stellen ihre Räume für Performances und Installationen von ortsansässigen Künstlern zur Verfügung.

Im Zehnminutentakt werden jeweils zwei Besucher, ausgestattet mit einem Routenplan, auf die Reise geschickt. Drei voneinander unabhängige Touren gibt es: durch den Körnerkiez, den Reuterkiez oder die Gropiusstadt. Der Zeittakt erzwingt eine zeitliche Begrenzung der Beiträge auf zehn Minuten. Das hat natürlich Auswirkungen auf deren Struktur und kommunikative Zielrichtung.

Wie ein Flickenteppich setzt sich ein Geflecht von Realitätssplittern, Erinnerungsfetzen und Informationen zusammen. Man erfährt manches von den Lebensentwürfen, Überlebensstrategien der Bewohner und von der Geschichte der Wohnungen. Eine 42-jährige Libanesin erzählt - unterstützt von einem Aktenordner, der dem Besucher ausgehändigt wird -, von ihrer letztlich scheiternden Antragstellung zur Gewährung einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung.

Ein junger Schauspieler, der in seiner Wohnung Bruchstücke der Handlung des Weberschen "Freischütz" vorgeführt hat, geleitet die Besucher auf seinen Balkon und weist auf die Innenhöfe der sogenannten Ideal Passage, die 1907 auf Initiative des Arbeiterwohnausschusses gebaut und in ihrer Gestaltung Motiven besagter Oper nachempfunden wurden.

Auf unterschiedlichsten Abstraktionsebenen werden Aussagen zum Leben von Zugereisten getroffen. In einen niedrigen Keller in der Richardstraße führt eine niedrige Treppe. Auf dem Boden eine seltsame Installation. Ein toter Fisch liegt auf einem kleinen Erdhaufen. Der auf dem daneben stehenden Monitor laufende Film steht in merkwürdigem Zusammenhang mit der Installation.

Auf dem Bildschirm sehen wir, wie eine junge Frau eine Reise an die Ostsee antritt und von dort einen Fisch mitbringt - und zeitlich leicht versetzt, wie ein junger Mann nach Böhmen reist und von dort frisch gegrabene Erde einsackt. Beide Mitbringsel werden schließlich im Keller ausgeleert. Der Fisch verendet. Sicherlich eine Metapher für die Unmöglichkeit, Heimat zu verpflanzen, biografische Wurzeln miteinander zu verbinden.

Das ist jedoch nur ein möglicher Interpretationsansatz. Andere sind möglich. Das ist ein Prinzip der Veranstalter: Jeder muss seine eigene Geschichte finden, Anleitung wird nicht gegeben. Im Kopf des Zuschauers soll sich eine Collage entfalten.

Wiederholt gibt es Ansätze von Dialog zwischen Bewohnern und Besuchern. Ein solcher Dialog entspinnt sich unangestrengt in der Wohnung eines Kochs aus Jamaika, der schon seit sieben Jahren in Neukölln lebt. Der Besucher wird zum gemeinsamen Kochen eingeladen - und der freundliche Riese beginnt zu erzählen: was ihm in Neukölln gefällt und nicht gefällt, was den Stadtbezirk von Paris unterscheidet, wo er vorher gelebt hat.

Insgesamt aber nutzt sich das Interesse an dieser Splitterdramaturgie ab. Künstlerische Hervorbringungen, die das Maß des Durchschnittlichen deutlich übersteigen, sind nicht in Sicht, die Sehnsucht nach dem Kernstück des Theaters, dem szenischen Mit- und Gegeneinander, dramatischer Figuren wächst.
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